Monatsarchiv: September 2017

Den Teufel von der Leiter stoßen – Der jamaikanische Produzent Lee „Scratch“ Perry ist einer der Pioniere des Reggae, Ska, Dub und Hip-Hop. Auch mit 81 Jahren tourt er noch und gibt formvollendet den verrücktesten Kerl der Popgeschichte. Eine Begegnung

Am Anfang steht eine Enttäuschung. Lee „Scratch“ Perry, der Mann, von dem Keith Richards behauptet, er sei ein Geheimnis und die Welt sein Instrument, ist keineswegs vor Banalitäten sicher. Zwar mag er behaupten, vor ungefähr 75 000 Jahren vom Planeten Sirius gekommen zu sein. Er mag mit seinen rot gefärbten Haaren, der mit Strasssteinen und Haile-Selassie-Porträts geschmückten Baseballkappe und seinem zu großen Jackett über der FC-Bayern-Trainingshose tatsächlich einigermaßen außerirdisch wirken (und dann sind da ja noch all die Geschichten, wie Perry Anfang der Achtzigerjahre Bananen anbetete, einen Felsen als sein Raumschiff ausgab oder wochenlang mit einem von Maden bevölkerten Stück Fleisches auf dem Kopf durch Kingston lief, angeblich um Dämonen zu vertreiben). Doch jetzt geht es nur um schlechten Leim! Als der drahtige Greis nach einem Auftritt im Münchner Club „Blitz“ auf den Boden seiner Garderobe zeigt, wo ein paar Spiegelscherben herumliegen – sie sind ihm von seinen Motorradstiefeln abgefallen – gibt es dafür keine metaphysische Erklärung, sondern nur ein kurzes Nicken in Richtung seines Sohnes und Road-Managers: „Besorg mir besseren Klebstoff!“

  Gabriel, Lee Perrys Sohn aus dessen später Ehe mit einer vermögenden Schweizer Ex-Domina, sammelt wortlos die Spiegelfragmente ein, legt seinem Vater einen Arm um die Schulter und lotst ihn fast zärtlich zu einer Foto-Session ein paar Gänge und Treppen weiter. Hier, im Lichtschirm des Fotografen spielt Perry routiniert den verrückten Kerl. Der gerade mal 1,50 Meter große Musiker schneidet Fratzen, formt mit seinen runzligen Fingern Brillen und fordert vom Fotografen, gefälligst auch seine nicht mehr ganz vollständigen Schuh-Kunstwerke abzulichten.

  Aber eigentlich ist er kein Verrückter. Er ist eher der Verrücker. Ein „Upsetter“, der in den vergangenen fünf Jahrzehnten einige Musik-Maßstäbe verschoben hat. Zuerst erfand er den Reggae, dann lernten Bob Marley und seine Wailers bei ihm, und in seinem legendären Black Ark Studio in Kingston nahm er dank Samples und geschichteten Tonspuren die Produktionstechnik des modernen Pop vorweg. Den verrückten Typen spiele er nur, so wird er später erklären, um sich lästige Menschen vom Hals zu halten.

  Ob er jetzt bereit sei für ein paar Fragen? Immerhin hat er gerade ein neues Album, „Super Ape Returns To Conquer“, mit dem er noch mal an vorderster Front des Pop mitmischen will. „Der Bär wartet auf den fliegenden Fisch, wartet, dass er aus dem Meer springt“, menetekelt der alte Mann. Im Original genuschelt klingt das allerdings noch besser: „The bear goes upstairs and the bear swear and take some beer … sure to catch the fish, while it flies to the ear.“ Ein Interview mit Lee Perry gleicht dem Versuch, Wasser mit einem Sieb einzufangen. Immerhin hat er diesmal kein Geld verlangt. Heute lässt er sich sogar bereitwillig auf einen Stuhl bitten und ein Mikrofon vor die Nase halten: „Lass uns reden, no problem.“ Sofern man seine Monologe als Reden bezeichnen kann.

  Fast alle seine Antworten sind gereimt. Und wenn sich auch keine vordergründige Logik erschließt, dann wimmeln sie doch vor Anspielungen: „Gott gab mir Tierkraft und Pflanzenkraft, er gab mir Kraft, zu atmen und zu hören.“ Dann bläst er in ein kleines Plastik-Saxofon, das neben zahlreichen Amuletten um seinen sehnigen Hals baumelt.

  Gerade ist der 81-jährige Reggae-Pionier noch zwei Stunden lang auf der Stelle gehüpft, und hat sein Publikum mit irren Reimen in eine Welt entführt, wo Tiere sprechen, Teufel tanzen und die Gerechten durch einen babylonischen Sündenpfuhl waten. Toasting heißt in Jamaika diese Art von Sprechgesang. Perry hat diese Frühform des Rap bereits Anfang der Siebzigerjahre populär gemacht. Genau wie die verwaschenen Echos und das gesampelte Kuh-Muhen. Diese Musik ist nicht für den Frontallappen gemacht, sondern für das Stammhirn. Die tiefen Frequenzen aus dem Laptop von Perrys Schüler und DJ Mad Professor bringen Hirne und Hosenbeine zum Flattern, fluten das Rückenmark, lindern jeden Schmerz. Dub bedeutet: Vokalspuren, die beliebig ein- und ausgefädelt werden, enorme Halleffekte und durch den Raum stakende Bassmonster. Perry war einer der Ersten, die Songs in ihre Einzelteile zerlegten, ausweideten, mit Samples anreicherten und wieder neu zusammensetzten. Heute gilt all dies als Basis des Hip-Hop, der elektronischen Musik und fast jeder modernen Pop-Produktion. Damals aber hatte der jamaikanische Produzent vor allem eines im Sinn: spirituelle Potenz. Medizin. Einen Tunnel zu bauen in die ferneren Bereiche des Bewusstseins.

  „Ich habe eine heilige Musik geschaffen“, erklärt der Mann und streicht sich durch seinen hennarot gefärbten Bart. Und ja, er halte sich für ein göttliches Gefäß. Sein Auftrag: Frieden und positive Schwingungen verbreiten – und „den Teufel von der Leiter stoßen“. Vieles, was Perry sagt, hat seine Wurzeln im Rasta-Glauben, einer von ehemaligen Sklaven gegründeten christlichen Sekte, die sich auf Afrika, das rituelle Rauchen von Ganja und den angeblich von der Bibel prophezeiten äthiopischen Kaiser Haile Selassie beruft. „Mein Geheimnis? Ich bin kein menschliches Wesen, sondern ein Moskito, und manchmal auch ein Fisch. Mein Metier sind Wasser-Wissenschaft, Wasser-Erziehung, Wasser- Erscheinungen.“ Meckerndes Gelächter. Warum sollte einer, dessen Songs sich auf die unfassbare Geschichte von Millionen Sklaven beziehen, diese nicht mit ebenso unfassbaren Bildern einfangen?

  Sicher ist auf jeden Fall, dass Rainford Hugh Perry am 20. März 1936 in der Gegend von Kendal, Jamaika, zur Welt kam. Seine Mutter arbeitete auf einer Zuckerrohrfarm, sein Vater als Straßenarbeiter. Mit 20 Jahren verlässt er sein Dorf in Richtung Kingston, wo er im legendären Studio One einen Job als Bote annimmt. Dass Perry auch ein begnadeter Songwriter ist, beweist er erstmals 1965 mit der Tanznummer „Chicken Scratch“. Damit hat er seinen Spitznamen weg, wird aber, wie alle anderen auch, um sein Geld betrogen. So verlässt er 1966 das Studio im Streit und nennt sich fortan „Upsetter“. Drei Jahre später veröffentlicht er „People Funny Boy“. Der Song gilt mit seinem verlangsamten Tempo nicht nur als erste Reggae-Nummer, er sampelt auch Babygeschrei – und weist damit bereits in Richtung der surreale Klangcollage. Im selben Jahr kommt schließlich auch ein frustrierter junger Sänger auf der Suche nach dem ersten Hit in Perrys Studio: Bob Marley, der gerade aus einer Autofabrik in Delaware nach Jamaika zurückgekehrt ist. Perry erfindet Marleys Musik noch einmal neu, indem er ihn, Peter Tosh und Bunny Wailer die Mysterien des Rasta-Glaubens lehrt und ihre Gesänge zum Gegenpol seines dreckigen, aufmüpfigen Sounds macht.

  Zwei großartige Alben – Marleys beste – entstehen aus dieser Zusammenarbeit, mit Songs wie „Small Axe“, „Sun Is Shining“, „Soul Rebel“ oder „Duppy Conqueror“. Finanziell fühlen sich Marley und die Wailers von Perry aber übers Ohr gehauen. Dennoch suchen sie bei ihm auch nach der Trennung immer wieder spirituellen Rat: „Perry war der Einzige, den Bob in jeder Hinsicht respektierte“, sagt sein späterer Produzent Chris Blackwell. Während Blackwell viele der Perry-Nummern für den Mainstream begradigt und Bob Marley zum Superstar heranzieht, konzentriert sich Perry auf sein Kerngeschäft: die Produktion von Dub-Versionen. Was macht es schon, dass er Musik weder schreiben noch lesen kann? Er komponiert am Mischpult, splittet die Rhythmen auf, schichtet auf vier Spuren Musik, die andere nicht mal mit 32 Spuren hinbekommen.

  1973 baut er sich in seinem Hinterhof in Kingston sein eigenes Laboratorium, das Black Ark Studio. Hier destilliert er einen ganz neuen Sound. Psychedelischen Reggae. Warme Melodien mit paranoider Kante. Perry kifft, trinkt, sitzt Tag und Nacht über seinen Bandmaschinen und holt eigenen Angaben nach „Klänge aus dem eigenen Körper“. Paul McCartney, Robert Palmer und Gregory Isaacs pilgern in Perrys Hinterhof. Warum er während einer Depression 1978 das Studio mitsamt dem Inventar abfackelt, bleibt bis heute sein Geheimnis. Und doch ist genug Großartiges geblieben: Alben mit den Heptones und den Congos, Max Romeos „War Ina Babylon“ oder Junior Murvins „Police And Thieves“, Rasta-Protest-Hymnen, die The Clash veranlassen, mit Lee Perry ins Studio zu gehen, und die noch Jahrzehnte später die Beastie Boys zu ihrem Meisterwerk „Hello Nasty“ inspirieren.

  „Super Ape Returns To Conquer“ gibt nun mit seinen drückenden Bässen, harten Hip-Hop-Beats und Ethio-Jazz-Bläsern der typischen düsteren Voodoo-Brühe des Meisters eine ganz neue Dringlichkeit. Allein die Neufassungen von „Chase The Devil“ und „War Ina Babylon“ sind eine Offenbarung. Der alte Mann ließ es sich dabei nicht nehmen, die Geräusche von Scheren, brennendem Papier und einem berstenden Glaskelch in den Mix zu rühren.

JONATHAN FISCHER

SZ vom 29.9.2017hh03

Ein Herz zu groß für diese Welt – der Soulsänger Charles Bradley ist mit 68 Jahren gestorben

Wenn Charles Bradley die Bühne betrat, konnte einem Angst und bange werden. Reicht seine soulpower, das Kraftwerk seiner Stimme, um sich noch einmal empor zu pressen, zu schreien, die Finsternis zu vertreiben? Nein, dieser Soulveteran hatte keine Routine drauf, wie sein großes Vorbild James Brown, seine Gesten schienen der Verletzlichkeit seines Gesangs hinterherzuhinken, während sein Gesichtsausdruck stets mit einem Ausdruck zwischen Verzweiflung und schmerzhafter Ekstase kämpfte. Denn Charles Bradley, ein aus Brooklyn stammender Soulmann, sang über sein eigenes Schicksal – und für all jene, die wie er nach Anerkennung und Liebe suchten. Und er blieb so lange oben bis er das Gefühl hatte, alle, ja wirklich alle im Publikum umarmt zu haben. Zumindest metaphorisch. „Wir sind bessere Menschen“, predigte er, „imagesals wir glauben“. Anschließend konnte es passieren, dass er im Interview weinte. Tragödie, das klingt angesichts von Charley Bradleys Lebens wie ein Euphemismus. Erst mit 62 Jahren konnte er sein Debut-Album „No Time For Dreaming“ veröffentlichen – gefolgt von den Klassikern „Victim of Love“, und „Changes“. Davor hatte er als jugendlicher Ausreißer lange auf der Straße gelebt, in U-Bahn-Waggons geschlafen und sich später mit Hilfsjobs als Koch über Wasser gehalten. Nebenbei trat er als James-Brown-Imitator auf. Ohne Erfolg. Bis ihn eines Tages Gabriel Roth, Chef des Daptone-Labels, in einer New Yorker Bar singen hörte. Er spannte ihn mit einer Band junger weißer Hipster zusammen, ermutigte ihn, die Tiefschläge seines Lebens – zuletzt die Ermordung seines älteren Bruders, und das Ableben der von ihm gepflegten Mutter – in Songs zu gießen. Souldramen, die Bradley in die Nachfolge von 60er Jahre Giganten wie Otis Redding und O.V. Wright stellen. Am Samstag ist der „Screaming Eagle of Soul“ an den Folgen eines Magenkrebses verstorben. Charles Bradley wurde 68 Jahre alt. „Sein Herz“, twitterten seine Musikerkollegen Antibalas, „war zu groß für diese Welt“.

Im Silo: In Kapstadt eröffnet das Museum of Contemporary Art Africa (MOCAA), das erste Museum für zeitgenössische Kunst des Kontinents. Das Gebäude ist spektakulär – und wird vor allem die Privatkollektion des Mäzens Jochen Zeitz zeigen


Für Menschen wie Jochen Zeitz gibt es im Englischen ein Wort: Game Changer. Was der 54-jährige Deutsche anfasst, muss eine neue Richtung nehmen, sich in Dimension und Erfolg von allem Vorangegangenen unterscheiden. „Ich habe meine Glaubwürdigkeit, was Afrika betrifft“, sagt er. „Punkt.“ Aufgeknöpftes Hemd, Turnschuhe, verwuschelte Frisur, der ehemalige Puma-Chef empfängt den Interviewer ziemlich leger. Als ob er lieber auf seiner Öko-Farm in Kenia geblieben wäre, als in einer Sitzecke eines gewaltigen Beton-Glas-Tempels namens Zeitz MOCAA über Kunst zu reden. Zeitz MOCAA, das steht für Zeitz Museum of Contemporary Art Africa.

Es soll nicht nur das weltweit größte Museum für zeitgenössische afrikanische Kunst werden. Sondern auch die persönliche Mission des Wirtschaftsbosses, Philanthropen und Kunstmäzen Zeitz fortschreiben. Mit 30 Jahren war er der jüngste Vorstandsvorsitzende eines börsennotierten deutschen Unternehmens. Als er im Jahr 2011 namhafte Künstler aus Afrika Trikots für afrikanische Fußballnationalmannschaften entwerfen ließ, da war er schon ein paar Jahre als Kunstsammler dabei, mit Hilfe des südafrikanischen Kurators Marc Coetzee. Aufsehen erregte Zeitz erstmals, als er 2013 auf der Venedig-Biennale ganze 85 Arbeiten afrikanischer Künstler ankaufte, darunter die gesamte Fotoausstellung des Angolaners Edson Chagas. Er sammle, sagt er, nicht enzyklopädisch. „Ich will das Werk bestimmter Künstler in die Tiefe ausleuchten“: Dazu gehören die Kuhhaut-Installationen von Nandipha Mntambo aus Swasiland, Kehinde Wileys heroische Porträts schwarzer Slumkinder, oder auch die fantastischen Brillenskulpturen des Kenianers Cyrus Kabiru. Zeitz hat auch Werke etablierter Diaspora-Künstler wie Chris Ofili, Isaac Julien oder Wangechi Mutu akquiriert. Statt traditioneller Masken oder Kultgegenstände turg er die Werke einer jungen Avantgarde zusammen. Kunst also, die den Eurozentrismus der Kunstwelt infrage stellt. Und die nun, ausgestellt im MOCAA, endlich aus ihrer Nischenexistenz in europäischen Museen und Sammler-Depots befreit werden soll.

„Fotografieren streng verboten“. Das bekommen die aus aller Welt angereisten Journalisten nach dem Passieren der Museumstür mit auf den Weg gegeben. Wenn das MOCAA am 22. September eröffnet, soll das in einem perfekt konzertierten Medienecho nachhallen. Andererseits fällt es den Besuchern sichtbar schwer, das Foto-handy in der Tasche zu lassen. Nicht wegen der Kunst – die lagert zum Großteil noch im Depot. Sondern wegen ihres nicht minder sensationellen Behältnisses. Rostige Öffnungen von Schütteinrichtungen, verwitterte Rauchverbotstafeln und unpolierter Beton: Das Innere des MOCAA strahlt rohe Industrie-Romantik aus. Ein Team um den britischen Architekten Thomas Heatherwick hat das Getreidesilo entkernt und zu einer fast sakral wirkenden Betonkathedrale umgemodelt.

Befreit von dicken Farbschichten leuchtet nun der gelbliche Beton. Die Röhrenstruktur blieb erhalten. Lediglich die vier obersten Ebenen des Förderturms wurden umgebaut – zu einem Luxushotel. Eine Win-win-Situation, heißt es. Nicht nur finanzieren die hohen Quadratmeterpreise des Hotels langfristig das Museum. Mit seinen fünf Meter hohen, nach außen gebeulten Facettenscheiben, die abends wie Drahtlaternen über die Waterfront leuchten, wirkt das Hotel wie eine Reklametafel für die darunterliegende Kunstsammlung.

Den Anspruch des MOCAA, in einer Liga mit dem Guggenheim Museum in New York, dem Centre Pompidou in Paris oder der Tate Modern in London zu spielen, müssen die Kuratoren noch erfüllen, architektonisch aber ist es bereits jetzt ein Triumph. Über hundert White Boxes wurden in den Beton eingepasst. In der Hälfte der über 6000 Quadratmeter Galerienfläche soll die permanente Sammlung gezeigt werden, in der anderen temporäre Ausstellungen. Zusätzlich wird es Räume für Videokunst und afrikanischen Film geben, ein Zentrum für Fotografie, eine Abteilung für Mode und Kostümkunst und auch ein pädagogisches Zentrum für Schulklassen. Herzstück des Museums aber bleibt das gewaltige 33 Meter hohe Atrium, ein Raum, den Heatherwick nach der Form eines Maiskorns aushöhlen ließ. Nur durch das Glasdach fällt Licht in das sonst fensterlose Gebäude, Strahlenbündel, die dessen Rundungen nochmals betonen. Da schauen selbst die Investoren von der V & A Waterfront mit den Journalisten ehrfürchtig nach oben.

„Kunst kann Gedanken verändern, auch in puncto sozialer Verantwortung“, sagt Jochen Zeitz, der allerdings über die Anzahl der von ihm beigesteuerten Kunstwerke – es sollen über tausend sein – keine Auskunft geben will. Ebenso wenig über den Wert der eigenen Sammlung. Ohne Zeitz und seine Kollektion zeitgenössischer afrikanischer Kunst gäbe es hier wohl schlichtweg kaum etwas zu sehen. Das fünfköpfige Ankaufskomitee beteuert zwar, bald einen museumseigenen Grundstock aufzubauen. Trotzdem steht und fällt hier alles mit einer Privatkollektion. Das provoziert auch Widerspruch. So bemängelt der Kunstkritiker Matthew Blackman auf der Kunstplattform Artthrob, dass die Ankaufsentscheidungen von nur zwei Personen getroffen würden. Schlimmer noch: Das MOCAA werde von einem weißen Briten gebaut, von einem weißen Deutschen bestückt und einem weißen Südafrikaner kuratiert – das berühre gerade in Südafrika alte Apartheids-Wunden. Zeitz streitet die Vorwürfe als „lächerlich“ ab. Coetzee entscheide nicht alleine. Man habe Kuratoren aus ganz Afrika geholt, um so panafrikanisch zu arbeiten. Vor allem aber bietet das Museum erstmals überhaupt die Möglichkeit, afrikanische Kunst in großem Umfang auch in Afrika auszustellen.

„Marc Coetzee und mir ging es von Anfang an um eine Museumssammlung“, sagt der Mäzen, „afrikanische Künstler sollen ihre Werke verkaufen können, und das Museum verschafft ihnen einen Zugang zum Markt.“ Marc Coetzee, ein jovialer Typ mit Bauchansatz, springt ihm zur Seite: „Wegen der Apartheid waren Kunst und Kunstgeschichte nicht für alle in diesem Land zugänglich. Nun geht es um die Frage: Wer wird in Zukunft die Geschichte der kulturellen Produktion dieses Kontinents definieren?“ Deshalb werde man aktuelle afrikanische Kunst – die ja, als Kunst eines ganzen Kontinents, ohnehin keine homogene Erscheinung sei – in einer Vielzahl von durchaus auch widersprüchlichen Positionen zeigen. „Immer noch verlassen einige der wichtigsten Kunstwerke den Kontinent. Wir wollen sie in Zukunft in Afrika behalten.“

Tatsächlich mag die Aufmerksamkeit, die afrikanische Kunst in letzter Zeit dank afrikanischstämmiger Kuratoren wie Okwui Enwezor im Westen genießt, vergessen machen, welche Randexistenz sie bis vor Kurzem führte. „Der Anteil afrikanischer Künstler am internationalen Kunstmarkt“, resümiert Max Hollein, der Direktor des Fine Arts Museum in San Francisco in einem Essay, „ist mit derzeit 0,01 Prozent praktisch inexistent“. Auf den großen Auktionen zeitgenössischer Kunst sehe man nur eine Handvoll etablierter Stars aus Afrika wie El Anatsui aus Ghana oder den in London geborenen Nigerianer Yinka Shonibare.

Auch dieser Verzerrung soll das MOCAA nun entgegentreten. Mit ganzen Werkserien von Künstlern wie Kundzanai Chiurai. Der Exil-Simbabwer entlarvt auf satirischen Tafelbildern nicht nur afrikanische Männlichkeits-Stereotype. Er karikiert auch Politiker wie den simbabwischen Präsidenten Robert Mugabe. Ähnlich kritisch aufgeladen ist etwa Kendell Geers Installation von der Decke pendelnder Ziegel. Schwarze Township-Jugendliche hatten die Steine während der Apartheid aus Protest von Autobahnbrücken hängen lassen – wer erwischt wurde, musste mit der Todesstrafe rechnen. Nach Hunderten von Jahren, in denen der schwarze Körper in der Kunst unsichtbar blieb, erscheint selbst das Sinnliche politisch: etwa ein ganzer Raum mit Hunderten weißer Perlendeckchen. Keines hat exakt dieselbe Farbe. Manche Perlen sind gelblich getönt, andere fast farblos. Die Künstlerin Liza Lou hatte in Durban ein Kollektiv schwarzer Frauen für die Stickerei angestellt – mit Perlen, die sich je nach dem Ölfilm auf ihrer Haut verfärben.

Vielleicht ist die Rückkehr der Materialität auch der wichtigste Beitrag afrikanischer Kunst zum aktuellen Diskurs. Und die Sichtbarmachung des menschlichen Faktors. „Wir entdecken gerade nicht die afrikanische Kunst, sondern unsere Ignoranz“, hatte Marc Coetzee gesagt. Nandipha Mntambo würde diesen Satz am liebsten über das Museum hängen. „Hier können wir endlich unsere Geschichte selbst schreiben“, sagt die großgewachsene einstige Biologiestudentin aus Swasiland und lässt mit resolutem Nicken ihre Kreolen klimpern – als ob sie einen bösen Traum abschütteln müsse. „Die Lehrer an der Kunstschule drängten mich einst zur Holzschnitzerei oder Keramik – weil das angeblich meinem ethnischen Hintergrund entspricht.“ Dann habe sie den Traum mit den Kuhhäuten gehabt. „Jedes Volk der Welt hat eine Verbindung zur Kuh“, sagt sie. Kritiker sollten ihre Kunstharz-verstärkten Skulpturen folglich nicht als Derivat einer Stammeskunst sehen. Sondern als globale Metapher für die Verbindung zwischen Frau und Tier.

„Erst seit ein paar Jahren hört man uns afrikanischen Künstlern zu, ist man gewillt, von uns zu lernen“, sagt Nandipha Mntambo, die es am meisten freut, dass jetzt endlich auch ganz normale Südafrikaner – jeden Mittwochvormittag haben sie freien Eintritt – ihre Installationen sehen können. „Wir Afrikaner haben so lange darauf gewartet, in einem Museum Bilder zu sehen, die für uns sprechen. Was kann Kunst schon Besseres schenken als Empathie für die eigene Geschichte?“

JONATHAN FISCHER
SZ 2.9.2017