Alicia Garza, die Mitbegründerin von Black Lives Matter erklärt, wie die Linken sich selbst im Weg stehen und warum die Bewegung heute keinen Martin Luther King mehr braucht.
Alizia Garza hatte bereits jahrzehntelang für verschiedene Gesundheits-, Bürgerrechts- und Antidiskriminierungs-Organisationen gearbeitet, als sie 2013 nach dem Mord an Trayvon Martin und dem Freispurch des Täters, den Hashtag „Black Lives Matter“ absetzte. Ihr leidenschaftlicher Facebook-Post wurde hunderttausendfach geteilt. Zusammen mit Opal Tometi und Patrisse Cullors entwickelte sie daraus das Konzept einer Massenmobilisierung gegen Polizeigewalt, die Gefängnisindustrie und die Ungerechtigkeiten des US-Justizsystems. Zwei Jahre später gehörte sie zu den Mitorganisatorinnen des Freedom Ride nach Ferguson, der Black Lives Matter weltweit popularisierte. Nun veröffentlich die 39-jährige „Die Kraft des Handelns“
In Ihrem Buch schreiben Sie: „In Amerika sind schwarze Menschen Kriminelle, ob wir nun 8 oder 80 Jahre alt sind, ob wir Anzug und Krawatte tragen oder ob wir unsere Hosen herunterhängen lassen“ . Ist das nicht etwas sehr polemisch?
Nein, die gesamte schwarze Bevölkerung leidet darunter, wegen ihrer Hautfarbe kriminalisiert zu werden. Oft heißt es, dass Schwarze, die von der Polizei umgebracht werden, Ausnahmefälle sind, dass sie nicht die Regel darstellen. Wir halten die Verantwortlichen dann für vereinzelte Bösewichte. Dabei geht es um gezinkte Regeln, die seit langer Zeit gegen Minderheiten-Communities angewendet – und über soziale und kulturelle Praktiken normalisiert werden. Es ist dabei egal, ob du einen Uni-Abschluss hast, oder CEO einer Firma bist: Selbst Oprah Winfrey, eine der reichsten Frauen Amerikas hat schon racial profiling erlebt – also dass man ihr ihrer Hautfarbe wegen unterstellte, ein potentieller Ladendieb zu sein. Und der erste schwarze Präsident der Vereinigten Staaten musste sich wahlweise als Lügner, Terrorist, Muslim und Sozialist beschimpfen lassen.
Anders als die Führer der Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre sind Sie eher Kamera-scheu, wirken im Hintergrund und setzen auf eine dezentrale Organisation. Warum?
Viele Menschen hängen noch der Idee an, dass ein Retter wie Martin Luther King vom Himmel schwebt und unsere Probleme löst. Aber wir brauchen keine Promi-Aktivisten. Spätestens bei den Protesten in Ferguson 2014 (Redaktion: nach der Ermordung von Michael Brown durch einen weißen Polizisten) wurde deutlich, das sich viele nicht mehr von den alten Führern wie Jesse Jackson oder Al Sharpton vertreten fühlen. Deren Idee war immer: Wenn du nur beweist, dass du Respekt verdienst, dann bekommst du ihn auch. Aber wir haben gesehen, dass das nicht funktionert. Es ist uns egal, wie „würdig“ das Opfer von Polizeigewalt sich verhalten haben mag, ob man wie im Falle von George Floyd seine Vorstrafen in den Medien ausbreitet oder nicht. Jeder hat ein Recht auf Leben und menschenwürdige Behandlung, …
Was hat das millionenfach geteilte Video, in dem ein weißer Polizist acht Minuten lang auf dem Hals des um sein Leben flehenden Floyd kniete, für die Black Lives Matter Bewegung bedeutet?
Die weltweiten Massenproteste, die darauf folgten, sind ein Fortschritt: Noch vor vier Jahren wollte man auf dem Parteitag der Demokraten die Black Lives Matter Bewegung mit symbolischen Forderungen wie dem verpflichtenden Tragen von Kameras für Polizisten, abspeisen. Dieses Jahr konnte kein Redner mehr vor den Kernforderungen von BLM ausweichen. Sie sind inzwischen im kollektiven Gedächtnis verankert: Schwarze Menschen wollen nicht länger als Kriminelle, Monster und Tiere gesehen und behandelt werden.
Sie sind mit einem weißen jüdischen Stiefvater und einer schwarzen Mutter in Marin County, einem Mittelklasseviertel von San Francisco aufgewachsen. Wann haben Sie zum ersten mal erlebt, dass Ihre Hautfarbe Sie zur Zielscheibe macht?
Die Schule schrieb meine Eltern an, ich hätte angeblich auf der Schultoilette Marihuana geraucht. Ich hatte als damals 12-jährige noch nie an einem Joint gezogen. Aber ich war eine von sehr wenigen schwarzen Schülerinnen – und dann man wohl an, dass ich wegen meiner Hautfarbe auch zu bestimmten Verhaltensweisen neigen würde. Das hätte einen Schulausschluss oder gar Arrest nach sich ziehen können. Für schwarze Jugendliche ist das leider allzuoft Alltag. Wegen des Rassismus in unserer Gesellschaft können wir keine normale Kindheit genießen.
Haben solche Ausschluss-Erfahrungen dazu geführt, dass Sie BLM von Anfang an als inklusive Bewegung für Gruppen aller ethnischen Hintergründe und sexueller Orientierungen entwarfen?
Als eine queere schwarze Frau wollte ich natürlich Bewegungen aufbauen, die für Menschen wie mich offenstehen. Warum nur über schwarze Männer reden? Dann lassen wir bestimmte Gruppen zurück. Deshalb kämpfen wir gegen die ungleichen Lebensbedingungen für schwarze Frauen, queere Schwarze, Migranten…. Wir dürfen nicht das System kopieren, das wir bekämpfen, sondern müssen, um es zu transformieren, auch an unseren eigenen Vorurteilen arbeiten. Denn je breitangelegter eine Bewegung ist, umso mächtiger wird sie.
Sie schreiben, dass in den Bürgerrechtsbewegungen der Vergangenheit zwar schwarze Frauen das Gros der Basisarbeit leisteten, sich aber stets Männer an deren Spitze setzten. Ist es späte Gerechtigkeit, dass BLM von drei schwarzen Frauen aufgebaut wurde?
Mir gefällt die Idee, dass Bürgerrechts-Pionierinnen wie Fanny Lou Hamer, Ella Baker und Rosa Parks auf uns niederschauen und sagen: Danke, wurde auch Zeit. Heute wissen wir, dass Frauen aus der Geschichte unserer eigenen Freiheitskämpfe herausgeschrieben wurden. Wir wissen alles über Martin Luther King und Malcolm X, aber was wissen wir über Rosa Parks, Dianne Nash und Fanny Lou Hamer? Frauen fungierten in all diesen Bewegungen als Planerinnen, Organisatorinnen, Lehrerinnen, Konflikt-Mediatorinnen. Auf ihren Schultern ruhte die gesamte Infrastruktur.
Bekommen Sie aufgrund Ihrer Frauen- und LGBT-freundlichen Politik nicht auch Gegenwind – selbst aus den eigenen Reihen?
(Lacht) Natürlich gibt es Beschwerden, unsere Bewegung würde sich zu sehr um Frauen oder um queere Menschen kümmern. Wann gab es das schon mal in der Geschichte? Für mich ist solcher Widerstand ein guter Indikator, dass sich wirklich etwas ändert, dass Menschen, die von der Gesellschaft zurückgelassen wurden, im Mittelpunkt stehen dürfen. Das gilt im Übrigen auch für die Politik: Bei den Kongresswahlen vor zwei Jahren haben wir mehr schwarze Frauen gewählt als je zuvor, darunter die erste Muslima, die erste Native American-Angehörige und die erste Transfrau überhaupt. So viel Fortschritt geht natürlich immer mit einem gewaltigen backlash konservativer Kreise einher.
Sie bezeichnen Ihre Mutter und Madonna als Ihre größten weiblichen Vorbilder. Das ist angesichts von afroamerikanischen Aktivistinnen wie Assata Shakur, Kathleen Cleaver bis Angela Davis doch etwas überraschend….
Angela Davis ist eine Nachbarin und gute Freundin. Aber es war meine Mutter, die mir beibrachte, mich in einer sexistischen Männerwelt durchzusetzen. Und Madonna? Sie hat mir geholfen, mir vorzustellen, wie es wäre als Frau, ganz zu mir zu stehen. Madonna sprach offen über den Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche, sie prangerte Rassismus und Homophobie an und adressierte auch Themen wie Sex, Lust und Intimität. Ihre Videos auf MTV waren meine feministische Erziehung bevor ich überhaupt eine Sprache dafür hatte.
Sie treten gegen eine rechte Strömung in Amerika an, die seit Jahrzehnten schwarze, schwule oder immigrierte Menschen ausgrenzt. Dennoch wird BLM oft auf den Protest gegen Polizeigewalt reduziert….
Polizeigewalt aktiviert Menschen, weil sie so schockierende, tragische Bilder liefert. Aber sie ist nur die Spitze des Eisbergs, das Ergebnis von Jahrhunderten der gewalttätigen Unterwerfung und Ausgrenzung schwarzer Communities. Daraus folgt, dass unsere Leben nichts zählen, man uns ungestraft töten kann, niemand zur Veranwortung gezogen wird. Dafür gibt es leider viele Beispiele: Etwa Kenneth Harding, der in San Francisco am helllichten Tag von hinten erschossen wurde, weil er ohne Fahrkarte fuhr – die Polizei erfand nachträglich die Geschichte, er hätte eine Waffe getragen und es deshalb verdient. Oder die Ermordung von Mario Woods, der eine psychische Krise hatte und angeblich ein Messer mit sich führte. All das sind Symptome eines größeren Problems: Dem Fehlen von ausreichender Gesundheitsfürsorge, von Bildung, menschenwürdiger Arbeit und politischer Repräsentanz der schwarzen Community. Schwarze Menschen dürfen nicht mehr die Schuld für das Versagen der Politik zugechoben bekommen. Das ist, wie wenn man einen Armen dafür beschimpft, dass er keinen Job findet.
Ihre Bewegung hat mit einem Twitter Hashtag angefangen. Haben die sozialen Medien Ihrer Bewegung eher geholfen oder geschadet?
Die sozialen Medien sind Segen und Fluch zugleich. Das Problem ist, dass viele die digitale Bühne mit der tatsächlichen Organisation einer Bewegung verwechseln. Es gibt Politiker, die geglaubt haben, sie könnten eine Wahl aufgrund ihrer Millionen Twitter-Follower gewinnen – und dann krachend verloren haben. Wir sind nach der Ermordung von Michael Brown in Ferguson von Haustür zu Haustür gezogen, um die örtliche Bevölkerung zu mobilisieren. Nur über das persönliche Gespräch lassen sich aus Followern langfristig engagierte Aktivisten machen. Was ich dabei gelernt habe: Es ist fundamental für Bewegungen: Menschen von ihrer eigenen Macht zu überzeugen.
Die Rechte in Amerika hat seit der Reagan-Regierung ziemlich erfolgreich an einer kulturellen Hegemonie gearbeitet, die von den Kirchen bis zu den Waffenbesitzerverbänden reicht. Haben Sie sich in ihren Taktiken etwas von ihren Gegnern abgeschaut?
Ja, wir können von den Rechten lernen, Koalitionen zu bilden. Sie haben zwar verschiedene Fraktionen. Aber wenn es um die Macht geht, dann vergessen sie ihre Unterschiede. So war es auch mit Donald Trump. Zunächst haben ihn eine Menge Republikaner gemieden. Sie hielten ihn für einen Clown. Aber als sie erkannten, dass er eine politisch potente Anhängerschaft hat, waren sie bereit, seinen Sexismus und Rassismus zu übersehen. Wir sollten zwar nicht ähnlich unmoralisch handeln. Aber wir müssen die traditionelle Spaltung der Linken überwinden. Die Rechte etwa umwirbt erfolgreich all die Menschen, die sich verloren und verängstigt fühlen: Wir geben dir eine Heimat, sagen sie. Und: Wir wissen, was wir für dich tun können. Solange wir uns scheuen, diese Menschen zu adressieren, können wir Progressiven nicht gewinnen.
Haben Sie denn Verständnis für die Menschen die aus Frustration mit dem System nicht mehr wählen gehen?
Nein, Wählen ist eines der wichtigsten Werkzeuge, um etwas in diesem Land zu verändern. Viele linke Bewegungen hatten ein Problem damit, institutionelle Macht auszuüben. Donald Trump hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, in einer Position zu sein, aus der heraus man die Regeln machen kann. Denn: Alles was du auf dem Tisch stehen lässt, wird jemand anderes essen. Wählen heißt, Politikern die Konsequenzen zu zeigen, wenn sie dich enttäuschen. Sie müssen lernen, unsere Community genauso zu fürchten wie die Wirtschaftslobbyisten. Und wir müssen lernen, die Macht zu lieben. Deswegen bilden wir Anführer in unseren Communities aus, um sie in die Lage zu versetzen, in Städten und Staaten neue Gesetze zu schreiben, durchzusetzen und anzuwenden.
Seit 2017 arbeiten Sie vorwiegend an Ihrem neuen Projekt, dem Black Futures Lab. Um was geht es da?
Wir errichten eine Infrastruktur in den schwarzen Communities. Zum Beispiel hören wir uns um, was schwarze Menschen selbst wünschen und brauchen. Das Black Census Projekt ist seit 15 Jahren die größte derartige Umfrage unter Afroamerikanern. Wir haben etwa herausgefunden, dass 85 % der Befragten eine Anhebung des Mindestlohnes auf 15 Dollar befürworten. Ein weiteres Anliegen ist die Reduzierung der Polizeipräsenz an den Schulen, um diesen Automatismus, mit dem schwarze Jugendliche von der Schule ins Gefängnis wandern, zu unterbrechen. Außerdem versuchen wir mit der Black Agenda politische Bildung für alle zu fördern, damit mündige Wähler BLM-affine Kandidaten vom Stadtrat bis in den Kongress bringen.Mit gutem Willen allein lässt sich nichts ausrichten.
Sie wirken so fröhlich und entspannt. Schlägt Ihnen die ständige Beschäftigung mit Polizeigewalt und rassistischen motivierten Morden nicht irgendwann aufs Gemüt?
In den schwersten Zeiten meines Lebens war es der Zusammenhalt der Community, der mich getragen hat. In meinem Buch schreibe ich wie Trauer, Drama und Trauma dich vergiften können, wenn du dich nicht um dich selbst kümmert. Unsere gemeinsame Arbeit nenne ich: Hospizpflege, für das was stirbt. Und pränatale Pflege für das noch Ungeborene. Wir sehen dieses Embryo einer besserenWelt ansatzweise in BLM oder auch den weltweiten Bewegungen für Klimagerechtigkeit.
Interview: Jonathan Fischer
SZ 2.11.2020 in gekürzter Form
