Monatsarchiv: April 2013

Urpunk vom Mississippi – Es klingt fremd und doch so vertraut wie Heimweh: Auf ihrem Album «Pushin‘ Against A Stone» schwelgt die schwarze Folksängerin Valerie June in Südstaaten-Mythen. Als Produzent mit von der Partie ist Dan Auerbach

Der erste Eindruck angesichts eines knarzenden, nasalen Gesangs: Irritation. Kann diese Stimme wirklich zu der hübschen Afroamerikanerin auf dem Cover gehören? Oder hat hier jemand eine vergessene Feldaufnahme irgendwo vom Mississippidelta aufbereitet oder gesamplet? Valerie June verunsichert im besten Sinne: «Sie sieht aus wie ein Supermodel und singt wie eine 100-jährige Blues-Oma», schrieb der Londoner «Standard». Genauso eigenwillig tönt ihr gerade erschienenes Album «Pushin‘ Against A Stone». Aufreizende Folk-Fiedeln kratzen da über akustischen Gitarren. Ein Banjo tönt aus den Baumwollfeldern herüber. Und wie in einer dieser Baptisten-Holzkirchen im tiefen Süden improvisiert der Organist eine schlichte Gospel-Melodie.
Spannungen

Das alles klingt alt und weht dem Hörer doch so erfrischend wie eine Prise Meeresluft ins Gesicht. Ein wohlfeiles Gegengift zu all den überzuckerten Casting-Amseln, die den schwarzen Pop der Gegenwart mit geschultem Bühnenauftritt und gefälligem Tralala oft unerträglich einförmig machen. Auch Dan Auerbach hatte Junes Stimme gleich am Haken. Zumal der Black-Keys-Gitarrist und Produzent sehr gut weiss, dass gerade Unreinheiten und Seltsamkeiten Spannung erzeugen, dass eine gewisse Unfertigkeit des Gesangs die Chance zum Experiment bietet und dass hier jemand in der Traditionslinie von Billie Holiday bis Nina Simone sein eigenes Ding macht. Auerbach jedenfalls sagte sofort zu, Valerie Junes Major-Label-Debüt zu produzieren. Er wollte mit ihr Songs entwickeln, die wie Outtakes aus dem Soundtrack von «Brother Where Art Thou» klingen. «Amerikanische Roots-Musik», erklärt Valerie June, «ist doch die Ursuppe, aus der wir alle stammen, egal, ob wir unsere Musik Rock’n’Roll, Punk oder Country nennen.»

Zusammen rollen die beiden den Pop von ganz weit hinten auf: Da trifft Retro-Instrumentierung auf die Rotzigkeit des Indie-Rock. «Organic Moonshine Rootsmusic»: So nennt die 30-jährige Sängerin aus Tennessee ihren Stil. Was nicht nur die Musik beschreibt, sondern auch ihre Haltung. Denn bisher hatte sich Valerie June strikt dem Markt verweigert. Sie spielte mit ihrem Banjo auf Bürgersteigen und tingelte durch Coffee-Shops, wo sie neben selbstproduzierten CD auch handgemachte Seife verkaufte. Eine Hippie-Wiedergängerin, die zur richtigen Zeit kommt. Die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre mögen im Pop bereits ihr Comeback feiern. Valerie June aber dreht das Rad ein halbes Jahrhundert zurück.

Die Frau mit langen Dreadlocks und feingeschnittenem Gesicht musste mit sich ringen, bevor sie zu ihrer eigenartigen Stimme stehen konnte. Ihre Biografie klingt zunächst typisch: Aufgewachsen in einer Kleinstadt zwischen Memphis und Nashville; in der Kirche Gospel gesungen; dem Vater, einem Bauunternehmer, zur Hand gegangen. Und wie es dem Klischee entspricht, hat sie später als Sängerin einer Soulband in Memphis Bühnenluft geschnuppert. Doch irgendwann merkte June, dass sie sich für den Soul verbiegen musste, dass sie von ihrem Herzen und ihrer «Deep South»-Stimme woanders hingezogen wurde: zum Folk, zum Blues und zu Vorbildern wie Bessie Smith, Janis Joplin und dem Country-Gesang von Rose Maddox und den Carter Sisters. Folglich brachte sie sich bei, Gitarre, Banjo und Ukulele zu spielen. Und zunehmend begeisterte sie sich für die Musik ihrer Urgrosseltern. – Im Gespräch erzählt June, wie die «field recordings» eines Alan Lomax und die Folklore-Sammlungen von George Mitchell, der in den sechziger Jahren Bluesmusiker in Mississippi dokumentierte, zu ihrer Bibel wurden. «Um zu überleben, arbeitete ich oft gleichzeitig als Koch, Haushaltshilfe und Verkäuferin. Aber ich hatte meine Freiheit. Ich musste mich nicht mehr entlang künstlicher Genre-Grenzen bewegen und konnte wie die Sänger auf den Feldaufnahmen meine Inspiration aus weisser und schwarzer Musik ziehen.» Valerie June bleibt damit dem Erbe ihrer Heimat treu. Gehörte es einst im tiefen Süden doch zum Alltag, dass schwarze und weisse Musiker sich austauschten und den Stil des jeweils anderen kopierten. «Wir hatten hier mit Stax Records eines der ersten Plattenlabel, die gemischtrassige Bands aufnahmen.»

Ein Glücksfall, dass Valerie Junes Aufnahmen Dan Auerbach in die Hand fielen: Der Black-Keys-Gitarrist, sagt die Sängerin, habe ihr ihren eigenen Kopf gelassen. Die Hälfte der Songs auf dem neuen Album hat sie selbst geschrieben. Der Rest entstand dann zusammen mit Auerbach, der mit seiner eigenen Band auch die Arrangements rund um Junes aussergewöhnliche Stimme baute.

«Ich fühlte mich in Dan Auerbachs Easy Eye Studios in Nashville wie in einem Spielzeugladen. Überall fanden sich alte Banjos, Mandolinen und Vintage-Mikrofone. Dan hat diese Instrumente in jahrelanger Arbeit zusammengetragen.» Nun liefert Auerbachs Instrumenten-Sammlung die Klangfarben für ein Album, das Differenz grossschreibt – und ein Ambiente schafft, wie man es kaum auf einer Produktion des Jahres 2013 erwartet hätte. Junes Songs kommen ohne jede Verzierungen und künstliche Geschmacksverstärker aus und oszillieren fast bruchlos zwischen Blues, Country und Bluegrass. Dazu singt June von Sehnsucht, verlorener Liebe und harter Arbeit: «I’ve been working all my life!»
Wie Slow Food

Kann gute Musik so einfach sein? Valerie June vergleicht ihre Songs gerne mit Slow Food, mit nichtraffiniertem Essen, das man erst nach zu vielen Hamburgern und Milkshakes wirklich zu schätzen weiss. Vor allem aber bedient sie meisterhaft die Mythen des alten Südens. Mit Songs wie der Debüt-Single «Working Woman Blues», auf der sie die schneidenden Klagen einer Vamp-Frau ausbreitet: «I ain’t fit to be no mother / I ain’t fit to be no wife . . . yeah.» Dann wiederum streift sie Gospelterrain, wenn sie zur Orgelbegleitung von Booker T. Jones‘ «Somebody To Love» schmachtet. Oder mit der Unschuld eines Schulmädchens die Folk-Harmonien von «Twined & Twisted» anstimmt. Oft sind es nur ein paar dürre Banjo-Akkorde, die June begleiten, bis Dan Auerbach dann einen schmutzig-lässigen Bluesrock auffährt und die Sängerin sich in die Trance eines Field-Holler fallen lässt. Das klingt fremd – und doch vertraut wie Heimweh. Valerie June schickt Klang-Postkarten aus der Vergangenheit. Nachrichten aus einem Universum, das wir längst untergegangen glaubten und das heute so frisch anmutet wie das letzte Mix-Tape auf dem iPod.
JONATHAN FISCHER
NZZ 26.4. 2012
Valerie June: Pushin‘ Against A Stone (Sunday Best, erscheint am 3. Mai)

„Mich nervt diese Kultur des Nachtragens“: Wie schnell man sich beim Thema Rassismus ins Abseits schießen kann, hat nun auch der Rapper LL Cool J erfahren. Ein Gespräch über Countrymusik, Südstaatenflaggen und den Ballast der Geschichte

Schon der Name zeigt, dass der Mann aus einer anderen Zeit stammt. LL Cool J – die Abkürzung steht für „Die Ladys lieben den coolen James“ – ist seit Mitte der 80er-Jahre mit Hits wie „I Need A Beat“ und „Going Back To Cali“ im Geschäft und heute einer der letzten Überlebenden der alten Schule des Hip-Hop. Als Schauspieler („Swat“, „Deep Blue Sea“, „Navy CIS“) hat er sich in Hollywood nicht nur ausprobiert, sondern etabliert. Mit seinem 14. Album „Authentic“, das Ende April erscheint, will James Todd Smith, wie LL Cool J bürgerlich heißt, jetzt beweisen, dass er auch als Musiker nicht nur älter, sondern reifer geworden ist. Wenn da nicht „Accidental Racist“ wäre, ein kürzlich veröffentlichter Song des Countrysängers Brad Paisley, auf dem LL Cool J mitrappt. Das Lied, das sich an einer kritischen Aufarbeitung des Rassismus in den USA versucht, hat eine saftige politische Kontroverse ausgelöst.

SZ: Sie stehen in Ihrer Heimat gerade wegen des Songs „Accidental Racist“ im Kreuzfeuer, Mister Cool J. Besonders ein Satz darin von Ihnen hat wütende Kritik provoziert: „Wenn du mich nicht für meine Goldketten verurteilst, werde ich die Eisenketten vergessen.“ Lassen sich 400 Jahre Sklavengeschichte so mir nichts dir nichts abhaken?

LL Cool J: Viele Kritiker haben mir vorgeworfen, die Sklaverei zu verharmlosen. Dabei habe ich das ganz anders gemeint. Natürlich weiß ich, wie viel Schreckliches sich damals zugetragen hat. Aber viele Menschen schaffen es eben vor lauter historischem Kontext nicht mehr, die lebende Person zu sehen, die vor ihnen steht.

Ärger hat es auch gegeben, weil Sie die rassistisch vorbelastete Südstaatenflagge Ihres Country-Kollegen Brad Paisley verteidigt haben – mit dem Hinweis, dass er ja auch Ihre Hip-Hop-Mode akzeptiere.

Ich habe bereits in der „Jay Leno Show“ zugegeben, dass der Song nicht perfekt ist. Vier Minuten sind zu kurz für 400 Jahre Geschichte. Trotzdem glaube ich daran, dass wir ein wenig Ballast über Bord werfen dürfen, wenn uns das die Chance eröffnet, als weiße und schwarze Amerikaner zusammenzufinden. Warum muss man diese Dinge so verkomplizieren? Liebe ist eine verdammt simple Sache.

Versöhnung ist eine Sache. Aber liefern Sie mit dem Song nicht jedem weißen Rassisten die perfekte Ausrede, um sich nicht mehr mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen?

Mich nervt diese Kultur des Nachtragens. Pausenlos beschweren wir uns. Über Verletzungen durch unseren Partner, unseren Chef im Büro, unsere Lehrer, die Regierung. Martin Luther King hat einmal gesagt: Du kannst Dunkelheit nicht mit Dunkelheit austreiben. Nur Liebe und Vergebung können das erreichen. Deswegen möchte ich nicht über die Vergangenheit verbittern, sondern positiv nach vorne schauen. Sehen Sie mal, wie gut die Fusion von Rap und Country funktioniert: Können wir uns da nicht auch auf anderen Ebenen die Hand reichen?

Hip-Hop und Country sind nicht gerade musikalische Geschwister. Wie kommen Sie als New Yorker Rap-Legende zur Musik der weißen Vorstädte?

Das stimmt doch gar nicht. Hip-Hop und Country haben viel gemeinsam. Das Publikum für Country rekrutiert sich zum größten Teil aus der unteren Mittelklasse und ärmeren Schichten, und da kommen auch die Hip-Hop-Hörer her. Hier wie dort haben wir einfache Leute, die über ihren Alltag berichten. Vielleicht haben sie eine unterschiedliche ethnische Herkunft und drücken sich anders aus. Aber ansonsten leben sie in derselben Welt. Wir müssen endlich diese künstlichen Barrieren zwischen uns durchbrechen. Wir müssen lernen, uns gegenseitig zu tolerieren.

Sie haben neben Brad Paisley unter anderen noch Eddie Van Halen, Earth Wind & Fire und Seal als Gäste auf Ihrem neuen Album. Das klingt, als wollten Sie es auch musikalisch allen recht machen.

Ihr Kritiker reitet immer auf ethnischen und sozioökonomischen Unterschieden herum. Aber Quincy Jones hat mir mal gesagt: Deine Musik wird immer genau den Reichtum ausdrücken, den du auch als Mensch in dir zulässt. Braucht Hip-Hop wirklich eine Ghetto-Mentalität? Diese Musik ist doch mal angetreten, um alle Schranken einzureißen und Dinge miteinander zu kombinieren. So gesehen kannst du alles durch den Hip-Hop-Wolf drehen. Wenn es auf meinem iPod zusammenpasst, passt es auch auf meinem Album zusammen.

Wie passt denn Ihr heutiges Image als treuer Ehemann und Familienvater mit Ihrem Ruf als erstes Sexsymbol der Hip-Hop-Geschichte zusammen?

Mann, glauben Sie mir, ich habe echt nie versucht, sexy zu sein. Ich bin einfach immer nur ich selbst gewesen. Und warum sollte ich nicht ab und zu auf der Bühne mein Hemd zerreißen? Dafür habe ich schließlich meine Bauchmuskeln trainiert.

Sie haben als 45-Jähriger also kein Problem damit, immer noch mit dem Schürzenjäger- und Maulhelden-Image Ihrer Jugend zu spielen?

Ein oder zwei anzügliche Videos würde ich heute nicht mehr so drehen wie damals, vor allem aus Rücksicht auf meine Frau. Aber hey, das ist ein Teil von mir – und wenn ich auf der Bühne stehe, habe ich die Freiheit, die Songs von früher zu spielen.

Die jungen Rapper von heute treten nicht mehr so breitbeinig auf wie Sie früher. Kanye West oder Kendrick Lamar reden in ihren Liedern von den eigenen Unsicherheiten und Fehlschlägen. Wie finden Sie das, als geläuterter Senior?

Ich war doch der erste Rapper, der mit „I Need Love“ ein Liebesgeständnis abgelegt und sein Bedürfnis nach Zuwendung thematisiert hat. Das war 1987 und hat mich ganz schön Überwindung gekostet. Auch für mein neues Album habe ich ein paar extra-romantische Songs aufgenommen. Wenn man im Hip-Hop schon über alles und jedes geprahlt hat, dann muss man eben auch weiterziehen, zu anderen Themen. Ich mag gerade Kendrick Lamar sehr gerne. Trotzdem bleiben für mich die 80er- und 90er-Jahre die goldene Zeit des Hip-Hop. Damals habe ich eine Menge Ehrlichkeit und Herz in der Musik gespürt. Da ging es nicht nur ums Geschäft.

Ihnen geht es nicht ums Geschäft?

Schauen Sie, ich verdiene mit der Schauspielerei wirklich viel Geld. Ich brauche Hip-Hop nicht mehr, um mir Goldketten oder Autos leisten zu können.

Sie haben vier Kinder, Ihre jüngsten Töchter sind zwölf und 17 Jahre alt. Dürfen die alles hören, was Hip-Hop so an Unflätigkeiten bereithält?

Sie meinen die Typen, die fünf Mal „Lutsch meinen Schwanz“ in einem Vers unterbringen? Sie meinen Lil’ Wayne?

Ja, nehmen wir Lil’ Wayne . . . 

. . . Mein Job als Vater ist es, meinen Töchtern das menschliche Fundament zu geben, um solche Dinge einordnen und auf gesunde Weise damit umgehen zu können. Man darf seine Kinder nicht vor allem beschützen. Ohne meine harte Jugend – und verstehen Sie mich nicht falsch: Ich wünsche niemandem, so von seinem Stiefvater verprügelt zu werden, wie es mir passiert ist – ohne all das hätte ich vielleicht nicht diesen Biss im Leben entwickelt, diesen Ehrgeiz, es allen zu beweisen.

Sie haben mal gesagt, Sie könnten sich nach der Schauspielerei auch noch eine Karriere als Politiker vorstellen.

Das war mal, Mann. Jetzt, wo ich sehe, wie viel Wirbel schon eine lausige Songzeile auslösen kann, ganz egal, welche guten Absichten du hast. . . nein. Nein, Danke!

INTERVIEW: JONATHAN FISCHER
SZ 24.4.2013

Alles auf Anfang: Valerie Junes Debut „Pushin’ Against A Stone“

Da schaut man auf das Bild einer jungen schwarzen Model-Schönheit und kann kaum glauben, dass das ihre Stimme ist – und nicht die einer weißen Großmutter aus den Appalachen. Valerie June hat es einiges gekostet, zu dieser Diskrepanz zu stehen. Nach einem missglückten Start als Soulsängerin tingelte die Autodidaktin aus Tennessee mit Banjo, Gitarre und selbst gemachter Seife durch die Clubs – bis ihre Musik den Produzenten Kevin Augunas (Florence & The Machine) und Dan Auerbach von den Black Keys zu Ohren kam. Warum nicht mit dieser Stimme den Pop von ganz weit hinten aufrollen? Tatsächlich klingt ihr Album Pushin’ Against A Stone wie eine Sammlung von Outtakes aus Brother Where Art Thou. Bluegrass, Gospel-Harmonien, Juke-Joint-Blues und Arbeiterpoesie, so alt wie eine dieser Baptisten-Holzkirchen im tiefen Süden – und bestimmt das Hipster-Ding von morgen.

JONATHAN FISCHER

Die Zeit 11.4.2013

Blind Willie Johnson und Beethoven: Matthew White aus Richmond über Anachronismus und die Entstehung seines Debütalbums „Big Inner“

Der Mann mit dem Rübezahl-Bart, der Zottelmähne und dem epischen Americana-Sound ist die Überraschung des Jahres: Matthew E. White, ein 29-jähriger studierter Jazzer aus Richmond, Virginia, hat ein zeitloses Debütalbum vorgelegt, das mühelos ein halbes Jahrhundert amerikanische Musikgeschichte in Songs gießt, die so klingen, als wären sie schon immer da gewesen. Nun bringt er „Big Inner“ mit großer Besatzung live auf die Bühne.

SZ: Mr. White, Ihr etwas melancholischer, großorchestraler Sound scheint die Kritiker zu fordern. Mal werden Sie mit Spiritualized, mal mit Randy Newman, mal mit Isaac Hayes verglichen. Wie beschreiben Sie selbst Ihre Musik?

White: Da ist überall was Wahres dran. Aber mein Konzept ist vor allem von der brasilianischen Tropicalia-Musik und ihrer Melange aus Folk und klassischer Musik des 20. Jahrhunderts beeinflusst. Mir gefällt daran die Balance von sogenannter Hochkultur und Straßenmusik: Als ob Blind Willie Johnson und Beethoven die selbe Bühne bespielen würden.

Ich hätte eher auf New Orleans und den Südstaaten-Soul getippt.

New Orleans ist neben Brasilien und Jamaika eine meiner großen Inspirationsquellen. Aus New Orleans stammt jedenfalls die Philosophie meiner Big Band: als Individuen zusammen zu swingen. Ich gebe zwar die Arrangements vor, aber jeder Musiker hat die Freiheit, darin seine eigene Stimme zu finden. Wichtig ist dabei die Balance zwischen kompositorischer Strenge und Laissez-faire. Da orientiere ich mich an Vorbildern wie Leon Ware, der „What’s Going On“ für Marvin Gaye arrangierte, an Lee Perry in seiner Black Ark-Periode oder eben dem New Orleans Produzenten Allen Toussaint.

Wie Toussaint machen Sie alles selbst: Sie schreiben ihre Songs, arrangieren und produzieren mit einer Hausband.

Das kann ich mir nur dank Richmond, Virginia, erlauben. Ich hatte das große Glück, hier in dieser Kleinstadt in eine Musiker-Kommune hineinzuwachsen, in der jeder dem anderen aushilft. Das reduziert die Kosten für eine Aufnahme erheblich. Und da ich alles vorher auskomponiert hatte, dauerte es auch nur drei Tage, um „Big Inner“ einzuspielen.

Wobei Sie ja ursprünglich gar nicht vorhatten, ein Album aufzunehmen.

Stimmt! Zuerst war unser Spacebomb getauftes Label und Studio da. Dann fingen wir an, mit der Rhythmus- und Bläsersektion meiner einstigen Avantgarde-Jazzband Fight The Big Bull zu proben, aus der amerikanischen Musikgeschichte unseren eigenen Marken-Sound zu kondensieren. Und erst zum Schluss kam der Gedanke: Warum nicht selbst ein Album herausbringen? Unter meinem Namen? Ich erklärte mich bereit, den Anfang zu machen. Gleichzeitig arbeiten wir gerade an mindestens vier weiteren Werken.

Ist es im Zeitalter von Lo-Fi und Sampling nicht anachronistisch, eine gut 30-köpfige Hausband samt Bläsern und Streichern zu unterhalten.

Vielleicht bin ich etwas altmodisch: Aber ich mag es nicht, Stücke zusammen zu frickeln. Mich begeistert die Art, wie Platten früher aufgenommen wurden: All die Meisterwerke von Stax oder Motown – lebten die nicht immer von einer eingespielten Studiotruppe? Da ging es nie allein um einen Sänger allein, sondern um den organischen Prozess rund um den Gesang.

Und nun wollen Sie ausgerechnet in Richmond diese Legenden wiederbeleben?

Warum nicht? Es war großartig, für „Big Inner“ mit 35 Musikern zu arbeiten, wobei jede Person ihren eigenen Sound ins Studio gebracht hat, um all das zu einer großen Collage zusammenzufügen. Ich nenne es regionale amerikanische Psychedelik.

Anders als beim herkömmlichen Rock’n’Roll und dessen Affinität zum Höllenfeuer beschwören Sie in ihrer Musik immer wieder Jesus und eine christliche – wenn auch durch Zweifel und Todesahnungen gebrochene – Gemeinschaft. Hat das mit Ihrer Kindheit als Sohn zweier Missionare zu tun?

Ich habe vier Jahre meiner Kindheit mit meinen Eltern auf den Philippinen gelebt. Das hat meine Sicht auf unsere amerikanische Überfluss-Gesellschaft geprägt. Genauso wie die Freundlichkeit und die Hilfsbereitschaft in unserer Kirchengemeinde. Natürlich kritisiere ich manches. Aber in der Gospel-Affinität meiner Musik steckt nicht nur meine, sondern die Geschichte vieler Amerikaner meiner Generation.

Ihr Gesang hat etwas Verhaltenes, bisweilen fast Verhuschtes. Würden Sie Ihre Musik dennoch als Soul bezeichnen?

Hätten wir einen schwarzen Sänger in unserer Space Bomb Hausband, dann wäre es ohne Zweifel Soul. Ich selbst hegte nie Ambitionen als Leadsänger. Und ich mache mir auch keine Illusionen, dass jemand mich meiner Stimme wegen engagieren würde. Also passe ich sie auf „Big Inner“ so gut wie möglich in die Arrangements ein und lasse dabei Raum für all den anderen schönen Stoff. Wenn mich jetzt ein paar Leute als Soulmann bezeichnen: Wen stört’s? Tragen wir nicht alle – ob wir es nun wissen oder nicht – den Soul in uns?

INTERVIEW: JONATHAN FISCHER
SZ 10.4.2013

Wir haben keine Gewehre: Der Gründer des „Festival au Désert“ Manny Ansar über Islamisten, Tuareg und die Kraft der Musik

Vor 13 Jahren gründete Manny Ansar mit einem Kollektiv von Tuareg aus dem Norden Malis das Festival au Desert. Es entwickelte sich bald zu einem der beliebtesten Musikfestivals Afrikas und zum Treffpunkt von Tuareg-Bands und malischen Musikern mit westlichen Musikern, Produzenten und Zuhörern. Nach Drohungen islamischer Fundamentalisten wurde es 2010 von Essakane an den Stadtrand von Timbuktu verlegt. Dieses Jahr soll es nur im Exil stattfinden. Derzeit plant Ansar eine Europatournee im Juli.

SZ: Herr Ansar, die Musikkultur Malis steht im Westen höher im Kurs als je zuvor. Noch im Februar vergangenen Jahres trat Bono in Timbuktu auf. Auch Damon Albarn, Robert Plant von Led Zeppelin oder Manu Chao haben Ihr Festival besucht. Dennoch haben Sie alle Pläne für dieses Jahr abgesagt.

Ansar: Wir hatten geplant, das Festival trotz der Besetzung Nordmalis durch Islamisten auch dieses Jahr auszurichten. Als Friedens-Karawane. Sie sollte vom Süden Mauretaniens nach Süd-Mali, Burkina Faso und Niger ziehen – unter Beteiligung von geflüchteten Musikern aus Nord-Mali. Wir wollten damit ein Zeichen setzen: Niemand kann unsere Musik stoppen. Nun haben wir das ganze abblasen müssen.

Warum?

Die Islamisten hatten nicht nur jede Unterhaltungsmusik und selbst Handy-Klingeltöne verboten. Als sie Timbuktu übernahmen, war eine ihrer ersten Aktionen, unsere Ausrüstung, die Bühnenanlage und Generatoren zu zerstören. Und das große Tor, das den Eintritt zum Festivalgelände markiert, haben sie als Zielscheibe für Schießübungen verwendet. Nun sind sie aber aus den großen Städten des Nordens vertrieben.

Was halten Sie von der Anweisung der malischen Regierung, auf Konzerte in der Sahel-Zone zu verzichten?

Einerseits ist die Gefahr von Entführungen real. Andererseits hat gerade das Festival viel für die Einheit Malis geleistet: Vor seiner Einführung gab es aufgrund der Tuareg-Aufstände der Neunzigerjahre große Animositäten zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Mali. Doch dann tanzten Mitglieder aller Ethnien, Männer, Frauen und Kinder zusammen auf den Dünen. Wir Musiker können in Mali unser Volk viel leichter zusammenbringen als die Politiker.

Haben Sie und die Musiker heute Angstum ihr Leben?

In Bamako fühle ich mich relativ sicher. Aber in den Norden, wo meine Tuareg-Verwandtschaft lebt, würde ich momentan nicht reisen. Musiker und Musikveranstalter sind dort immer noch gefährdet. Die Islamisten brachen bei einem Musiker-Freund von mir zu Hause ein, verbrannten alle Musikinstrumente und drohten seiner Frau: Wenn dein Mann noch einmal Musik spielt, hacken wir ihm die Finger ab. Am selben Tag packte er die Koffer und flüchtete in den Niger.

Ist Flucht die einzige Möglichkeit, als malischer Musiker zu überleben ?

Viele malische Musiker haben in den letzten Monaten ihre Stimme gegen die Islamisten erhoben. Wir haben keine Gewehre. Aber wir können sie mit Kultur bekämpfen. Mit Musik. Wenn wir die Islamisten nicht stoppen, überrollen sie irgendwann ganz Afrika. Aber wir müssen mit Racheakten und Selbstmord-Anschlägen rechnen.

Hatte das Festival au Desert denn ursprünglich eine Botschaft?

Anfangs trafen sich die nomadischen Völker rund um Timbuktu auf dem Festival. Später luden wir Musiker, Musikproduzenten, Konzertveranstalter aus aller Welt ein. So wurde das Festival zur Chance für Interessierte aus Afrika, Europa und Amerika mit den Tuareg zusammen zu kommen und zu musizieren. Das half einerseits der Tuaregkultur. Andererseits verschaffte es der heimischen Bevölkerung Jobs und Einkommen. Viele Musiker nutzten uns als Sprungbrett. Bands wie Tamikrest oder Tinariwen die heute weltweit touren, waren vor ihrem Auftritt bei dem Festival bestenfalls lokale Größen.

Inzwischen ist die Tuareg-Musik im Westen angekommen. Aber hat sich die Situation der Tuareg-Minderheit in Mali deswegen verbessert?

Die Tuareg befinden sich in einer schwierigen Situation: Sie sind in den Flüchtlingslagern sehr unglücklich, wollen zurück in ihre Dörfer und dort in Frieden mit ihren Tieren leben. Aber nun haben sie wieder Angst: Weil sie die Rache malischer Soldaten fürchten. Teile der Armee stempeln die Tuareg zu Sündenböcken der Krise ab, dabei war es nur ein sehr kleiner Teil, der sich an dem islamistischen Aufstand beteiligte.

Aber haben die Tuareg diesen Konflikt nicht selbst provoziert, als sie einen eigenen Staat Azawad ausgerufen haben?

Das waren Splittergruppen, die nicht die Mehrheit der Tuareg repräsentieren. Ich persönlich halte nichts von derlei Ideen: Warum einen eigenen Staat ausrufen? Wir leben heute in einer modernen Welt, wo man Konflikte mit Diplomatie, nicht mit Gewehren austragen sollte.

Geht denn auch ein Riss durch die Gemeinschaft der malischen Musiker?

Nein, wir Musiker haben immer über alle ethnischen Grenzen hinweg zusammen gearbeitet, egal ob Tuareg aus dem Norden oder Bambara aus dem Süden. Niemand von uns wollte den Krieg oder die Abtrennung des Nordens. Wir sehen uns viel mehr als Brüder. Alle Malier teilen diese Liebe zur Musik. Wir können uns kein Leben ohne sie vorstellen.

INTERVIEW: JONATHAN FISCHER
SZ 6.4.2013

Jetzt aber mit Gefühl! Über den Schmerz zu singen, dazu ist es nie zu spät: Charles Bradley debütierte mit 62, jetzt legt er sein zweites Album vor: „Victim Of Love“, wieder eine angenehm altmodische Soulplatte.

Mister Bradley, nach vier Jahrzehnten haben Sie den Durchbruch geschafft. Ein weltweites Publikum feiert Ihre Auftritte, die Musikpresse hofiert Sie als „letzten Soulman“. Verschafft Ihnen das späte Genugtuung?

Für mich ist das ein bittersüßes Gefühl. Ich wollte immer so geliebt werden, wie ich bin. Aber lange konnte ich nicht aussprechen, was ich dachte und fühlte, weil ich fürchtete, meinen Job zu verlieren, wieder auf der Straße zu landen oder Ärger mit der Polizei zu bekommen.

Sie sind lange unter dem Namen „Black Velvet“ als James-Brown-Epigone durch die Clubs getingelt. Was hat Brown Ihnen bedeutet?

Meine Schwester hatte mich als Teenager auf ein James-Brown-Konzert in Harlem mitgenommen. Damals beschloss ich: Ich werde Entertainer. Mir ging es zu Hause schlecht. Ich war mit vierzehn Jahren von dort weggelaufen, lebte zwei Jahre auf der Straße, übernachtete in Autowracks und U-Bahnen. Dauernd gab es Ärger mit der Polizei. Viele meiner Freunde auf der Straße fingen an, Heroin zu spritzen, landeten im Knast. Doch da war dieser Typ, der „Say It Loud, I’m Black And I’m Proud“ sang.

Aber statt einer Soul-Karriere warteten erst einmal Suppentöpfe auf Sie.

Ich hatte das Glück, durch ein Sozialprogramm namens Jobs Corps eine Stelle als Kantinenkoch zu ergattern. Ich kochte Tag für Tag für 3500 Leute in einer Anstalt für Geisteskranke. Länger als zwei Jahrzehnte stand ich am Herd, zuerst in New York, dann in Kalifornien. Einmal spielte James Brown im selben Laden. Ich bat ihn, mir eine Chance zu geben. Aber er sagte nur, das sei seine eigene Show: „Glaube an dich, und mach dein eigenes Ding.“ Nach meiner Schicht hatte ich manchmal kleine Gigs. Das war’s.

Heute aber zählen Ihre Qualitäten mehr als je zuvor. Gerade angesichts der Übersättigung am überproduzierten Autotune-Pop feiern die alten Soul-Tugenden ein ungeahntes Comeback.

Gott gab mir die Stärke, so lange durchzuhalten. Wissen Sie, der Soul, wie ihn Otis Redding oder O.V. Wright gesungen haben, wird nie aus der Mode kommen. Beim zeitgenössischen Rhythm & Blues fehlt mir etwas: Gefühl. Soul bedeutet die Gleichzeitigkeit von Schmerz und Liebe. Je mehr du durchgemacht hast, umso tiefer kannst du deinen Gesang empfinden. Man kann es der Stimme eines Sängers anhören, was er durchlitten hat.

Darf man aus der schmerzhaften Leidenschaft Ihres Gesangs schließen, dass Ihnen das Leben übel mitgespielt hat? Viele Ihrer düster getönten Soulnummern wie „Heartaches and Pain“ sollen aus dem Leben gegriffen sein.

Soul zu singen war für mich immer ein Mittel, dem Druck zu trotzen, nicht zu verbittern, mich nicht mit anderen zu vergleichen. Als ich meine Anstellung als Koch verlor, bin ich 1996 zurück zu meiner Familie nach New York gezogen. Ich nahm tagsüber Aushilfsjobs an, so dass ich abends singen konnte. Aber dann kam ich wegen eines rätselhaften Fiebers ins Krankenhaus. Ich dachte, ich müsste sterben. Mein Bruder besuchte mich regelmäßig, schenkte mir die Kraft weiterzuleben. Kurz darauf wurde er erschossen. Das hat mich vollkommen am Boden zerstört.

Den Traum vom Singen hatten Sie da immer noch nicht aufgegeben?

Ich war kurz davor aufzugeben. Als mir ein Gast bei einem Auftritt in einer Kneipe in Bedford-Stuyvesant anbot, für Plattenaufnahmen ins Studio zu gehen, konnte ich das anfangs nicht glauben. Ich war so oft enttäuscht worden. Und von Gabriel Roth oder seinem Label Daptone Records hatte ich auch noch nie gehört.

Gabriel Roth machte Sie mit Tom Brenneck (The Budos, Menahan Street Band, The Dap-Kings) bekannt und stellte Ihnen eine junge Truppe Brooklyner Hipster zur Seite, die bereits eine ältere, so gar nicht dem Rhythm-&-Blues-Glamour entsprechende Sängerin wie Sharon Jones ganz groß herausgebracht hatten. Wie erleben Sie die Zusammenarbeit?

Diese jungen Musiker haben ihre Plattensammlung sorgfältig studiert. Sie polieren die Sechziger-Licks etwas auf, lassen mich musikalisch wachsen und dynamischer singen als je zuvor. Sie rocken mich, und ich rocke sie zurück. Das ist für mich das größte Geschenk überhaupt!

Viele Ihrer selbstgeschriebenen Songs klingen eher pessimistisch, etwa die Sozialkritik in „Confusion“.

Schauen Sie sich nur um, überall verlieren die Menschen ihre Jobs und ihre Häuser, die Kids hängen beschäftigungslos herum, nehmen Drogen und schießen sich gegenseitig tot. Es ist, als ob all die Albträume meiner Jugend wieder Realität würden. Ich sorge mich einfach um diese Generation. Wir brauchen beherzte Führer, denen sie nacheifern können.

Sehen Sie sich denn selbst als Vorbild?

Meine Großmutter sagte mir immer: „Es ist so leicht, sich gehenzulassen. Und so schwer, auf dem richtigen Weg zu bleiben.“ Das möchte ich weitergeben. Und die Erfahrung, dass wir uns besser mitteilen sollten. Früher gab ich kaum etwas von mir preis. Mein Produzent Tom Brenneck aber hat mich ermutigt, alles, was ich erlebt habe, all den Schmerz und die Leidenschaft in meinen Gesang zu legen. Die Menschen spüren das. Das ist Soul – auch wenn ich manchmal auf der Bühne mit dem Text aussetzen muss, um nicht loszuheulen!

Die Fragen stellte Jonathan Fischer.
FAZ 9.4.2013

Opfern für eine größere Sache: RZA, Hip-Hop-Legende und jetzt Martial-Arts-Filmregisseur, über Kung Fu als universale Metapher, den Kampf der Ghetto-Underdogs und die Kraft spiritueller Disziplin

Robert Fitzgerald Diggs aus Brooklyn, besser bekannt unter seinem Künstlernamen RZA, ist der Spiritus rector der legendären Hip-Hop-Formation Wu-Tang Clan, Soundtrack-Bastler für Jim Jarmusch und Quentin Tarantino, Schauspieler für Ridley Scott und andere – und seit Neuestem auch Regisseur. „The Man With The Iron Fists“, mitgeschrieben von Eli Roth und präsentiert von Tarantino, ist inspiriert von den Kung-Fu-Klassikern der siebziger und dem Gangsta-Rap der neunziger Jahre. RZA spielt dabei auch eine der Hauptrollen: Den Schmied in einem chinesischen Dschungeldorf, der spirituelle Energien nutzt, um sich in eine Waffe für den Kampf und für die Erkenntnis zu verwandeln – ein Thema, das im Übrigen sein ganzes Schaffen bestimmt.

SZ: Sie haben als Hip-Hop-Produzent ein paar Jahre lang diktatorisch den Wu-Tang Clan dirigiert. Sind Sie auch als Filmregisseur ein Control-Freak?

RZA: So würde ich mich nicht bezeichnen. Aber ich bin Captain Kirk auf dem „Raumschiff Enterprise“, verstehen Sie? Am Ende steht darunter: Directed by the RZA. Bei den Dreharbeiten in Hongkong habe ich mich an Disziplin selbst überboten. Jeden Tag morgens um acht auf der Matte, wochenlang Sechzehn-Stunden-Schichten – und dabei keinen Krümel Gras geraucht.

Was hat Sie bei den Dreharbeiten am meisten gefordert?

Die Einsamkeit. Ich arbeitete in Hongkong anfangs ohne einen Freund vor Ort – alles war fremd, auf den Straßen kein einziger schwarzer Mensch. Ständig schickte ich Mails: Ich habe die Szene so und so gedreht, in Ordnung? Und dann erst die Post-Produktion. Es ist ja das erste Mal für mich, dass ich das verantworte. Früher haben mich meine Kumpels Jim Jarmusch oder Quentin Tarantino für den Soundtrack hinzugezogen, als diese Arbeit schon abgeschlossen war.

Sie sind also als ziemlicher Laie an den Schnitt dieses 20 Millionen Dollar teuren Filmes gegangen . . .

Dass ich Komponist bin, hat mir enorm geholfen. Ich sehe Bilder und Szenen wie Musikstücke, in Sequenzen. Dann habe ich selbst schon viele Schauspielrollen übernommen. Und als Musik- und Videoproduzent bin ich auch mit dem Prozess im Schneideraum vertraut. Die Samplelogik gleicht sich: In die Musik des Wu-Tang Clans habe ich Kung-Fu-Soundtracks geschnitten. Nun lasse ich Russell Crowe ein paar Szenen spielen, die meinen verstorbenen Rap-Cousin Old Dirty Bastard zitieren.

Mit Russell Crowe, Lucy Liu und Pam Grier haben Sie Ihre Wunschbesetzung aus Hollywood mitgebracht. Dass Sie als Film-Anfänger gleich große Namen für sich gewinnen konnten – spricht das für Ihren Stand in der Filmindustrie?

Meine Filmkarriere fing damit an, dass Jim Jarmusch sich als Wu-Tang-Fan geoutet hat. Wir beide kauften unser Gras vom selben Dealer, der hat uns dann zusammengebracht. Jarmusch sagte mir, er würde oft tagelang nur meine Musik hören, und ich sollte den Soundtrack für einen Film schreiben, den er gerade in der Mache hatte. Das war „Ghost Dog“.

Anschließend sind Sie bei Quentin Tarantino in die Lehre gegangen.

Wir haben angefangen, zusammen Kung- Fu-Filme anzuschauen. Jeder von uns versuchte, den anderen mit seinem Wissen zu übertrumpfen. Irgendwann fragte ich ihn: Quentin, willst du mein Lehrer sein? Er nahm an. Sechs Jahre lang hing ich regelmäßig in seinem Haus ab, schaute durch die Linse seiner Kamera. Viele Musiker – von den Wu-Tang-Rappern bis Kanye West – nennen mich ihren Lehrer. Aber ein guter Lehrer bleibt immer auch ein Schüler.

Ihr Umfeld reagierte skeptisch, als Sie Ihre erfolgreiche Musikproduzentenkarriere für Ihre Filmleidenschaft niederlegten. Haben Sie die Entscheidung einmal bereut?

Nein, schließlich sind die Früchte meiner Arbeit mit dem Wu-Tang Clan ziemlich unerwarteterweise in den Film eingeflossen. Ich hatte einen chinesischen Schauspieler namens Daniel Wu engagiert: In China ist er ein Superstar, wo auch immer wir ankamen: Alle Frauen drehten sich nach ihm um. Er erklärte mir am Set, wie sehr er in seiner Jugend in Amerika vom Wu-Tang- Clan profitiert hatte. Lange sei er als Asiate ziemlich geringschätzig behandelt worden. Erst mit dem Wu-Tang Clan sei sein Name Wu plötzlich cool geworden. Und das ist noch längst nicht die einzige Verbindung: Kennen Sie das Intro in der Wu-Tang-Nummer „Wu Tang Clan Ain’t Nothing To Fuck With“? „Tigerstyle . . .“ Das ist natürlich aus einem alten Kung-Fu- Film. Ich habe den Hauptdarsteller ausfindig gemacht, und jetzt spielt er in meinem Film mit. Allerdings nicht als der Master Killer, der er mal war. Sondern als weiser alter Mann.

Für den Wu-Tang Clan sampelten Sie alte Kung-Fu-Soundtracks, diese Filme spielen auch in Ihren Büchern und Raps eine große Rolle. Was hat Sie daran so angezogen?

Die Brüderschaft! Die Kung-Fu-Helden stellten das eigene Ich zurück, opferten sich für ihre Verwandten oder Glaubensbrüder, für eine größere Sache. So etwas kannte ich nicht aus dem amerikanischen Kino. Manche Kung-Fu-Filme haben mich und meine Wu-Tang-Kumpels zu Tränen gerührt – nachher adaptierten wir einige der Charaktere, die wir auf der Leinwand gesehen hatten . . .

Kung Fu als universale Metapher für die Verbrüderung der Underdogs?

Richtig, wir erkannten da zum ersten Mal: Unterdrückung existierte nicht nur im schwarzen Amerika. Da war zum Beispiel diese Schlüsselszene, in der ein paar Japaner Bruce Lee unmissverständlich klarmachten: Chinesen und Hunde sind bei uns nicht erlaubt.

Sie haben schon als Jugendlicher den Schulunterricht geschwänzt, um mit ihren Cousins Old Dirty Bastard und Ghostface Killah Kung-Fu-Filme zu gucken . . .

Natürlich waren wir zuerst vom Kampf-Aspekt angezogen. Bruce Lee durch den Raum wirbeln zu sehen, törnte mich an wie ein Soft-Porno. Später habe ich in New York einen chinesischen Shaolin-Mönch getroffen, der mich dann unterrichtete.

Sie betreiben nun seit 20 Jahren asiatischen Kampfsport, wird da der geistige Aspekt nicht irgendwann wichtiger als der körperliche?

Auf jeden Fall. Als Kung-Fu-Meister kämpfe ich kaum jemals physisch, ich beachte vielmehr diese Prinzipien für mein ganzes Leben. Die meisten Schüler lernen nur den Kampfsport und vernachlässigen die geistige Seite. Aber das widerspricht der Moral der meisten Kung-Fu-Filme, die genau davor warnen – dass die Bösewichte ihr Können nur zum Töten einsetzen wollen, dass junge Studenten auf physische Weise nach Rache streben. Nehmen Sie nur einen Kung-Fu-Klassiker wie „The 36 Chambers of Shaolin“. Die Szene, die mich einst so beeindruckte und letztlich die ganze Philosophie des Wu-Tang Clan begründete, war bestenfalls eine Minute lang: Ein junger Mönch trifft auf seine Meister: Er will kämpfen, für sie aber zählt allein die geistige Haltung. Dieser kurze Ausschnitt inspirierte mich dazu, Buddha und die Bibel zu lesen.

Und Bruce Lee?

Den habe ich immer mehr als Philosophen betrachtet: In einer Szene sagt er einem Schüler, als er auf den Mond deutet: ,Schau nicht auf meinen Finger – du verpasst das himmlische Schauspiel dahinter.‘ Oder: ,Ertrinke im Teich und werde wie das Wasser.‘ Das waren Sätze, die bei mir hängen blieben. Das gilt auch für „The Man With The Iron Fists“: Was auch immer im Schneideraum passierte, es gab da ein paar Zeilen Philosophie, die blieben unantastbar.

Ist die Moral Ihres Films nach tausend ähnlich gelagerten Kung-Fu-Plots nicht etwas vorhersehbar?

Für mich liegt die Moral nicht so sehr in der Storyline. Sondern in dem Umstand, dass ich überhaupt die Chance habe, einen Kung-Fu-Film zu drehen. Stellen Sie sich den Teenager vor, der die Schule schwänzt und sein Taschengeld spart, um in eines dieser Schmuddel-Kinos in der 42. Straße in New York zu gehen. Und wenn ich dann mangels Busgeld zwei Meilen zu Fuß zu meiner High School marschierte, hatte ich immer dieselbe Vision: Wie ich mal einen eigenen Kung-Fu-Film drehen würde. Die meisten Leute haben gesagt: ,Träum nicht so viel‘. Jetzt kann ich sagen: ,Falsch, ich zahle es dem Kung-Fu-Kino heim‘.

So sehr, dass es in einem chinesischen Dorf des 19. Jahrhunderts sogar einen schwarzen Dorfschmied geben kann . . . Warum nicht? Wir beide – der Dorfschmied und ich – teilen einen tiefen Wissensdurst. Wenn Sie wollen, hat auch das chinesische Dorf der Filmstory einiges mit den Sozialwohnungs-Blocks meiner Jugend in Staten Island gemeinsam. Die Gangs, die Kämpfe, das Gefühl verloren zu sein. Metaphorisch gesehen ist es eine weitere Ghetto-Story.

Sie thematisieren in Ihrer Musik wie in Ihrem Film immer wieder das Thema Selbstlosigkeit. Aber sind Hip-Hop wie Kung-Fu-Kino nicht stets auch Bühnen für Selbstdarsteller?

Sprechen wir lieber von Erdung: Mich hatte mal ein Haufen Gangsterrapper als Produzent gebucht. Ich fuhr mit ihnen zu meinem Berg-Camp in den Los Angeles Mountains hinaus: Bevor wir ins Studio gehen, sagte ich, möchte ich, dass ihr mit mir die Beete umgrabt und Holz hackt. Sie haben natürlich gemault: ,Hast du keine Mexikaner für diese Arbeit?‘ Ich aber blieb dabei: ,Wir müssen uns erst in die richtige Geistesverfassung bringen.‘

Welche Rolle spielt denn der Soundtrack in Ihrem Film? Immerhin konnten Sie einen der bedeutendsten Hip-Hop-Produzenten der Gegenwart für den Job gewinnen: sich selbst.

Ich wollte diesen Aspekt ursprünglich – in Umkehrung unserer alten Rollen – meinem Freund Quentin Tarantino anvertrauen. Aber dann hatte er wegen seines eigenen Films keine Zeit – RZA, mach du das lieber! Es gibt da ein paar alte Soulnummern und Wu-Tang-Klassiker, die mir während der Drehbucharbeiten durch den Kopf geisterten. Die habe ich nun für den Film neu arrangiert.

Das ist doch eine gute Nachricht!

Verdammt, ja. Jeder sieht das so, Quentin, meine Filmfirma, meine Produzenten.
INTERVIEW: JONATHAN FISCHER
SZ 1.12.2012