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„Im Boxring stehst du nackt da – mit all deinen Ängsten“

Früher war er ein Schläger – dann entdeckte Burak Bozkurt das Boxen. Heute bringt er Jugendlichen bei wie man seine Fäuste nutzt und trotzdem ein gewaltfreies Lebe

Vor dem Eingang seines Kellerstudios hat Burak Flyer ausgelegt: Darauf ein selbstgemalter Bär, rote Augen, furchterregendes Zähnefletschen – als Warnschild vor Tollwut wäre das gelungen. Aber lockt man so Kinder zum Boxen? „Wir sind ja hier nicht beim Edeka an der Kasse“, sagt Burak. „In diesem Sport musst du auch mal über dich hinauswachsen, das wilde Tier in dir wecken. Unsere Kids feiern den Bären krass.“

Burak hat seine eigene Philosophie: Vielleicht sei er einfach im falschen Zeitalter geboren. Einem Zeitalter, in dem Raubtiere, Ritter und Schwertkämpfer nicht mehr das Maß aller Dinge sind. Man sieht dem 32-Jährigen in Jeans und Kapuzenpulli an, dass er viel mit seinen Fäusten gearbeitet hat. Muskulöse Schultern, gedrungener Gang. Im Gesicht über dem ordentlich ausrasierten Kinnbart aber flackert etwas Jungenhaftes. Schau mich an, sagen die Augen. Offen, aber bereit zur Konfrontation. Auf der Straße ein Muss.

„Der Kaffee ist gleich fertig.“ Burak hantiert an den Hebeln der Espressomaschine. Sie steht im Umkleideraum seines Box-Studios in München-Neuhausen. Im Hinterhof zwischen Dentallabor und Tattoo-Studio ein kleines Klingelschild: BB Boxing. BB wie Burak Bozkurt.

Burak war ein „Systemsprenger“, also ein Jugendlicher, der sich Schule, Ausbildung und den meisten Regeln der Gesellschaft verweigerte. Heute ist er ein Beispiel dafür, wie gerade das Boxen solche Menschen wieder eingliedern kann: Aggression mit strengen Regeln auszubalancieren, auch als Verlierer Respekt zu bekommen – diese Erfahrung wirkt oft Wunder.

Sein Studio ist ein langer Schlauch mit Lüftungsschlitzen. Zumindest ein Boxring passt rein. Daneben zwei Sandsäcke und Platz für ein paar Matten. In solchen Kellern haben schon viele klassische Boxkarrieren angefangen. Für Burak war es der Beginn eines bürgerlichen Lebens. Obwohl er das bestimmt nicht so sagen würde. „Jetzt predige ich das meinen Kids: Macht nicht die gleichen Fehler wie ich. Straße bringt nichts!“ Und wer könnte das glaubwürdiger erklären als einer, der von sich sagt, er habe früher „jeden Vorwand genutzt, um der Krasseste zu sein“.

Ohne die Boxhandschuhe, sagt Burak, säße er heute wahrscheinlich im Gefängnis

Burak zeigt auf einen glitzernden Wimpel über der Tür. Bism Allāh al-Raḥmān al-Raḥīm zu Deutsch: Im Namen Allahas, des Barmherzigen, des Allerbarmers. Die islamische Gebetsformel. „Das habe ich von meiner Oma geerbt“, sagt Burak. „Schade, dass viele da immer nur an den radikalen Islam denken. Dabei ist das für die guten Vibes.“ Für die guten Vibes hat Burak außerdem noch aufgehängt: ein Bild von Joe Frazier, eines von Muhammad Ali, eine türkische Flagge und ein Auge gegen den bösen Blick. Alles, was ihm heilig ist. Denn das Studio ist mehr als ein Ort sportlicher Ertüchtigung. „Hier stecken so viel Verletzung und Wut drin, so viel ‚Ich werde mich ändern‘ und dazu noch all meine Ersparnisse.“ Wenn Burak von seinen Gefühlen redet, dann gerne in Superlativen. Alles endkrass, endgeil oder echt gefickt. Das kann Zuhörer zum Lachen bringen. Soll es auch. „Reden ist Gold“, sagt Burak. Aber man merkt, dass das Verbalisieren von Gefühlen noch eine neue Disziplin für ihn ist. Lange glaubte er, die Fäuste könnten am besten sprechen. Ein guter Schlag – und aus die Diskussion.

Ohne die Boxhandschuhe, sagt Burak, säße er heute wahrscheinlich im Gefängnis. Tatsächlich steuerte er die längste Zeit seines Lebens geradezu auf eine Kriminellenkarriere zu. Schlägereien seit seiner Schulzeit. Drei Rausschmisse. Drei Schulwechsel. Der Vater hatte die Familie verlassen, als Burak sechs Jahre alt war. Einmal tauchte er noch auf, um den 13-Jährigen zu motivieren, doch seinen Hauptschulabschluss zu machen. „Aber da war es schon zu spät. Ich ließ mir von niemandem etwas sagen. Erst recht nicht von ihm.“ Buraks Mutter kümmerte sich um seine Versorgung. Die Erziehung aber erhielt er auf der Straße.

„Als Kleiner musstest du dich den Älteren unterordnen. Bei uns Türken heißen sie respektvoll Abi, Onkel. Hast du den Mund zu voll genommen, hast du von einem Abi eine Schelle bekommen.“ Was bei dieser Erziehung komplett fehlte: Trost, Mitgefühl, in den Arm genommen werden. Das Wertesystem auf der Straße bezog sich eher auf Testosteron: „Am wichtigsten war da: Wer ist stärker? Habt ihr gesehen, wie der ihn geschlagen hat? Wow, hat der eine rechte Hand! Das war unsere Währung. Danach wurdest du beurteilt.“ Kein Wunder, dass Burak sieben Jahre für seine Schlosserlehre brauchte. Ein Rausschmiss nach dem anderen. Und immer wieder zurück auf Los.

Was er im jungen Alter für richtig gehalten habe, sagt Burak, sei genau das Gegenteil davon. Meistens. Denn so ein paar Glaubenssätze seiner Hooligan-Zeit bekomme er noch immer nicht ganz raus: „Ehre und Stärke“ etwa. Das hat er auf die Wand hinter dem Boxring gepinselt. Etwas kleiner darunter: „Respekt“. Ist das eine Rangordnung? Burak windet sich. Das mit der Ehre heiße doch nur, sich nicht unterkriegen zu lassen. Nicht vom Gegner. Und nicht von den Herausforderungen des Lebens. „Kennst du dieses Gefühl, wenn du richtig unter Druck stehst?“ Früher hatte Burak es schon, wenn ihn jemand falsch ansah. Heute wenn er an seine Geschäftsbücher denkt. Gut, er hat den Kredit für die Einrichtung des Studios fast zurückgezahlt. Auch über Mitgliedermangel – in nur einem halben Jahr hat er schon hundert Schüler gewonnen – kann er sich nicht beschweren. Aber dann gab es letztes Wochenende einen Rohrbruch, er hat einen Teil der Decke neu verputzen müssen, schon kommt die Panik zurück: „Dann habe ich Angst. Dass es mich wieder aus der Bahn wirft.“

Die „Kampfmäuse“ haben bei ihm im Studio eine Wand bemalt – mit Herzchen

Aber dafür hat er ja das Boxen. Und seine zwei Kinder. Die Verantwortung für den achtjährigen Jungen und das siebenjährige Mädchen, sagt Burak, hätte ihn schon oft von dummen Ideen zurückgehalten, beide trainieren bei ihm. Zusammen mit rund 20 weiteren „Kampfmäusen“ – so nennt Burak die Jüngsten in seinem Studio – haben sie hier eine Wand bemalt. Gleich neben dem „Ehre und Stärke“-Graffiti: bunte Kritzeleien. Herzchen, Handabdrücke. Fly like a butterfly, sting like a bee. Hier regiert das Schmunzel-Krokodil.

Einen Tag später in der Turnhalle des TSV 1860 München. „Los, runter mit dir, ein paar Liegestützen schaffst du noch.“ Burak trainiert drei Dutzend schwitzender, sich am Boden windender Boxschüler. Drillt sie. Lässt keine Ausreden gelten. „Die mögen das so, glaub es mir.“ Dabei strahlt der Trainer durchaus etwas Fürsorgliches aus. Er trennt ungleiche Paare. Und gibt auch den Schwächsten das Gefühl, gesehen zu werden. „Die Arme höher, sonst erwischt dich dein Gegner mit dem Haken.“ Einst hat Burak für den Münchner Verein Amateurkämpfe absolviert. Nun leitet er dort – zusammen mit seiner Boxerkollegin Saskia – das Kindertraining. Disziplin, sagt er, sei das Wichtigste. Sich bloß nichts schenken. Dann könne man nachher auf sich stolz sein. Nach dem Training wollen alle noch mit ihm reden. War ich gut? Habe ich das richtig gemacht? Viele der Jungs sehen in Burak eine Vaterfigur. Nein, ein zähnefletschender Bär ist das nicht.

Als er bei „Sechzig“ unter Chefcoach Ali Cukur trainierte, sagt Burak, habe er zum ersten Mal gemerkt, was in ihm steckt. Nicht als Kämpfer, sondern als Mensch. Es war ein glücklicher Zufall, dass eine Kamera lief, als Burak einen seiner Durchbrüche erlebte. Die Szene gehört zu den bewegendsten Momenten von Antje Drinnenbergs Dokumentarfilm „Lionhearted“: Im Rahmen eines Box-Trainingscamps in Accra, Ghana, konfrontiert Ali Cukur seinen großmäulig daherkommenden Schützling: „Jetzt reiß dich mal zsamm. Du schwingst hier große Reden, reißt deine Klappe auf. Aber du bist hier nur der Lehrling. Vielleicht hörst du lieber mal den anderen zu… “ In dem Moment fällt Buraks Kopf auf seinen tätowierten Oberkörper, man sieht Tränen in den Augen schimmern.

Burak ist das immer noch peinlich. Er meint die Kritik. Er habe sich vorher von niemandem etwas sagen lassen – aber Ali ließ sich von Buraks Fassade nicht beeindrucken. Als Mensch schätze er ihn, sagte der Trainer. Aber sein Verhalten müsse er ändern. „Er war der Erste, gegen den ich mich nicht gewehrt habe. Nach Alis Ansprache zitterten mir die Knie. Und ich dachte tagelang über seine Worte nach.“ Im Ring mit Ali habe er sich nicht mehr verstecken können. Der Trainer sehe alles: Was ist fake, was ist echt. Wo spielst du dich nur auf. Wo hast du echte Stärken. „Bei Ali dachte ich: Der weiß, was ich durchmache. Der durchschaut mich. Das hat mich ruhig gemacht.“

Vor dem Boxen, sagt Burak, habe sich alles um seinen Ruf als Schläger gedreht: Andere sollten Angst vor ihm haben. In „Lionhearted“ erzählt er davon. Dieser Lust an der Aggression: „Erst wenn ich Blut gesehen habe, hat es angefangen, mir richtig Spaß zu machen.“ Im Box-Training habe er lange mit sich ringen müssen. Oft wollte er nicht auf den Trainer hören, stellte lieber den Macker aus. Sein Ego-Problem nennt es Burak. Aber gewinnen könne man so nicht. Nicht im Ring. „Beim Boxen musst du dich festen Regeln unterordnen. Du darfst erst kämpfen, wenn der Gong ertönt. Und auch wenn du gerade deinen Schlag ausführst – sobald der Gong wieder ertönt, bremst du ab.“ Das habe ihn so weit gebracht, dass er auch bei Gefahrensituationen auf der Straße Stopp sagen konnte. Obwohl: Ein wenig nagte es schon an ihm. „Ist es nicht feige, einfach wegzugehen? Aber dann habe ich mir gesagt: Diese Person kann mich gerne im Ring herausfordern.“

Burak ist kein Einzelfall. Im Anti-Gewalt-Training spielt das Boxen eine herausragende Rolle. Für den Laien mag es paradox klingen, wenn Richter Gewalttäter ausgerechnet zum Training im Faustkampf verdonnern. Lernen die da nicht, noch besser zu schlägern? Ihre Gewalt technisch zu verfeinern? Um später noch mehr Schaden anzurichten? In der Realität hat das Boxen viele Jugendliche gerettet. Ali Cukur hat es oft erlebt: Dass Jugendliche als Straßenschläger zu ihm kamen und dann nicht nur die Gewalt ablegten. Sondern auch ihre Schule, ihre Lehre schafften. „Im Boxring stehst du nackt da – mit all deinen Ängsten. Wenn du hier etwas erreichst, dann wächst dein Selbstbewusstsein. Weil du dich gezeigt hast.“ Da gebe es die vorlauten Typen wie Burak. Die müsse man runterholen. Aber auch Schüchterne, die sich stets auf der Verliererseite wähnten, könnten mit Boxen nachhaltiges Selbstvertrauen gewinnen. „Ein Lob vom Trainer bedeutet vielen Jugendlichen alles – besonders denen, die sonst nur Ärger und Ablehnung kennen.“

„In Ghana wurde mir klar: Wir haben hier alle Chancen. Alles andere ist nur Gequatsche“

Hat er sich heute hundert Prozent im Griff? Nein, sagt Burak, das wäre eine Lüge. Aber er wisse, was er mit sich selbst ausmachen müsse. Er kommt dann noch mal auf Ghana zu sprechen. Was er von dort mitgenommen habe. Im Film „Lionhearted“ sieht man die Boxer durch Müllhalden und Slums zu ihrem Trainingsgelände gehen. Burak hat da immer zwei, drei afrikanische Kinder an der Hand. Hebt sie auf den Arm. „Ich kann nichts dafür“, flachst er in die Kamera. „Die halten sich an mir fest.“ Die Wahrheit ist wohl, dass er sich auch an ihnen festhält. Ein Stück von sich selbst in ihrer kindlichen Unschuld und Begeisterung findet. Bis heute halte er Kontakt mit einem seiner damaligen Sparringspartner. Er habe auch eine Spendenaktion gestartet, um einem Boxstudio in Accra zu helfen, einem Klub, wo es weder Boxsäcke noch Handschuhe gibt. Von Dusche ganz zu schweigen. „Und dann haben wir Jungs früher immer vom Ghetto geredet. In München! In Ghana wurde mir klar: Wir haben hier alle Chancen. Alles andere ist nur Gequatsche.“

Eine Münchner Gesamtschule. Die 8. Klasse hat den Film „Lionhearted“ angeschaut, jetzt dürfen die Schüler Burak ihre Fragen stellen. Was er fühlen würde, wenn er heute junge Menschen sehe, die ähnlich tickten wie er damals zu seiner Schlägerzeit? Mitgefühl, sagt Buraks Gesicht. Aber das ist kein Wort für ihn. Also redet er von Stressvermeidung. Davon, dass man seinen Wert eher im Ring finde als auf der Straße. Dass er jede Menge erfolgreiche Boxer kenne, die sich noch nie geprügelt haben. Die Schüler haben auch ein paar Boxübungen mit Burak gemacht. Jetzt hängen sie ihm an den Lippen. Er ist der Abi, der ihnen Halt zu geben verspricht, der sie dort abholt, wo sie sich selbst sehen. „Wir Menschen haben oft so eine Wut in uns, und wollen das rauslassen. Und da ist der Sandsack ideal dafür. Nach dem Training ist der ganze Schmerz , also der emotionale Schmerz in dir weg. Das ist ein geiles Feeling.“

Mag sein, dass einige irgendwann zu ihm ins Boxstudio kommen. Wegen der Disziplin, des Respekts, auch des Lobs des jungen Trainers. Als Sozialarbeiter, sagt Burak später, tauge er trotzdem nicht: „Ich habe mal drei Wochen in einem Sozialprojekt Schüler bei den Hausaufgaben betreut. Die waren so respektlos. Und ich durfte als Lehrer nicht austicken.“ Da, sagt Burak, sei ihm ein für allemal klar geworden: Er stehe von nun an auf der anderen Seite.

JONATHAN FISCHER

SZ 30.1.2023

Die Kraft der Bilder in der Krise. Die „Rencontres de Bamako“, größte Fotobiennale Afrikas, zeigt wie der Kontinent und seine Diaspora sich selbst denken

Zunächst versucht die Eingangsdame im Distrikt-Museum von Bamako, dem Besucher ein Ticket zu verkaufen. Den Einwand, dass die Biennale kostenlos sei, kann sie nicht entkräften. Aber, so kontert sie, zumindest für jedes geschossene Foto sei ein Obulus zu entrichten. Da müsse sie aber schon reich sein! Treffer, Gelächter. Man ist sich nicht böse. Im Gegenteil. Die Dame, sie bezieht sicherlich wie die meisten staatlichen Angestellten Malis ein Hungergehalt, gibt anschließend dennoch ihr Bestes, hat auf Nachfragen sogar ein paar Erklärungen – „mehr hat mir mein Chef leider nicht gesagt“. 

Eine gar nicht untypische Anekdote. Denn Bamako, eine Stadt, in der Trauben von Mofas, Eselsgespanne und buntbemalte , aber marode Kleinbusse permanent die Straßen verstopfen, wo die Glas-Beton-Hochhäuser der Banken an Ziegenmärkte grenzen, und überall Verkäuferinnen-Mädchen Schalen voller Wasserbeutel auf dem Kopf balancieren, scheint vor allem damit beschäftigt, das eigene Überleben zu organisieren. Da kann es schon passieren, dass die größte Foto-Biennale Afrikas von vielen wie die Landung eines wunderlichen UFOs wahrgenommen wird. „Ich habe davon gehört“, erklärt etwa Amadou Traore, junger Inhaber eines der vielen digitalen Fotostudios am Straßenrand.  Ein Foto kostet bei ihm nicht mehr als ein Häufchen Mangos. Trotzdem ist damit nicht viel Geschäft zu machen „ Wie soll ich von Kunst leben?  Ich bin froh, wenn ich genug  Künden für  Bilder von Hochzeiten und Familienfeiern finde.“ 

Tatsächlich galt das Medium Fotografie in Mali lange als bloßes Dienstleistungsgewerbe. Es ist relativ neu, dass junge Fotografen, darunter auch Frauen, ihre Kameras auf die Welt außerhalb des Studios richten. Und  – wie etwa John Kalapo, Fatoumata Diabate oder Kani Sissoko – auch international Furore machen. Das ist auch ein Verdienst der Biennale. Zum 13. Mal bringt die „Rencontres de Bamako“ Intellektuelle und Künstler aus der ganzen Welt nach Mali, über 70 der interessantesten afrikanischen und afrodiasporischen Fotografen der Gegenwart stellen hier aus. Ihre Sujets und Diskurse zeigen dabei ein wachsendes Selbstbewusstsein. Den Willen, sich – parallel zum jüngsten politischen Prozess des Gastlandes Mali – von westlichen und postkolonialen  Bevormundungen zu verabschieden.  „Mali hat sich auf provokative Weise dekolonialisiert“, sagt Igor Diarra, Direktor der Galerie Medina , wo die Biennale einen von sieben über die ganze Stadt verteilten Ausstellungsorte unterhält. „Wegen der Spannungen mit Frankreich sind bestimmte westliche Medienvertreter nicht gekommen. Das ist schade. Aber man darf nicht vergessen, dass jede Krise auch eine Chance der Neuorientierung ist“.

Schon auf der Fahrt durch die Stadt wird sichtbar, von was er spricht. Mali hat in den letzten zwei Jahren zwei Militärcoups erlebt. Nun gilt der Putschisten-Oberst Assimi Goita mit seiner Übergangsregierung als starker Mann – und weil er anders als seine demokratisch gewählten Präsidentenvorgänger sichtbar Maßnahmen gegen die Korruption ergreift, feiert ihn die Bevölkerung. Sein Konterfei prangt auf Taxis und Kleinbussen. Eine Welle des Patriotismus überschwemmt das Land. Malische Flaggen flattern von Mopeds und Geschäften. Eine Unabhängigkeitserklärung. Vor einigen Jahren sah man auch noch die Trikolore der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Immerhin hatten französische Militärs den Norden des Landes 2012 von einer Okkupation durch Tuareg-Separatisten und Dschihadisten befreit. Doch dann fielen die Franzosen in Ungnade: „Weil sie die fortgesetzten Massaker und Überfälle der Dschihadisten nicht verhinderten“, erklärt der junge malische Journalist Youssef Koné,,“ machte sie die Bevölkerung mit verantwortlich dafür. Dazu kam der Ärger über die fortgesetzte Einmischung der Franzosen in die malische Politik“. Nun hat man sich neue Verbündete gesucht – und ausgerechnet die russische Wagner-Miliz zu Hilfe geholt, offizielle lediglich als „Ausbilder“. Man merkt die neuen Verhältnisse vor allem an den russischen Fahnen, die an großen Plätzen verkauft werden. Und den hitzigen Diskussionen der allabendlichen Grins oder Teerunden am Straßenrand: Ist es richtig, dass die Regierung die französischen Staatssender RFI und France24 im Land verboten hat? Wer sagt die Wahrheit und was ist nur Propaganda? Und:  Worauf können sich Malier in der Zeit der Krise noch verlassen?   

„Wo die Politik sich verfahren hat“, sagt Diarra, „kann die Kultur spontan Brücken bauen. “ Tatsächlich wird die Foto-Biennale seit ihrer Gründung 1994 gemeinsam von der französischen Kulturbotschaft „Institut Francais“  mit dem malischen Staat finanziert. Baut sie seit drei Jahrzehnten Brücken nicht nur zwischen Europa und Afrika, sondern auch innerhalb der Afro-Diaspora beziehungsweise zwischen verschiedenen Ländern Afrikas. Das ist beispielhaft in der Galerie Medina zu sehen. Dort sind historische Fotos des legendären malischen Porträtisten Seydou Keita Arbeiten von jüngeren westafrikanischen Fotografen gegenübergestellt. Seydou Keita und Malick Sidibe: Diese auch im Westen gefeierten  Studiofotografen hatten in den 60er und 70er Jahren mit ihren Kameras den Aufbruchsgeist der malischen Jugend eingefangen, einen Optimismus, der noch ungebrochen an die Fortschrittsversprechen der Unabhängigkeit glaubte. Man versuche gerade, erklärt der Galerie-Direktor, die  damals abgebildeten Personen ausfindig zu machen. Um auch hier die Geschichte fortzuschreiben.  Das passt zum Motto „Vielfalt , Differenz, Erbe und Werden“, das Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der aus Berlin kommende Chef-Kurator der Biennale ausgegeben hatte. So scheinen etwa die Bilder des  ivorischen Fotografen Ananias Léki Dago eine gewisse Ernüchterung auszudrücken: Sei es das Pokerface eines Mannes, der an seiner Zigarette zieht, der abgewendete Blick eines Trinkers, Frauen, die wie Gefangene durch ein Gitter blicken.  Dago illustriert hier eine Stimmung zwischen Bar-Coolness und Desillusion – und wirkt damit, neben seinem von afroamerikanischen Moden inspirierten Wegbereiter und Idol Paul Kodjo ganz im Hier und Jetzt.

Nächste Station, der alte Bahnhof von Bamako: Die Uhr steht, das prächtige Kolonialgebäude wirkt traumverloren.  Im Jahre 1924 war es  von den Franzosen als Zwischenstation einer Eisenbahnlinie zwischen dem senegalesischen Dakar und Niamey im Niger erbaut  worden. Später, in den 60er und 70er Jahren formierte sich im angeschlossenen Buffet de la Gare die Musikszene Malis mit der Rail Band und ihrem bis heute durch die Welt tourenden Superstar, dem Sänger Salif Keita.  Zugverkehr das bedeutete Zukunft. Doch seit dem Beginn der Krise vor über zehn Jahren sind die Bahnsteige verwaist  Zwischen den Schienen weiden Ziegen. Im Unkraut der Abstellgleise verrotten ein paar  Waggons. Während vor dem Haupteingang alte Männer in weiten, glänzenden Boubous-Gewändern  Domino spielen. Erst vor kurzem hat die Militärregierung mit einer Testfahrt angekündigt, zumindest den Zugverkehr bis in die westliche gelegene Stadt Kayes wieder herstellen zu wollen. Und auch die Biennale hat das historische Gebäude für sich entdeckt. Aber erst muss ein Wärter gefunden werden, der einem aufschließt.

Das Nebeneinander von Geschichte und Gegenwart hat seinen Charme: Neben einem Messing-Schild „Gepäckaufgabe endet 15 Minuten vor Abfahrt des Zuges“ etwa hängen Nourhan Maayoufs großformatige Schwarz-Weiß-Bilder von afrikanischen Wohnzimmern – dieser ständigen Verhandlungszone zwischen Gemeinschaft und Rückzug. Seif Kousmate sucht in seiner Serie nach den Spuren des Traumas vergangener ethnischer Konflikte im Zusammenleben von ruandischen Hutu und Tutsi. Andere Arbeiten spüren neben geschlossenen Kartenschaltern der Rolle der Frauen für die Gesellschaft in Trinidad und Tobago nach, oder überblenden die Aufnahmen des eigenen Körpers mit den von der Kolonialmacht ausgestellten Dokumenten des Großvaters.  

Diese thematische Vielfalt kann verwirren.  Und das soll sie auch. Denn auf diesem Treffen der Fotografen, Künstler und Intellektuellen geht es laut dem künstlerischen Direktor Ndikung um eine Sprache der Zwischenräume, Identitäten, die vermeintliche religiöse, politische, ethnische oder sexuelle Gewissheiten in Frage stellen.  „Unser Thema ist die Multiplizität“, erklärt Ndikung. Er hatte schon die letzte Rencontres de Bamako kuratiert und leitet seit 2023 das renommierte Haus der Kulturen in Berlin. „ Jeder Mensch trägt – das erklärte schon der  malische Schriftsteller Amadou Hampate Ba – eine Mehrzahl von Personen in sich.“ Zu Ende gedacht ist das eine nachdrückliche Toleranz-Botschaft. Ndikung hatte nicht ohne Hintersinn ein Biennale-Motto in der Landessprache Bamana gewählt: „Die Personen der Person sind in der Person mehrfach“ ließe es sich übersetzen. Oder: Jeder Mensch trägt viele Welten in sich. Physisch, psychisch, spirituell.

Daneben aber setze die Biennale auch konkrete wirtschaftliche Impulse: „Früher“, sagt Ndikung, „ließ man die Fotos in Frankreich drucken. Heute vergeben wir alle Aufträge an lokale Ateliers und Unternehmer.“ So sollten junge Fotografen ermutigt werden,  ihre Kunstwerke vor Ort zu produzieren. Und überkommene Minderwertigkeitskomplexe gegenüber dem „made in Europe“ ablegen.

Tatsächlich entwickelt die Biennale ihre stärksten Momente da, wo Fotos und Videos unmittelbar mit dem Alltag Bamakos korrespondieren. Etwa bei der multimedialen Installation „Koungo Fitini“, kleinere Probleme- des Belgiers Arnold Grojean. Im Distrikt-Museum porträtiert er die Straßenkinder der Stadt, ja lässt sie selbst zu Wort kommen. Viele von ihnen leben gleich nebenan rund um den großen Markt. Für den Rest der Gesellschaft aber bleiben sie Phantome. Hier aber öffnen sie sich in erschütternden Augenzeugenberichten und Zeichnungen. Es geht um kleinkriminelle Banden, sexuellen Missbrauch, die Betäubung durch Drogen und immer wieder rohe, lebensbedrohliche Gewalt. In ihren großformatig aufgezogenen Gesichtern spiegeln sich nicht nur Verlorenheit und Härte. Sondern auch ein wilder Lebensmut. Natürlich stellt sich die Frage: Wird hier das Leid der anderen exotisiert? Reduziert sich hier Afrika womöglich auf Negativ-Klischees? Immer wieder halten afrikanische Fotografen ihren westlichen Kollegen diese legitime Kritik entgegen. Hier aber gibt es einen entscheidenden Unterschied: Die Straßenkinder haben im Lauf mehrerer Jahre mit Grojean gelernt, mit Kamera und Fotoatelier umzugehen, und sie haben alle Medien genutzt, um ihre Geschichten selbst zu erzählen.

Sehr pittoresk geht es im Monument für den ersten malischen Präsidenten Modibo Keita, einem realsozialistischen anmutenden Palais am Niger-Ufer zu – und das nicht nur weil die Hitze schon einige der Fotos von den Stellwänden gelöst hat.  „Afrikaner sind Genies der Alltags-Improvisation“, sagt die malische Fotografin Fatoumata Diabate. Eine resolute Frau, die eigenen Angaben nach nur durch Vermittlung einer Tante einen Platz an einer der renommierten Fotoschulen in Bamako erhielt, und die lange kämpfte, um sich als Frau und Fotografin in einem von Männern dominierten Metier durchzusetzen. Mit der von ihr geleiteten „Association des Femmes Photographes de Mali“ hat sie nun einen der in Bamako allgegenwärtigen Kleinbusse in ein mobiles Fotoatelier verwandelt.  Wer  zur Arbeit oder zum Markt will, verbringt oft Stunden zusammengepfercht in der Enge und Hitze der sogenannten „Sotramas“ . „Es sind die Blicke der Passagiere, ihre Kraft, aber auch ihre Erschöpfung, die mehr über den Alltag Malis aussagen als jede Rede“, erklärt Diabate.  Vor einem schwarz-weiß-karierten Vorhang –  inszenieren sich nun die Passagiere selbst. Werden sie von Leidenden zu Helden. Durchaus komische Noten entwickeln  auch Diabates Portraits von improvisierten Corona-Maskierungen. Ein mit Gemüseblatt maskiertes Männergesicht, Taucherbrillen, Damenslips und Socken als  Behelfsschutzmittel, ja selbst Radios und Fernseher mit Atemschutz – das oszilliert  zwischen Erfindungsreichtum  und kreativem Wahnsinn.   

Seydou Camara streicht fast zärtlich über die Papierfahnen an den Wänden des Cinema Hilal. Zwischen Reihen von Eisenstühlen haben ein paar Männer ihre Gebetsmatten ausgerollt. Auf der anderen Seite waschen Frauen Geschirr in großen Plastiktrögen. Während ein Mechaniker unter den Fotos eines Schönheits-Salons an einem Motor herumschraubt. Gerade deshalb schätzt Camara, ein Macher-Typ mit gewinnendem Lächeln,  das alte Freiluftkino im Herzen der Medina Bamakos  als Ausstellungsort. Zusammen mit den jungen Fotografinnen seiner Initiative Yamarou hat er dessen Wände zu einer großen Straßen-Galerie umfunktioniert. Immer wieder bleiben ambulante Marktfrauen oder spielende Kinder vor den Fotos stehen. Es sind Themen mit denen hier jeder vertraut ist:  Der Blick eines Flüchtlingskindes aus einem mit Plastikplanen improvisierten Zeltes. Eine Fotografin, die die Inhalte des Schmuckkästchens ihrer  verstorbenen Mutter zeigt.  Oder Frauenkörper, die unter übereinandergelegten Schichten von Kleidung ersticken – Symbol für den sozialen Druck, sich für jedes Fest neue kostspielige Kleider schneidern zu lassen: „Wir von Yamarou“, erklärt Camara. „haben einen sozialen Auftrag: Vermeintliche Selbstverständlichkeiten und Rollenbilder in Frage zu stellen. Und die Menschen so zum Reden zu bringen“.

Auch deshalb veranstaltet Camara,  selbst ein international renommierter Fotograf,  mit Yamarou regelmäßig Fotoworkshops für Kinder und Jugendliche. Das Medium Foto sei nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil es in einer Gesellschaft von 70 Prozent Analphabeten von allen gelesen werden könne. Letztes Wochenende habe Yamarou ein Marionettentheater, eine Modenschau und  Musiker ins alte Kino gebracht. „Die Straßen ringsum sind aus allen Nähten geplatzt. Danach haben wir alle zusammen sauber gemacht“. Es sind solche Off-Aktionen, die das UFO der Biennale dann doch  in den populären Quartieren  der Stadt landen lässt. „Wenn in Mali etwas fuktioniert“, erklärt Camara, „dann ist es der Gemeinschaftsgeist. Deshalb habe ich trotz aller Krisen Hoffnung für unser Land“.     

JONATHAN FISCHER

In gekürzter Fassung erschienen in der NZZ 4.2.2023

Weißer Mann mit Messer

Der tausendseitige Bericht einer kolonialen Raubmission des Surrealisten Michel Leiris ist neu erschienen. Hat er noch etwas zu sagen?

Michel Leiris’ „Phantom Afrika“ gleicht einer dieser Postkarten mit je nach Betrachtungswinkel wechselndem Bildmotiv: Vordergründig stellt es das Tagebuch einer ethnologischen Feldstudie dar. Leiris begleitete die Dakar-Djibouti Mission, diese berüchtigte französische Afrika-Expedition der Jahre 1931 bis 1933, als ethnologischer Sekretär und Archivar. Der den französischen Surrealisten nahestehende Schriftsteller beschreibt darin – auf fast tausend Seiten! – kulturelle und religiöse Rituale.

  Zumindest ist das sein Auftrag. Denn wenn es dabei bliebe, wunderte man sich doch, warum dieser 1934 zuerst bei Gallimard Paris erschienene und in der deutschen Übersetzung vergriffene Ethnologie-Klassiker nun im Berliner Matthes & Seitz Verlag eine redigierte und erweiterte Neuauflage erhält. Wer sollte sich außerhalb von Seminar-Bibliotheken für diesen Ziegelstein interessieren?

  Tatsächlich begleitet Leiris, ein Jazz- und Philosophie-begeisterter Großstadt-Intellektueller, eine zweieinhalbjährige Sammelorgie, bei der Dogon-Masken und äthiopische Kirchenmalereien, rituelle Umhänge und blutverschmierte Fetische eingesackt werden, eine Unternehmung, die bis heute als entscheidend für die wissenschaftliche Entwicklung der Ethnologie gilt. Was aber wenn die Einheimischen ihre Kultgegenstände nicht freiwillig rausrückten? Was wenn die Expedition – wie fast alle europäischen Feldforschungen dieser Zeit – zu kriminellen Methoden wie Einschüchterung, Erpressung, Diebstahl, Raub und Gewalt griff, um Masken, Statuen und religiöse Objekte zu entwenden?

  „Phantom Afrika“ mutiert hier von einer Heldengeschichte zu einem düsteren Krimi, der angesichts von Leiris’ psychoanalytisch eingefärbtem Schreibstil – er beschreibt auch seine Träume und inneren Konflikte, gesteht angesichts des Gebarens seiner Expeditionskollegen bisweilen eigene Scham- und Schuldgefühle ein – mehr als nur historische Bedeutung hat.

  Leiris macht sogenannte Feldforschung als kaum kaschierten Raub erkennbar, beschreibt die Arroganz der Kolonialisten wie die Ohnmacht der Afrikaner und wirft en passant einiger seiner eigenen Lieblings-Mythen über den Haufen. Und das obwohl, oder gerade weil der Autor selbst in einem moralischen Dilemma steckt. Einmal hofft er, in Afrika ein Heilmittel gegen seine Zivilisationsmüdigkeit zu finden, ja „ein Herz zu entwickeln“ – dann wieder packt ihn sein altbekannter Ennui.

  Leiris hatte der Afrika-Expedition 1931 auf Anraten seines Freundes Georges Bataille zugestimmt. Auch sein Psychoanalytiker befürwortete die Reise. Denn was könnte einem Schriftsteller mit Schreibblockaden, sexuellen Phobien und Alkoholproblemen schon besser bekommen als das Eintauchen in vermeintlich primitive und unverdorbene Kulturen? Leiris hoffte jedenfalls auf eine persönliche Transformation. Afrika würde das heile Kind in ihm wecken. Kein Wunder, dass die Aufzeichnungen des Expeditions-Sekretärs vor allem die eigene mentale Zerbrechlichkeit spiegeln. An einer Stelle sinniert Leiris über die Frage, warum ihn wohlbekleidete europäische Damen mit ihren Tabus sexuell mehr reizen als die Nacktheit, die er mancherorts in Afrika antrifft. Vor seiner Reise gehörte Leiris lange zu den Pariser Surrealisten, die ihre politisch-revolutionäre Haltung mit einer ausgesprochenen Afrika-Schwärmerei überhöhten. Ihre Hoffnung: In der Fremde könne man sich seiner bourgeoisen Prägung entledigen.

  Leiris ist nicht der erste mit diesem Unterfangen. Arthur Rimbaud etwa ließ das Gedichteschreiben sein, um nach Afrika zu segeln – und kam Jahre später krank aber voller wilder Geschichten zurück. André Gide veröffentlichte nach einer Reise durch die französischen Kolonien Ende der 20er Jahre populäre Reiseberichte wie „Voyage au Congo“ und „Retour du Tchad“. Leiris kannte beide. Und folgte in Rimbauds Fußstapfen der Illusion, in Afrika als Rebell getauft zu werden.

  Ähnliche Verwandlungs-Fantasien, beziehungsweise deren Verdammung, spielen heute auch in die Debatte über kulturelle Aneignung hinein. Doch eines wird auch Leiris irgendwann klar: Er kann seine Nation und Klasse nicht leugnen. Seine libidinösen Afrika-Fantasien zerschellen immer wieder an der politischen Wirklichkeit. Besonders Leiris’ Idee, Rettung bei den Einheimischen zu suchen, scheint zunehmend absurd, halten diese doch selbst religiöse Rituale ab, um ihren miserablen Lebensbedingungen zu entkommen.

  Es sind die literarischen Qualitäten, die „Phantom Afrika“ herausheben und zu Leiris’ vielleicht nicht bestem, aber erfolgreichstem Werk machen. Claude Lévi-Strauss erklärte ihn später zu einem der „wichtigsten Schriftsteller des Jahrhunderts“. Stets ringt der Autor mit dem eigenen Interessen-Zwiespalt, stellt die Authentizität von Darbietungen der Afrikaner in Frage, ahnt, dass nicht nur die Europäer die Einheimischen betrügen, sondern auch letztere den Eindringlingen eigene Märchen auftischen. Dass Leiris es mit der Objektivität gar nicht erst versucht, sondern Emotionen wie Freude, Sorge, Frustration, sexuelle Lust und Scham in teils schnoddrigen Kommentaren einfließen lässt, macht den einst als „unseriös“ Verleumdeten zum Vorreiter einer grundlegend neuen Ethnografie.

  Wenn der Expeditionsleiter Marcel Griaule sich später gegen die Veröffentlichung von „Phantom Afrika“ stellte, hatte das aber vor allem mit Leiris’ ungeschönten Raub-Schilderungen zu tun: Wie etwa dem Bericht von der widerrechtlich erbeuteten Kono-Maske in Mali. Als das Oberhaupt der Kono die Weißen mit Forderungen nach komplizierten Tieropfern von seinem Heiligtum fernhalten will, wird Griaule grob: Er lässt dem Dorfoberen ausrichten, dass „als Vergeltung dafür, dass man uns hier offensichtlich zum Besten hält, der Kono gegen ein Entgelt von 10 Francs auszuliefern sei, wenn der Dorfobere und die Notabeln des Dorfes nicht von der angeblich im Lastwagen versteckten Polizei abgeführt werden wollten… Entsetzliche Erpressung!… Der Dorfobere ist am Boden zerstört.“

  Griaule schickt sodann einen seiner Angestellten, die Maske zu holen, die „weder die Frauen noch die Unbeschnittenen sehen dürfen, weil sie sonst sterben müssen“. Im Dorf bricht Panik aus, Männer mit Stöcken treiben hastig ihre Frauen und Kinder in die Häuser hinein, während Leiris halbamüsiert notiert: „Umgeben von einer Aura besonders mächtiger und unverfrorener Dämonen oder Schweinehunde lassen wir die Leute in ihrer Verblüffung zurück“.

  Auch der Expeditionssekretär ist offensichtlich nicht gefeit gegen den Machtrausch, den er als „Weißer mit einem Messer“ verspürt. Er verleiht zwar in „Phantom Afrika“ dem Unternehmen eine gewisse Menschlichkeit, aber letztlich stellt Leiris doch die kolonialen Herrschaftsstrukturen nicht in Frage. Die rund 3500 Objekte, die die Mission Dakar-Djibouti einsammelte, machen heute den Stolz Pariser ethnografischer Museen aus – auch wenn Emmanuel Macron versprochen hat, einige davon zurückzugeben. Leiris aber sollte viele seiner Ideen von einst revidieren: Er unternimmt weitere Reisen nach Afrika und in die Karibik, befreundet sich unter anderem mit dem afrokaribisch-französischen Négritude-Mitbegründer Aimé Césaire, arbeitet für Jean Paul Sartres Zeitschrift Les Temps Modernes und wächst in den Fünfzigerjahren zu einem Anwalt der anti-kolonialistischen Linken heran.

  Afrika hatte Leiris zwar nicht als Person geheilt, aber immerhin als Literat auf das richtige Gleis gesetzt. In einem Brief an seinen Freund Georges Bataille schreibt er später, man könne als Ethnograf letztlich nur über eigene Erfahrungen wahrheitsgemäß Auskunft geben: „Wie intensiv wir auch imaginieren, die Erfahrung der einheimischen Person zu leben, wir können niemals in seine Haut schlüpfen.“

JONATHAN FISCHER

SZ 19.12.2022

Der Bibliothekar, der sein Leben riskierte


Als Mali von islamistischen Milizen überfallen wurde, machte sich Abdel Kader Haidara auf eine gefährliche Reise. Er schmuggelte Tausende Schriften aus Timbuktu. Nun sind sie im Internet einsehbar. Ein Besuch in seiner Werkstatt in Bamako – und in einem Land, das wieder zwischen die Fronten gerät.

Wir sind in Mali, Bamako, Baco Djocoroni. Auf einem ungeteerten Weg, vorbei an Ziegen und spielenden Kindern erreicht man einen unscheinbaren malvenfarbenen Flachbau. „Savama-DCI“ steht auf einer Banderole im Eingangsbereich: so heißt die Organisation, die Dr. Abdel Kader Haidara einst gegründet hat, um die Manuskripte von Timbuktu zu retten und konservieren.
Im Internet lassen sich jetzt über 40.000 nach Themen geordnete Manuskriptseiten einsehen. Begleitend sind den arabischen Originalen englische Übersetzungen der Hauptaussagen beigefügt. In seinem Büro im ersten Stock empfängt der Chef-Bibliothekar Haidara in traditioneller, bestickter Tunika.


Herr Haidara, Ihr Schreibtisch ist voller Bücher und Papierstöße, in den Regalen daneben türmen sich in Lederkladden gefasste Originalmanuskripte. Wie sieht Ihre tägliche Arbeit aus?
Abdel Kader Haidara: Ich kontrolliere einerseits die schon konservierten Manuskripte. Andererseits durchforste ich noch nicht erfasste Schriften: Was berichten sie, wie alt sind sie, sollen wir sie übersetzen lassen? Wir sind nach zehn Jahren mit dem Gros der Konservierung und Digitalisierung durch. Nur noch einige tausend der Schriften lagern zur Bearbeitung in unseren klimatisierten Lagern.

Für die Online-Präsentation von 40.000 Seiten, die vom 11. bis zum 20. Jahrhundert reichen, haben sie sieben Jahre lang gearbeitet. Was hat so lange gedauert?
Haidara: Zunächst war die Konservierung ein langwieriger Prozess. Und dann ging es darum, eine repräsentative Auswahl zu treffen, Schlüsselpassagen zu identifizieren und zu übersetzen. Sodass die Leser nachvollziehen können, warum diese Manuskripte das kollektive Gedächtnis Afrikas und der Menschheit repräsentieren.

Vor genau zehn Jahren haben Sie diese Manuskripte aus dem von Dschihadisten besetzten Timbuktu herausgeschmuggelt und 285.000 von ihnen in Sicherheit nach Bamako gebracht. Wie kam es dazu?
Haidara: Ich war damals Leiter einer der größten Familienbibliotheken von Timbuktu, der Mamma Haidara Memorial Library. Zusammen mit anderen Bibliothekaren kümmerte ich mich bereits seit 2007 darum, die oft seit Jahrhunderten in Häusern eingemauerten oder gar in der Wüste versteckten Manuskripte zusammenzutragen und digital zu erfassen. Als die Dschihadisten 2012 Bibliotheken plünderten und Manuskripte verbrannten, mussten wir dringend handeln: Wir Bibliothekare konnten mit der
Unterstützung der Einwohner Timbuktus unvorstellbaren Schaden von diesem UNESCO-Weltkulturerbe abwenden. Nachts katalogisierten und verpackten wir die alten Handschriften in über 1000 Metallkisten und schmuggelten sie unter Obst- und Gemüsekisten versteckt aus Timbuktu heraus. Von dort aus transportierten sie Kuriere mit Pirogen auf dem Niger und anschließend mit Lkws bis Bamako.

Wegen dieser waghalsigen Aktion werden Sie von westlichen Medien gern als eine Art Superheld-Bibliothekar, der „badass librarian of Timbuktu“ betitelt. Gefällt Ihnen das?
Haidara: Nun ja, meine Mitstreiter und ich haben für diese Aktion auf jeden Fall unser Leben riskiert. Aber war das wirklich übermenschlicher Mut? Damals schienen wir gar keine andere Wahl zu haben, wenn wir die Zeugnisse unserer großen alten Zivilisation nicht für immer verlieren wollten….

Sie haben das aus Liebe zur Wissenschaft getan?
Haidara: Sie müssen eines verstehen: Die Manuskripte, die meine Familie und andere Familien aus Timbuktu seit Generationen hüten, gelten nicht als Teil des elterlichen Erbes. Sondern der am meisten interessierte Sohn wird mit der Pflege und Instandhaltung der Bibliothek betraut. In meiner Familie war ich derjenige. Damit geht eine große Verpflichtung einher.

Sie wurden andererseits auch kritisiert und vom britischen Journalisten Charlie English in seinem Buch „The Booksmugglers of Timbuktu“ verdächtigt, die Gefahr übertrieben und westliche Hilfsgelder veruntreut zu haben.
Haidara: Ich kenne die Anschuldigungen. Aber ich habe mir nichts vorzuwerfen. Jeder kann unsere Buchhaltung kontrollieren, da ist alles ordentlich festgehalten.

Wie erklären Sie sich dann die Vorwürfe?
Haidara: Sie stammen im Wesentlichen von einem einzigen Journalisten. Charlie English war enttäuscht, dass ich nicht mit ihm zusammenarbeiten wollte. Ich hatte bereits eine exklusive Kooperation mit dem Autor Joshua Hammer (für dessen Buch „The Bad Ass Librarians of Timbuktu“) vereinbart.

Zurück zur zweifellos verdienstvollen Arbeit, die Sie mit Ihrem Savama Institut geleistet haben: Nach welchen Kriterien haben Sie die Manuskripte ausgewählt, die nun im Netz veröffentlicht werden?
Haidara: Ich habe zuerst die umfangreichsten und gewichtigsten Bücher berücksichtigt. Und dann noch einmal nach den Inhalten sortiert: Die ausgewählten Bücher handeln von Religion, Rechtsprechung, Sozialkunde, Medizin, Geschichte und Geografie. Vieles daraus wirkt bis heute brandaktuell. Darunter etwa eine Schrift über die Korruption und ihre negativen Auswirkungen auf den Staat aus dem 19. Jahrhundert.

Welche Rolle hat Deutschland bei der Restaurierung gespielt?
Haidara: Wir haben Deutschland sehr viel zu verdanken. 2014 kam ein Team von Restauratoren von der Uni Hamburg, um uns auszubilden – in Hochzeiten waren es bis zu 140 Angestellte, die in diesem Haus an der Konservierung und Digitalisierung arbeiteten. Zusätzlich kam etwa von der Gerda-Henkel-Stiftung eine Menge technische Hilfe. Ohne deren Entfeuchtungsgeräte drohten die aus Timbuktu geretteten Manuskripte während der Regenzeit in Bamako zu verrotten.


Sie haben vor acht Jahren vom deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier den Afrikapreis entgegengenommen und dabei auch mit deutschen Bibliothekarskollegen Kontakt aufgenommen. Was ist Ihnen davon geblieben?
Haidara: Mich hat ein Besuch des historischen Archivs der Staatsbibliothek in Berlin schwer beeindruckt. Mit welchem Aufwand in Ihrem Land Kulturgüter geschützt werden! Um zu den alten Büchern zu gelangen, musste ich durch mehrere Schleusen hindurch, Sicherheitstüren wurden geöffnet und geschlossen bis hin zu einem Aufzug in einen voll klimatisierten Keller…

Das Gegenteil von den Zuständen in Mali?
Haidara: Nun ja, wenn man gerade aus Bamako kommt und Hunderttausende historischer Manuskripte provisorisch in Metalltruhen und Koffern gelagert hat, ist das natürlich ein harter Kontrast. Wir hatten damals Garagen zur Lagerung angemietet. Aber die Gefahr für die Manuskripte bestand nicht nur durch das feuchte Klima, sondern auch durch ihren Wert. Die Orte waren folglich geheim und rund um die Uhr bewacht. Heute kann ich sagen: Wir haben 95 Prozent der insgesamt über 450.000 Manuskripte aus Timbuktu und Umgebung für die Nachwelt gerettet

Welches der vielen Manuskripte hat Sie persönlich am meisten beeindruckt?
Haidara: Dazu gehört auf jeden Fall ein medizinisches Buch aus dem 15. Jahrhundert: Es handelt von der Kunst des Operierens, speziell Operationen der Geschlechtsorgane. Das hatte ich nicht erwartet. Die Beschreibungen gehen bis hin zu Analysen der Gewebezellen und der Blutwerte…

Die Zeugnisse der alten Universitätsstadt Timbuktu scheinen in vieler Hinsicht dem Mythos von der Rückständigkeit der islamischen Welt zu widersprechen.
Haidara: Tatsächlich gibt es da ein weiteres Lieblings-Manuskript von mir. Es stammt aus dem 18. Jahrhundert und behandelt die Menschenrechte aus der Perspektive der Frauenrechte. Das beginnt mit der Heirat: Die Frau muss ein Mindestalter haben, der Bräutigam muss die Respektierung ihrer Rechte garantieren, und sie, wenn sie schwanger ist, schonen und versorgen. Als Nächstes kommt das Recht des Neugeborenen und Kindes auf Zuwendung, Nahrung, Erziehung. Von ihm aus werden die allgemeinen Menschenrechte entwickelt. Sie enden nicht mit dem Tod. Denn auch der Verstorbene hat das Recht auf seine Würde.

Mali ist eines der ärmsten Länder der Welt. Und die Konservierung der Manuskripte kostet hunderte Millionen von Euro. Warum halten Sie es trotzdem für wichtig, diese Schriften für die Menschheit zu erhalten?
Haidara: Wir können bis heute viel aus diesen alten Schriften lernen. Sie sind – weil sie bisher in Familienbesitz waren und weder Universitäten noch Bibliotheken zur Verfügung standen – eine noch nicht erschlossene Fundgrube für die Wissenschaft. Und dann korrigieren sie auch ein Weltbild: Lange glaubte man im Westen, dass das präkoloniale Afrika ein unzivilisierter Flecken auf der Landkarte war. Nun wird klar: Wir besitzen eine reiche Schriftkultur, Afrikaner haben schon seit einem Jahrtausend ihre Geschichte und Wissenschaft in Büchern festgehalten.

Kommen viele Forscher zu Ihnen, um sich mit den Inhalten der Manuskripte zu beschäftigen?
Haidara: Anfangs riss der Strom der Journalisten, Historiker und Wissenschaftler kaum ab. Aber heute kommt kaum noch jemand nach Bamako. Der Militär-Coup, das Embargo der Nachbarländer und die Nachrichten über die Attentate der Dschihadisten schrecken die meisten Besucher ab. Aber Sie merken das bestimmt selbst: Bamako bleibt friedlich. Jeder geht hier seinem Alltag nach wie immer.

Mir ist aufgefallen, dass die ganze Welt über die Manuskripte von Timbuktu berichtet, in Bamako aber wissen viele Menschen kaum etwas darüber. Wie wollen Sie das ändern?
Haidara: Das ist der nächste Schritt: Wir sind gerade mit dem Kulturministerium dabei, die Manuskripte auch für lokale Schulen und Universitäten aufzubereiten. Schließlich kann die Beschäftigung mit ihnen nicht nur unser Wissen erweitern – sondern malischen Studenten auch ein ganz neues geschichtliches Selbstverständnis verleihen. Inshallah! So Gott es will!

Interview: Jonathan Fischer

Die Welt 7.9.2022

bsh

So kämpft eine Unternehmerin gegen das Verderben

Eine Agrarwissenschaftlerin aus Mali kehrt in ihre Heimat zurück und baut eine eigene Firma auf. Sie macht Früchte haltbar, die sonst vergammeln würden – und liefert die Lösung für ein großes Problem.

Am Stadtrand von Malis Hauptstadt Bamako steht inmitten von Feldern und Brachen ein zweistöckiger Kasten. Gleich nebenan entladen kleine Boote am Nigerufer ihre Fracht. Nur eine löchrige Piste führt hierher. Die Mauern sind vom roten Staub eingefärbt. Auf einer Werbetafel am Eingang glänzen bunte Saftflaschen. „Zabbaan – le secret de ma journée“ steht darauf, „Zabbaan – das Geheimnis meines Tages“. Daneben parken ein paar dreirädrige Lastwagen – die Infrastruktur, um Supermärkte, Hotels und Restaurants in Bamako mit Säften zu beliefern. Dass sich die Marke Zabbaan einmal gegen die überzuckerten, künstlich geschmacksverstärkten Produkte der Konkurrenz durchsetzen würde, das war die Hoffnung von Firmengründerin Assiata Diakite. Aber was hat sie dazu motiviert, einen gut bezahlten Job in Europa aufzugeben, um in einem der ärmsten Länder der Welt zu investieren?

Die meisten Lebensmittel verderben, bevor sie auf den Markt kommen

Mali sei ein Land der ungenutzten Ressourcen, sagt Diakite. „Wir haben in der Landwirtschaft eine Lebensmittel-Verlustrate von bis zu 65 Prozent.“ Das sind fast zwei Drittel. „Mangels Lager- und Konservierungsmöglichkeiten verdirbt in der Erntezeit ein Großteil der Früchte, bevor sie auf den Markt kommen, weil wir keine Industrie haben, um sie zu verarbeiten und zu veredeln.“ Erschwert wird der Handel durch die seit Jahren anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen im Norden des Landes und instabile politische Verhältnisse.

Wie in den Nachbarstaaten der Sahel-Region ist die Mehrheit der erwerbstätigen Malier in der Landwirtschaft beschäftigt. Doch es fehle an langfristigen Strategien, meint die Unternehmerin. Besonders in der Mango-Saison werde das deutlich: Da könne niemand die riesigen Mengen an frischen Früchte kaufen und essen, die Verkäuferinnen am Straßenrand anbieten, sagt Diakite. Doch als Trockenfrüchte in Form von Mangochips, als Marmeladen und Säfte im Glas ließen sie sich lange haltbar machen. In einem Regal vor ihrem Büro präsentiert Diakite ihre Produkte: Mango-, Ingwer-, Marengo- und Baobab-Säfte. Dazu kommen Hibiskusblütentees, zahlreiche Konfitüren – und demnächst auch Fruchtjoghurts.

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Assiata Diakite ist gerade mal 25 Jahre alt, als sie 2016 ihre eigene Firma mit knapp 15 Angestellten, einer Fabrikhalle und einer kleinen Flotte von Lieferwagen gründet. Dazu gehört eine gute Portion Mut. Zum einen weil eine Uni-Absolventin ohne vermögende Eltern so ziemlich zu den Letzten gehört, denen eine heimische Bank einen Gründungskredit gewähren würde. Zum anderen ganz einfach, weil sie jung ist. Und eine Frau. Sich unter dieser Voraussetzung eine Führungsposition oder gar eine Firmenleitung zuzutrauen – das löst in einer patriarchalen und von den Älteren geprägten Gesellschaft wie Mali zwangsläufig Widerstand aus. Die Agrarwissenschaftlerin bekam das etwa auf Konferenzen zu spüren, bei denen sie über Lebensmittelverluste und deren Minimierung sprach. „Glaubt diese junge Frau etwa, sie habe uns etwas im Wissen voraus?“, hieß es da. Die alten Männer hätten sie statt als Unternehmerin und Expertin eher wie „eine etwas zu vorlaute Tochter“ behandelt. Für Diakite mit ein Grund, warum man in Westafrika trotz enormer Lebensmittelverluste einen langen Atem für Innovationen brauche.

Eine Aufsteigerin ohne Chefallüren

„Ich bin im Norden Malis als Tochter von Landwirten aufgewachsen“, erzählt die Firmengründerin im klimatisierten Büro im Obergeschoss der Fabrik. „Zu Hause haben wir alle Lebensmittel selbst angebaut und weiterverarbeitet.“ Sie wirkt nicht wie eine Aufsteigerin, die sich mit Chefallüren beweisen muss. Ihr Gesicht leuchtet freundlich, wenn ihr einer der Angestellten – es sind inzwischen mehr als 30 – im Flur begegnet.

Diakite hatte dank eines Stipendiums in Frankreich Ernährungswissenschaft und Lebensmittellogistik studiert, anschließend kamen Praktika und Anstellungen in Paris und London. „Ich hätte in Europa viel Geld verdienen können. Für mich aber war von vorneherein klar: Ich kehre zurück und gründe eine Firma in Mali. Mein Land braucht mich.“ Während in Europa bereits alle Nischen besetzt, das Potenzial ausgereizt sei, könne man mit einer guten Idee in Mali enormes Wachstum generieren. „Zabbaan zeigt das Potenzial der gesamten heimischen Agrarindustrie.“

Ihre Fabrik habe mit 200 bis 300 Flaschen täglich angefangen, sagt sie. Im Moment würden 5000 Flaschen Fruchtsaft täglich produziert. Das bedeutet ein enormes Wachstum. „Wir arbeiten wie die Chinesen“, ergänzt die Firmenchefin mit einem Augenzwinkern und spielt damit auf den Fleiß an, der den Asiaten nachgesagt wird. „Und es zahlt sich aus.“ Selbst nach Frankreich exportiere sie inzwischen.

Wie aber konnte sie ihr Unternehmen finanzieren? Zumal die Banken in Mali Kredite nur an Vermögende vergeben, und dann noch mit satten 25 Prozent Zinsen?

Diakite erzählt von den internationalen wissenschaftlichen Wettbewerben, die sie als Uni-Absolventin noch in Europa gewonnen hatte. Ihr Thema: Innovationen für das Agrobusiness und nachhaltige Lebensmittelverarbeitung. Die Preisgelder hätten ihr finanzielles Fundament gebildet. Dazu habe sie in der ersten Zeit nach ihrer Rückkehr noch als Beraterin für ausländische Unternehmen in Mali gearbeitet.

Viele Einheimische glauben noch immer, dass Importiertes besser sei

Gerade baue sie eine kleine Nische für Bioprodukte auf. „Wir werben mit dem Geschmack unserer Säfte. Aber das braucht Zeit und viel Kommunikation: Die Menschen hier sind derart an die überzuckerten und künstlich aromatisierten Importprodukte gewöhnt, dass sich ihr Geschmack erst mal umstellen muss.“ Zudem müsse sie gegen den Irrglauben ankämpfen, dass Importiertes besser sei. „Viele unserer Kunden dachten anfangs, unsere professionell aufgemachte und beworbene Produktpalette könnte nur aus Frankreich oder Libanon stammen.“

Die Firmenchefin führt die Treppe hinunter in die gekachelten Produktionsräume. Zwei gewaltige, glänzende Metallzylinder, die sie gebraucht aus Deutschland importiert habe, sind das Kernstück ihrer Saftproduktion. Daneben gibt es noch eine Abfüllstation, einen Lagerraum und Türme von Plastikkästen mit Saftflaschen. Diakite tippt mit dem Finger auf eine Landkarte von Mali, die an der Wand hängt: Sie zeigt die landwirtschaftlichen Kooperativen, mit denen sie zusammenarbeitet, derzeit sind es 21. „Wegen der Krise brechen viele Märkte in Mali zusammen. So schaffen und sichern wir zumindest Arbeitsplätze.“ Außerdem habe sie zusammen mit der Unicef 2500 Frauen in Mopti, in einer von Dschihadisten bedrohten Region, in landwirtschaftlichen Kooperativen organisiert.

Um die hohen Verluste an Lebensmitteln dauerhaft zu senken, hat die Unternehmerin in einigen Räumen im Obergeschoss ein Weiterbildungsinstitut für junge Firmengründerinnen eingerichtet. Sie lernen dort, Ernteüberschuss zu konservieren, wie man etwa aus Tomaten Pulver und Paste herstellt. Dazu kommt ein theoretischer Part, in dem sie lernen, ihre Marktchancen zu bewerten, einen Businessplan zu erstellen und ihre Produkte zu vertreiben. Vierwöchige Fortbildungen diese Art gebe es in Mali noch nicht, sagt Diakite. „Den Menschen hier fehlt es nicht an Ehrgeiz und Arbeitswillen – aber oft an dem notwendigen Know-how.“ Know-how, das sie nur allzu gern weitergibt.

JONATHAN FISCHER

SZ 23.8.2022

IHR WISST NICHTS. UND IHR KÖNNT UNS NICHTS. DENN WIR FÜRCHTEN NUR GOTT Der Musiker Vieux Farka Touré tritt aus dem Schatten seines legendären Vaters Ali Farka Touré. Für die Islamisten in Mali hat er eine klare Botschaft. Sein Wüstenblues wird auf der ganzen Welt geliebt, aber in der Heimat wartet das kritischste Publikum. Das hat einen speziellen Grund.

Wenn Vieux Farka Touré nicht gerade auf Tournee in Europa oder Nordamerika ist gehört sein Sound zur Akustik von Bamako. Sein Wüstenblues prägt die Nächte der westafrikanischen Metropole. Selbst wenn man nicht vor einer der Freiluftbühnen am Niger sitzt, trägt der Wind die bluesigen Riffs bis in die Nachbarviertel, kann man noch am gegenüberliegenden Ufer zu den hypnotisch schaukelnden Rhythmen seiner Band tanzen. Eine Ngoni-Laute kratzt aufreizend. Die E-Gitarre wirbelt Blue Notes herum. Und dann noch dieser wunderbar melancholische Gesang! Das wirkt wie ein archaisches Gebet inmitten der lauten schmutzigen Niger-Metropole, dieses Gewimmels von Marktplätzen und maroden Kleinbussen. Tatsächlich reichen die Klänge der Band Jahrhunderte zurück. Mit den vom Niger an den Mississippi verschleppten Sklaven bildeten sie einst die Fundamente des Blues. Und doch vernimmt Vieux Farka Touré in Bamako stets auch ein paar maulende Stimmen: „Er kopiert doch nur den Vater“, sagen die einen. Oder auch: „Was haben diese Rockgitarren in der Musik der Songhai verloren?“

Dazu muss man ein, zwei Dinge wissen: Vieux Farka Touré ist der Sohn und Erbe des Sängers und Gitarristen Ali Farka Touré, des Mannes also der den sogenannten Desert Blues weltweit popularisierte, und dem es zu verdanken ist, dass heute westliche Musiker von Damon Albarn bis Robert Plant auf der Suche nach den Roots nach Mali pilgern, Hipster wie Black Keys Produzent Dan Auerbach mit Musikern aus dem Sahel aufnehmen, ja die Zukunft des Pop gerne mal vom Niger her gedacht wird. Als sein Vater 2007 starb, war Vieux als dessen Nachfolger prädestiniert. Und wusste erst mal nicht, wie er diese Ehre tragen sollte: „Du kannst nicht einfach das selbe spielen wie dein Vater“, sagt Vieux, traditionelles besticktes Damastgewand und modische Brille, während einer Arbeitspause in seinem „Ali Farka Touré“-Studio. Zwar stammt die Familie aus Niafunké in der Region Timbuktu, aber allein in Bamako können malische Musiker halbwegs überleben. „Dank meiner Amerika-Tourneen“, sagt Vieux, „geht es mir nicht schlecht. Aber um auch in Mali anerkannt zu werden, muss ich meinen eigenen Weg finden. Und das kann schwer sein.“

Und dann gibt es noch eine Herausforderung: Mali hat womöglich das kritischste Publikum der Welt – zumindest wenn es um Musik geht. Dass aus dem Land, es gilt als eines der ärmsten Afrikas, seit Jahrhunderten legendäre Musiker kommen, hat eben auch ein gewisses Niveau der Musikrezeption bewirkt. Wer neu ist muss sich messen lassen: Etwa an Sängern wie Salif Keita und Oumou Sangaré, Ngoni-Virtuosen wie Bassekou Kouyaté, Koraspielern vom Schlag eines Toumani Diabate oder Ballaké Sissoko, rockenden Tuaregbands wie Tinariwen. Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Auch deshalb hat sich Vieux Farka Touré für sein siebtes Album ungewöhnlich viel Zeit gelassen. Drei Jahre lang habe er daran gearbeitet: „Ich habe in der Vergangenheit stets ein bisschen Reggae, Funk oder Rock zur Melange hinzugefügt. Aber nun ging es für mich zurück zu den Wurzeln: Welche Instrumente, welche Arrangements passen da? Es fühlte sich so an, als würde ich für die Nachbarn vor meiner eigenen Haustür spielen. Oder mich – wie früher – mit meiner Gitarre ans Nigerufer in Niafunké setzen“.

Um es vorwegzunehmen. „Les Racines“, veröffentlicht beim britischen Label World Circuit – Heimat unter anderem des Buena Vista Social Club – ist Tourés Meisterstück. Sublime Bluesmeditationen wie „Lahidou“, das sanft rollende Liebeslied „Flany Konare“ oder „Les Racines“ mit seiner Flamenco-Perkussion und den brütenden Gitarrenriffs sind schon jetzt Klassiker. Songs für die Ewigkeit. Und Liebesbriefe an den Vater. Dieser hatte Vieux oft auf seine Reisen und Tourneen mitgenommen. Und ihm erstmal abgeraten, Musiker zu werden. Warum? „Er wollte mich beschützen“, erklärt der Sohn. „Ich sollte nicht die gleichen Enttäuschungen erleben wie er.“ Sein Vater sei von den eigenen Managern betrogen worden und oft mit leeren Taschen von Konzerttouren in Frankreich zurückgekehrt. Vieux solle lieber zum Militär gehen. Die Menschen zu beschützen sei genau so wichtig, wie sie zum Tanzen und Singen zu bringen. Am Ende aber

tauschte Vieux seine Gitarre

nicht gegen eine Kalashnikov ein – aus gutem Grund: „Musik ist die mächtigste Waffe in unserem Land. Sie bedeutet mehr als Unterhaltung. Viel mehr. Einerseits dient sie als Kitt für den sozialen Zusammenhang – und dann transportieren die Songs stets Botschaften“.

Der Musiker erzählt von den Reisfeldern, wo die Bauern bei der Arbeit Musik hören. Von Landbewohnern, die zwar kein Fernsehen und keine Zeitung kennen, aber immer ihr kleines Radio dabeihaben. Von dem Gros der Bevölkerung, das zwar nicht lesen und schreiben, aber viele Texte auswendig kann. „Alles was sie in ihrem Leben lernen entstammt unseren Songs“.

Der Musik, die in ihrer Kargheit und Anmut an die Arrangements des Vaters erinnern, hat Vieux dringliche Botschaften zur Seite gestellt. Etwa „Ngala Kaourene“ mit seinem Appell an die Einheit der Malier über alle ethnischen Grenzen hinweg. Oder „Gabou Ni Tie“: Hier tadelt er Jugendliche, die sich der traditionellen Erziehung und den Ratschlägen ihrer Eltern entziehen. Dafür macht er die Texte der Nachwuchsmusiker verantwortlich: „Sie singen: Ich liebe diese Frau. Sie hat einen großen Arsch und macht mich verrückt. Die wahren Musiker Malis aber drehen sich nicht nur um sich selbst. Sondern um die Belange der Gemeinschaft“. Wen er mit den wahren Musikern denn meine? Vieux schwärmt von der Popdiva und Frauenrechtlerin Oumou Sangaré. Oder auch von Rappern wie Master Soumy. Dessen sozialkritische Botschaften träfen ins Schwarze. Er selbst, sagt Vieux, mache sich viele Gedanken um seine Lyrics. Oft handeln sie von Familienkonflikten. Von Eifersucht. Und wie man Streitigkeiten friedlich beilegt. Direkt in die Politik aber wolle er sich nicht einmischen. Nur die Dschihadisten adressiert Ali Farkas Sohn unverblümt. Sie hatten während ihrer Besetzung des Norden Malis im Jahre 2012 Musiker mit dem Tod bedroht, und deren Instrumente verbrannt: „Ich singe ‚Ihr seid gekommen, um die Musik anzuhalten. Aber ihr wisst nichts. Und ihr könnt uns nichts.Denn wir fürchten nur Gott“.

Auch zehn Jahre nach der Befreiung der Städte des Nordens durch die Franzosen bleibt es für die Musiker gefährlich. Weite Landstriche sind der Kontrolle der Regierung entglitten, ganze Dörfern wurden von islamistischen Terroristen niedergemetzelt. Der Militärcoup vor einem Jahr, das Zerwürfnis der Übergangsregierung mit Frankreich und das Embargo der ECOWAS-Nachbarländer gegen Mali hat die Krise noch verschärft. Außerhalb von Bamako ereignen sich täglich Überfälle. Trotzdem tourt Vieux Farka Touré nach wie vor. „Vor meinen Auftritten in Niafunké, Diré und Timbuktu hatten mir die Dschihadisten Warnungen geschickt. In letzter Zeit sind immer wieder Musiker entführt worden. Aber wir hatten unsere Vorkehrungen getroffen“. Vieux Farka Touré sagt, niemand könne ihn von seiner Mission abbringen: Die Musik seines Vaters weiterzutragen. Und die Sehnsucht nach einem friedlichen, toleranten Mali am Leben zu erhalten.

Inzwischen unterrichtet er in seinem Studio auch junge Musiker und Tontechniker. Zwei Ratschläge Ali Farka Tourés seien ihm dabei besonders wichtig. Langsamkeit – als Gegengift zu den überhandnehmenden Fastfood-Pop-Produktionen aus dem Laptop. Und Verzicht. „Mein Vater hat mir beigebracht, wie wichtig es ist, die Musik einfach zu halten. Wenn du das neue Album hörst, merkst du dass ich nicht viel Lärm mache. Weil gerade die schlichteste, gelassenste Musik am meisten zu Herzen geht“.

Vieux Farka Touré „Les Racines“ (World Circuit)

JONATHAN FISCHER

Die Welt, 22.7.2022

Photo: Kiss Diouara

Rilke lerntRumba

Die Verhältnisse sind kompliziert, die Nächte lang,
und alle warten auf diesen einen Song:
Der federleicht schwingende Roman des
kongolesischen Autors Fiston Mwanza Mujila
aus Graz über das untergehende Zaire

Dieser Roman riecht nach Schweiß, nach Klebstoff und Bier. Er nähert sich den Hoffnungen und Enttäuschungen, dem ganzen Irrwitz des postkolonialen Afrika von ganz unten, aus der Perspektive kongolesischer Minenarbeiter, Glücksritter und Straßenkinder. Sie wollen überleben, versuchen aus dem Niedergang des korrupten Regimes des Diktators Mobutu ihre Vorteile zu schlagen. In Fiston Mwanza Mujilas „Tanz der Teufel“ bersten eine Menge Träume. Und doch hat der Roman so überhaupt nichts Schweres an sich.

  Das mag an der satirischen Einfärbung liegen und an der Musik im Ohr: Immer rauscht im Hintergrund die Rumba. Ihre silbrigen Gitarren und honigsüßen Gesänge konterkarieren den Verfall mit federleichtem Swing. Man sollte diesen Roman unbedingt zur Musik von Papa Wemba, von Camille Feruzi, Wendo Kolosoy und Tabu Ley Rochereau lesen. Der Soundtrack des zentralen Handlungsorts, einer Bar namens „Mambo de la Fete“, besteht daraus. Und sie bringt Mujilas Figuren erst zum Tanzen. „Diese Seiten“, schreibt der aus Lubumbashi stammende, aber seit mehr als zehn Jahren in Graz lebende Schriftsteller im Nachwort, „wurden oft in der Nacht geschrieben, zu südafrikanischem Jazz … und zairischer Rumba“.

  Was wäre der Kongo – zur Zeit des Romans heißt das Land noch Zaire – ohne sein Nachtleben? In den Nachrichten präsentierte sich das Land schon damals als Ort der Korruption und blutiger Bürgerkriege. Dass genau hier auch diese liebliche Tanzmusik gedeiht und alle Unbill übertönt, das ist ein wiederkehrendes Wunder. Polizisten und Gauner, Geschäftsmänner und Prostituierte lassen sich allabendlich im „Mambo de la Fete“ von der Rumba bezirzen. Und auch die Straßenkinder vom Lubumbashi zieht es an diesen magischen Ort: Hier werden Fantasien Wirklichkeit, die sonst nur der Klebstoff-Rausch möglich macht. Hier werden die Diamanten aus den Minen auf der anderen Seite der angolanischen Grenze verflüssigt.

  Die späten Mobutu-Jahre scheinen alle Spielregeln auf den Kopf zu stellen: „Man kann am Abend als armer Teufel ins Bett gehen, als ärmster Teufel der Welt, und am nächsten Morgen als Minister oder Kriminalinspektor oder sogar als bevollmächtigter Botschafter der Republik Zaire in Nordkorea oder dem Königreich Belgien aufwachen …. Das war die einzige Möglichkeit dieses Landes, allen seinen Kindern eine Chance zu geben … denn Geld ist wie Glück, es braucht Mut, um es zu kriegen, egal auf welchen Wegen es zu einem kommt.“

  Vordergründig geht es hier um das Glücksspiel der Straße. Um eine Generation junger Zairer, die weder ein reiches Elternhaus noch Bildung oder Beziehungen haben – dafür aber jede Menge Fantasie und Ambition. Da sind Sanza, Molakisi und Ngungi, die aus ihren Familien weggelaufen sind, um sich auf den Straßen als Männer zu bewähren, die Klebstoff schnüffeln, um dann per Flugzeug in geheimnisvolle Welten voller Schlösser, Champagner und Bediensteter zu reisen. Da sind der ehemalige Geschichtslehrer und Politaktivist Magellan, der vom Aufstand träumt, und der Geheimdienstfunktionär Monsieur Guillaume, der die Straßenkinder als Spitzel rekrutiert und von deutschen Dichtern schwärmt.

  Und da ist schließlich Tshiamuena, die Madonna der Minen von Cafunfo: Sie behauptet, zweihundert Jahre alt zu sein, früher in Japan gelebt zu haben und hellseherische Fähigkeiten zu haben. Sie wacht über die Schürfer, die auf der anderen Seite der Grenze in Angola Diamanten suchen. In einer Welt, in der jeder nur sich selbst der Nächste ist, gibt sie eine Art Heiligenfigur ab. Doch ihre Ratschläge zählen nicht viel. Die alten Hierarchien sind außer Kraft gesetzt.

  Mujila springt zwischen den Perspektiven, erzählt mal in Ich-Form, dann wieder wie ein jovialer allwissender Märchenonkel. Dass diese Brüche nicht stören, liegt an der Agilität und dem Charme seiner Sprache. Er sehe sich in der Tradition von Ernst Jandl, sagt Mujila. Indem er mit den Worten spiele, schaffe er eine andere Ebene: „Wir Kongolesen bemühen uns, eine neue satirische Sprache zu finden, um dem Theater der Grausamkeiten etwas entgegenzusetzen.“

  Bisweilen streut Mujila urkomische Überlebensweisheiten in die Erzählung. Oder legt steile Kurven in den Plot: etwa wenn ein ehemaliges Straßenkind zum Erzbischof aufsteigt, der „die Schlafkrankheit heilte, familiäre Flüche abwendete, Nachtehemänner und andere Nachtehefrauen abwehrte“ – natürlich gegen Beteiligung am Werk des Herrn von hundert Dollar. Mujilas heiter-lakonischer Ton muss sein. Er hält den Leser emotional auf Distanz, lässt Absurdität und Willkür lachhaft erscheinen. Zwischen Gaunerei und Grazie, Glückseligkeit und Größenwahn passt nicht viel Moral. Schon gar nicht im „Mambo de la Fete“. Der titelgebende „Tanz der Teufel“, im französischen Original heißt der Roman „La Danse du Vilain“, ist der Song, auf den alle Gäste hier warten. Eine Stunde und 39 Minuten dauert er, ein Exzess um seiner selbst willen. Selbst Franz Baumgärtner, ein österreichischer Schriftsteller aus St. Pölten und Stammgast der Bar, trommelt dazu fieberhaft auf den Tisch, fühlt sich an das Gejaule von Zebras erinnert und hört „blasphemische Redundanzen wie bei Günter Baby Sommer“.

  Mujilas Faszination für die Bar als gesellschaftliches Panoptikum befeuerte bereits sein gefeiertes Debüt „Tram 83“ und kehrte als „New Jersey Bar“ in seinem am Deutschen Theater in Berlin und am Burgtheater in Wien aufgeführten Theaterstück „Zu der Zeit der Königinmutter“ wieder. Inspiriert hat ihn seine Jugend: „Meine Großeltern hatten eine Bar, ich habe dort die Welt entdeckt.“

  Mujila wurde 1981 in Lubumbashi, der Bergbaustadt im Süden Kongos, geboren, studierte Literaturwissenschaft und kam 2009 nach Graz, wo er bis heute lebt und an der Universität afrikanische Literatur unterrichtet. Er schreibt Theaterdramen, Opernlibrettos auf Deutsch und Französisch, führt seine Texte mit Jazzmusikern auf oder wie im Januar 2021 gar mit dem Symphonieorchester Berlin. Und er liebt die japanische Chanteuse Hibari Misora, deren Song „Mambo de la Fete“ in „Tanz der Teufel“ einfließt.

  Er fühlt sich als vieles gleichzeitig: europäischer Schriftsteller, Kosmopolit und Kongolese. Seine Themen findet er im Zaire seiner Jugend, dessen Musik und Mythologien er in Aufzählungsorgien verpackt. Seine Sprache lässt den sensorischen Überfluss der Bar seiner Großeltern aufleben, wo er in den Schulferien Stühle räumte, Bierkästen schleppte und lernte, Ennui auf Eskapismus und Rumba auf Rausch zu reimen.

  Raffiniert, wie Mujila sein spiegelverkehrtes Alter Ego Franz Baumgärtner in den „Tanz der Teufel“ schickt. Der österreichische Schriftsteller kämpft in Zaire mit seiner Mehrfachidentität wie den Verlockungen des Nachtlebens. Und weil sein Romanprojekt stockt, rennt er stets mit einem Koffer voller Zettel herum – „hundert Sätze in erbärmlichem Zustand“.

  Auch der Geheimdienstler Guillaume, eigentlich für Bespitzelung, Sabotage, Erpressung und Entführung zuständig, bringt die Literatur ins Spiel. Wenn er nicht gerade Rumba hört, schwärmt er von Rilke, Kafka, Paul Celan, Wolfgang Borchert und dem slowenischen Dichter Srečko Kosovel. Wo sonst könne man etwas über „Exile, illegale Grenzübertritte, antiquiertes Vagabundieren“, ja die Leidenschaft an sich erfahren?

  Wenn Mujila verhandelt, was Literatur im Chaos vermag, dann webt er in seine Aliasse jede Menge biografische Fußnoten. Und spricht en passant über die großen Themen des postkolonialen Afrika: vom Raubbau an den Bodenschätzen über die innerafrikanische Migration bis zur Allgegenwart der Korruption. „Er zeigt die wachsende Kluft zwischen der afrikanischen Bevölkerung und der politischen Klasse, die sich nur selbst bereichert“, begründete die Jury die Auszeichnung von „Tanz der Teufel“ mit dem renommierten Prix Les Afriques. Nein, Hoffnung findet man in seiner Groteske kaum. Aber dafür jede Menge Musik – und ein paar Rhythmen, die alles, ja wirklich alles verzeihen lassen.

JONATHAN FISCHER

SZ 8.6.2022

HINAUS INS WELTALL, HINEIN IN DIE EINGEWEIDE

Dub: Wie jamaikanische Klangalchemisten vor einem halben Jahrhundert die Sprache des Pop radikal neu erfanden

Routiniert setzt der Mad Professor den Tonarm auf die Rille, dreht den Bassregler hoch: Eine gewaltige Druckwelle flutet aus den Boxen. Hosenbeine fangen das Flattern an, Cola-Gläser vibrieren auf den Tischen. Der Bass füllt den Raum wie eine gewaltige Trommel. „Ich werde den Teufel von der Leiter stoßen“ skandiert Lee Scratch Perry. Der kleine drahtige Typ mit den Tieramuletten um den Hals und einer spiegelgepflasterten Mütze über dem rotgefärbten Haar hüpft im Rhythmus, dreht zusammen mit seinem DJ an den Knöpfen. Ein irrwitziger Tanz zwischen Mensch und Maschine. Hall-Gedonner, Echoräume, Bässe rein, Bässe raus. Die zwei Legenden der jamaikanischen Dub-Kultur bringen den Münchner Blitz Club zum Wackeln. „Wenn man es das erste mal hört ist es unglaublich, unerträglich, mein Gott!“ schwärmte der englische Journalist Colin McGlashan 1973 nachdem er eine Nacht unter dem Einfluss eines Soundsystems verbrachte: „Aber man gewöhnt sich daran. Erst wirst du langsam taub und dann ist da diese coole, coole Freude, ein besänftigendes High. Eis im Rückgrat. Kein Schmerz“.

Das gilt auch noch über vier Jahrzehnte später. Das Soundsystem, dieses urjamaikanische Gespann aus einem Musik-auflegenden Selektah und einem darüber toastenden beziehungsweise rappenden DJ, ist da längst ein jamaikanischer Exportschlager. Musiker zwischen New York, London, Tokio, Rio und Luanda haben sich von dessen monströsen Basswellen und Musik-Collagen inspirieren lassen. Ja, die ganze Popkultur zehrt davon – HipHop, Elektro, House und Techno sind kaum denkbar ohne eine Erfindung aus den jamaikanischen Ghettos: Dub! Wenn Soundsystems Samstag abend ihre gewaltigen Boxentürme in einem Hinterhof oder einem Park aufbauen, dann geht es um mehr als laute Musik. Viel mehr! Dub, das ist das Ausweiden und geschickte Wiederzusammensetzen von Klängen, um maximale Wirkung auf der Tanzfläche zu erzielen. Entscheidend ist die Mischung. Bässe wie Abrissbirnen schieben, drücken, reißen Löcher in den Sound, Leerstellen, in die dann der DJ oder Toaster seine Vokalakrobatik einfügt, ein Gong, eine Schiffssirene oder auch eine Kuckucksuhr wie Botschaften aus einer anderen Welt hineinplatzen. Oder, wenn Lee Scratch Perry in Hochform ist, auch mal eine Spieldose mit Kuhgeräuschen: „Moooooooh!“

Schade nur, dass der durchschnittliche Popkonsument im Westen kaum etwas von den Ursprüngen dieser revolutionären Soundtechnik ahnt. Reggae kennt seit Bob Marley zwar die ganze Welt. Aber die Rolle der Produzenten dahinter, der Studio-Zauberer und Klangforscher, bleibt oft im Schatten. So war die Rezeption jamaikanischer Musik im Westen stets verzerrt: Irgendwann Ende der siebziger Jahre, Dreadlocks kamen gerade weltweit in Mode, stand in jedem mitteleuropäischen Jugendzimmer mindestens eine Bob Marley Platte. Doch kannte auch jemand Lee „Scratch” Perry, den jamaikanischen Produzenten und Klang-Alchimisten, dem Marley seinen internationalen Durchbruch zu verdanken hatte? Wusste jemand von den Klangforschungen des Elektronik-Pioniers King Tubby?

Die alten Reggae-Aufnahmen bedeuten für die westliche elektronische Musik der Gegenwart, was der Blues einst für die Rockstars der sechziger und siebziger Jahre war. Ein heiliger Gral, versteckt auf den B-Seiten alter Reggae-Singles an: Sie enthielten stets eine experimentell abgemischte Version des Songs. Diese sogenannten Dubs sollten die Blaupause für zeitgenössische Studiomusik liefern. Ihre Technik: Endlosschleifen, Halleffekte, das phasenweise Ein- und Ausblenden der Bässe und mehrfach übereinander geschichtete Tonspuren. „Ich hatte nur vier Spuren auf meiner Bandmaschine”, so Perry über seine legendären Aufnahmen aus den siebziger Jahren, „aber eine außerirdische Truppe stellte mir zwanzig weitere Spuren zur Verfügung. ”

Wenn Perry auch den Mystiker des Dub gab, erfunden hatte ihn ein anderer: Osbourne Ruddock alias King Tubby. Bereits als Teenager hatte er sich für Elektronik interessiert und defekte elektrische Apparaturen von den Straßen in Kingston zusammengeklaubt. Für ihre ehemaligen Besitzer waren sie nichts als Müll. Aber King Tubby lernte, aus ihren Komponenten Verstärker zu basteln. Und Lautsprecherboxen. Basslastige Boxen, die wie zugeschnitten waren auf die Bedürfnisse der Sound Systems. Bald arbeitete die Mehrzahl der jamaikanischen DJs mit King Tubbys Müllgeräten. Der Elektrotechniker betrieb in Kingston nicht nur ein Geschäft für Radioreparaturen – sondern richtete Anfang der 70er Jahre in einem leer stehenden Schlafzimmer ein Heimstudio ein. Hier brachte Tubby die Musiker und seinen selbst gebastelten Vier-Spur-Mixer unter, während ein Wandschrank als Gesangskabine diente. Bald schickten die wichtigsten Produzenten Jamaikas ihre Künstler in Tubbys Schlafzimmer.

Die Offenbarung des Dub verdankte er einem Zufall: Tubby produzierte Platten für Duke Reids Treasure Isle Label und als Perfektionist musste er – etwa wenn ein Sänger etwas falsch gesungen hatte – den Gesang von seiner Begleitung trennen. Übrig blieb der Instrumentaltrack, das Schlagzeug und der Bass. Tubby entdeckte, wie aufregend brutal das klingen konnte. Körperlich wie ein Magenschwinger. Prickelnd wie ein über die Wirbelsäule geriebener Eiswürfel. Und weil die Soundsystems Kingstons eine Art Freiluft-Musiklabore darstellten, testete Tubby mit seinem Home Town Hi-Fi-System die Effekte auf der Tanzfläche. Er hatte die Instrumental- und Gesangsparts eines Songs auf vier Dubplates – das sind auf metallene Schallplatten gepresste Mixe – verteilt. Als er in der nächsten Nacht hinter dem Mischpult seines Soundsystems stand, ließ er die Vokalspur des Stücks nach nur einer Zeile in einem starken Echo verenden, bevor die Basslinie in voller Wucht einsetzte. Dub – die neue Technik muss auf die Tänzer sensationell gewirkt haben. Sie forderten: Rewind! Noch einmal von vorne! Der Tanz dauerte angeblich stundenlang – mit King Tubbys vier selbst geschnittenen Platten als einziger Musik.

Tubby hatte ein Geheimnis entdeckt: Seine Dub-Plates beeinflussten das menschliche Nervensystem auf eine Weise, wie man es sonst nur von aufputschenden und angstlösenden Drogen kannte. Sie umging den Frontallappen, schoss direkt ins Stammhirn. Im Studio manipulierte er die verschiedenen Instrumente mit Hall und Echo-Verzörgerungs-Effekten; er ließ Gesangsstimmen, Gitarren, Bläser abrupt in und aus dem Mix fallen; er reduzierte einen Song auf den nackten Rhythmus, um ihn dann durch Schichten von Lärm, Verzerrung und elektrostatischen Effekten zu jagen. Dazu baute sich Tubby Mischpulte, die ihm erlaubten, Tonspuren wie Teppichfäden miteinander zu verweben. Wenn es notwendig war, schlug der Produzent auch mal mit der flachen Hand auf sein Halleffekt-Gerät: So etwa erschuf er den berüchtigten „Donnerschlag“-Effekt. „Er konnte“, sagte Produzent Bunny Lee, „Musik aus den Fehlern machen, die ihm andere Leute brachten“. Tubby wechselte einfach die Spuren, tauschte einen Gesang durch ein Instrument aus, sägte Löcher in den Sound. Und das sogar live. „Du konntest ihm beim lenken und dirigieren zuschauen, wie einem Busfahrer oder Orchester-Maestro. Und jedes Mal kam etwas anderes dabei raus“.

Der Sänger Lee Perry war einer von King Tubbys Kunden. Der Junge vom Land hatte Arbeit beim legendären Produzenten Clemend Coxsone Dodd in dessen Studio One gefunden, und stieg bald von der Hilfskraft zum Plattenverkäufer, Talentsucher und Produzenten auf. Schon damals bastelte er an seiner Legende: so behauptete er etwa, dass er aus dem Krachen von Felsbrocken prophetische Stimmen vernommen habe, die ihm befohlen hätten aus seinem Heimatdorf Kendal nach Kingston zu gehen. Was er an Tubbys Mischpult hörte, nahm er als Basis eigener Dub-Experimente. Dafür baute sich Perry Anfang der 70er Jahre einen Ort, der es in punkto mythischem Glanz leicht mit Picassos Atelier oder Bill Gates Programmier-Garage aufnehmen kann: Das Black Ark Studio. Hier, im Kingstoner Vorort Washington Gardens, produzierte Perry auf einem verbeulten, über lediglich vier Tonspuren verfügenden Bandmaschine einige der größten Klassiker des Reggae: Max Romeos „War In A Babylon“ etwa, Junior Murvins „Police And Thieves“ oder eigene Stücke wie „Roastfish & Cornbread“. Stets am Rande des Wahnsinns. Und trotzdem – oder gerade deswegen – unerreicht genial.

„Ich spüre etwas wie eine heilige Schwingung. Ein göttliches Schütteln“, erklärte Perry einmal. Sieht man eines der Videos des Dub-Schamanen wie er Anfang der 70er Jahre in seinem legendären Black Ark-Studio in Kingston um die Mix-Konsole tanzt, barfuß, und einen glühenden Spliff zwischen den Lippen, ist klar dass hier womöglich wirklich die „Kräfte des Weltalls“ mitwirken. Perry jedenfalls versteht sich als „Trickster“. Und seine Dubs als Medizin für Körper und Seele. Der drahtige Produzent – von HipHoppern wie den Beastie Boys als Guru der Sample-Technik verehrt – vertraute dabei auf eher ungewöhnliche Methoden. Mal baute er das Rauschen von Blättern in seine Rhythmen ein, mal vergrub er sein Mikro unter einer Palme.Auf die fertigen Mastertapes blies er Ganja-Rauch, um deren schmutzige magische Klangqualität zu sichern. Später soll er aus denselben Gründen auch Geldscheine verzehrt, Benzin getrunken und Bananen angebetet haben.

Doch sobald sich der Wahnsinn in eine musikalische Form verdichtet hatte, galt Perry als unschlagbar: Er war der erste, der zerberstendes Glas, rückwärtslaufende Bänder oder auch Samples von Regentropfen und Kinderspielzeug in seine Songs einbaute. Das brachte ihm einen Ruf. Und die Aufwartung eines jungen Jamaikaners namens Robert Nesta Marley. Perry schuf ihm seinen typischen Sound. Der Sound-Schamane ersetzte die milden, dem amerikanischem Pop entlehnten Love Songs von „Bob , Rita, Peter“ durch Geisterbeschwörungen und Rastafari-Parolen, brachte Roots-Reggae-Bässe und apokalyptische Bläser ins Spiel, machte aus einem leidlich guten Sänger einen weltweit gefeierten Rebellen. Die Black Ark galt fortan als Mythos. Später sollten selbst Rocker wie Paul McCartney, Robert Palmer oder The Clash zu Perrys pilgern.

Perry hatte das Tonstudio – ursprünglich ein Ort der Dokumentation von Musik – in einen quasi-religiösen Ort verwandelt. Der mit Federn, Spiegeln und Talismanen behängte Produzent glaubte an die Macht jamaikanisch-afrikanischer Spiritualität. „Das Studio muss wie ein lebendiges Wesen sein“, sagte er einmal „Die Maschinen müssen leben und intelligent sein. Dann stecke ich meinen Geist in die Maschine, indem ich ihn durch Knöpfe und Regler schicke“. Man kann Perrys Studiophilosophie – so futuristisch sie wirken mag – auch anders erklären: Als Rückkehr nach Afrika. Der Reggae-Historiker Lloyd Bradley etwa sieht Dub als Anwendung von Heilungszeremonien der jamaikanischen Obeah-Praktiken auf die Musik.

Vor allem aber stellte Dub eine radikale Art des Recycling dar. In einer armen Gesellschaft geboren, gehörte der Gedanke der Wiederverwertung zum täglichen Leben. Dazu kam, dass Copyrights in Jamaika nicht viel galten. Es gehört zur lokalen Pop-Tradition, vorgefertigte Rhythmen für Dutzende verschiedener Sänger und Songs wiederzuverwerten. Sogenannte Versions zu produzieren. Produzenten wie Perry, Tubby und ihre Jünger konnten selbst geflopten Songs neues Leben einhauchen. Ihre Teile nicht nur einfach „remixen“, wie es heute jeder Laptop-Bastler mit handelsüblicher Software im Schlafzimmer tut. Sondern sie analog auseinandernehmen, um ihre Elemente wie einen Berg Legosteine zu etwas völlig neuem zusammensetzen. „Musik“, sollte der New Yorker HipHop-Produzent Hank Shocklee in Nachfolge der jamaikanischen Paten behaupten, „ist nichts als organisierter Lärm“.

Bei Perry nahm dieses Organisieren manische Züge an: Wo andere Produzenten ein Werk für fertig erklären, mischte, schnitt und verzerrte er weiter, brachte Spielzeug-Geräusche und Fernsehdialoge in den Mix. Und ließ sich von wechselnden Studiobands, bei denen unter anderem Sly Dunbar, Robbie Shakespeare, Augustus Pablo und Vin Gordon mitwirkten, immer neue Instrumentaltracks einspielen. „Es konnte schwierig für uns sein, seinen Anweisungen zu folgen“, erinnert sich Leroy Sibbles, der Kopf der legendären Heptones. „Weil er dich aufforderte, Dinge zu singen oder zu spielen, die keinen Sinn zu machen schienen. Aber er hatte schon einen Plan, wie sie später in ein größeres Ganzes passen würden“. Das ständige Schichten und Überspielen der Spuren von einem Band auf das Andere produzierte den typischen „Black Ark“ Sound: Weich, warm, organisch ausgefranst..

Das Ende des Black Ark Studios blieb so rätselhaft wie die gesamte Arbeitsweise von Lee Scratch Perry. Der Produzent hatte die Wände seiner Wunderkammer mit hunderten von Nonsense-Graffiti beschmiert. 1979 aber begann Perry – seine Frau Pauline hatte ihn verlassen, während Jamaikas Musikszene von einer Welle der Gewalt und der Drogenkriege lahmgelegt wurde – jeden einzelnen Buchstaben wieder auszustreichen. Er war schon immer exzentrisch gewesen. Nun aber sah man ihn mit einem Hammer den Boden bearbeiten, rückwärts gehen, tagelang ein Stück Maden-durchsetztes Fleisch auf dem Kopf spazieren tragen. Gerade so als könne er all die verrückten Stimmen, die Perry mit seiner Musik bannen wollte, nicht mehr im Zaum halten. Dass er sein Studio anzündete, war da kaum noch überraschend: “Ich musste die Dämonen loswerden“, sagte Perry im Rückblick, „Denn der Teufel war gekommen, um sich Gottes Musik, Gottes Wort und Gottes Song zu holen“.

Lee Scratch Perrys Mythos aber erwies sich als unzerstörbar. Selbst als er eine ehemalige Schweizer Domina heiratete, mit ihr und seinen Kindern in einer Villa über dem Züricher See lebte, und sich dort im Waschkeller ein neues „White Ark” Studio einrichtete, konnte er lange Listen mit Produktionsanfragen füllen. Denn das Ende der Black Ark war nicht das Ende von Dub. Im Gegenteil. Die Technik des Ein- und Ausfädelns von Tonspuren wurde vielmehr zur Grundlage der Remix-Kultur des westlichen Pop, stand bei Kool Hercs frühen Blockparties in der Bronx Pate bei der Erfindung des HipHop, lieferte den New Yorker Pionieren des Disco-Mix, Tom Moulton und Walter Gibbons, die entscheidende Idee zur Verlängerung der Tanz-Ekstase.

„Mein Geheimnis?“, sagte der letztes Jahr verstorbene Perry bei einem Interview und ließ sein meckerndes Gelächter erklingen. „Ich bin kein menschliches Wesen, sondern ein Moskito und manchmal auch ein Fisch. Mein Metier sind Wasser-Wissenschaft, Wasser-Erziehung, Wasser-Erscheinungen“. Klingt verschwurbelt. Aber lässt sich über die Fluidität und spirituelle Potenz von Dub nicht leichter mit Bässen und Echos sprechen? Wer heute King Tubby und Lee Perry wiederhört, der findet ihn immer noch: Den Tunneleingang in andere Formen des Bewusstseins. Der Religionshistoriker Robert D. Pelton hat einmal die Verwandtschaft moderner Wissenschaftler und traditioneller westafrikanischer Trickster-Figuren folgendermaßen erklärt: „Beide versuchen, sich mit dem Fremden anzufreunden, nicht so sehr um dessen Anomalie zu reduzieren, sondern als Eingangstür zu einer höheren Ebene“. Dub führt in diesem Sinne weiter, was Jimi Hendrix, Charlie Parker und alle Apostel des „organisierten Lärms“ seit jeher beabsichtigten. Die Gitterstäbe der Wahrnehmung zu verbiegen. Den Raum zu erweitern: Hinaus ins Weltall, hinein in die Eingeweide.

JONATHAN FISCHER

in gekürzter Form erschienen in der NZZ 21.5.2022

Senegal findet den Superstar

In Senegal gibt es eine reiche Kulturszene, doch keine entsprechende Infrastruktur. Da half nun das deutsche Goethe-Institut – und organisierte einen Talentwettbewerb.

Eine Reportage von Jonathan Fischer, Dakar

„Me and my homies“, diese paar Fetzen Englisch stechen aus den auf Wolof-Diola-Französisch vorgetragenen Raps von PB Style hervor wie der Nike-Swoosh unterseinem traditionellen afrikanischen Umhang. Immer wieder schleudert der Rapper seine Verse über den Groove der Liveband, bevor der musikalische Direktorabwinkt: „Nochmal, der Einsatz muss stimmen …“Im Théàtre National Daniel Sorano im Herzen der senegalesischen Hauptstadt Dakar proben seit Tagen bereits drei Tanzkompanien, drei Theaterensembles und vier Musiker für das Finale von Sunu Talents, einem mit deutscher Hilfe organisierten landesweiten Wettbewerb. Es ist so etwas wie Senegal sucht den Superstar, nur ohne RTL. Das Finale aber wird live übertragen, im senegalesischen Fernsehsender 2sTV. Sunu Talents heißt auf Wolof so viel wie „unsere Talente“.Die kommen aus Saint-Louis, aus Thiès, aus Saloum. Oder aus der Casamance, der ländlichen Gegend im Süden des Senegals, die nach dem gleichnamigen Flussbenannt ist und als Krisengebiet gilt. Niemand von ihnen, das sagen sie alle, hätte sich jemals vorgestellt, hier vorprächtiger Kulisse aufzutreten, vor Fernsehkameras und bei den Proben bereits Dutzenden Journalisten. Die Aufregung ist groß. Im Vorraum zum großen Theatersaal mit seinen samtbezogenen Sitzreihen schminken sich Schauspielerinnen, werden Instrumente gestimmt, fliegen Komplimente und Frotzeleien hin und her. Gesangscoaches dirigieren die Parts des gemeinsamen Motto-Songs. Ein Choreograf klebt Markierungen auf die Bühne. Und der Lichttechniker, dessen seit Tagen erarbeitete Einstellungen auf dem antiquiertenanalogen Equipment verlorengingen, ruft leicht entnervt noch einmal Szene für Szene auf. Der feierlichen Stimmung aber tut das keinen Abbruch.

Der Wettbewerb nutze die Ökonomie der Aufmerksamkeit, sagt Philip Küppers,der Direktor des Goethe-Instituts in Dakar, im Theater abseits der Generalprobe.“Der Senegal ist zentralistisch auf Dakar ausgerichtet, so gut wie alle Infrastrukturkonzentriert sich hier“, sagt Küppers. „Der kulturelle Reichtum des Landes aberliegt vor allem in den Regionen.“Küppers, ein schlaksiger Typ mit verschmitztem Jungs-Lächeln, scheut kein offenes Wort: Klar bekäme er immer wieder zu hören, warum denn deutsche Steuergelder bitte die Partys senegalesischer Musiker finanzieren sollten. Was fürein paternalistisch eingefärbtes Missverständnis! Es gehe vielmehr darum, alsPartner aufzutreten, Künstlerinnen und Künstlern eine nationale und womöglich gar internationale Perspektive zu geben. „Es gibt eine riesige Kluft zwischen der Szene im Senegal und dem Organisationslevel des deutschen Kulturbetriebs“, sagt Küppers. Also leiste er nun hier Vorarbeit. Küppers kennt sich damit aus, wie Kultur und vor allem Musik Menschen verbindet. Bevor er beim Goethe-Institut anheuerte, hat er für die Weltmusikmesse WOMEX gearbeitet, in Kabul eine Musikschule aufgezogen, HipHop-Filme in Brasilien gedreht und Musiker aus der ganzen Welt zum Projekt Africourage in Gambia zusammengebracht. Sunu Talents ist vor allem Küppers Idee und zugleich der Testlauf für ein Kulturförderungsprogramm namens „Stimmen des Landes“. Küppers sagt: „Wir nutzen deutsches Medien- und Organisations-Knowhow, um senegalesische Künstler aus dem Off ins Rampenlicht zu rücken, um den unterrepräsentierten Regionen eine Stimme zu geben“. Küppers ist kein white saviour, er ist vor allem jemand mit einer spezifischen Expertise, die sich praktisch anwenden lässt, wo sie(noch) nicht vorhanden ist. Und er hat ein Budget dafür zur Verfügung.“Stimmen des Landes“ könnte der Kulturszene des Senegal einen lange erhofften Anschub geben. Statt irgendwelche plakativen Auftritte mit deutschen Gästen zu veranstalten, hat sich das Goethe-Institut in Dakar zum Ziel gesetzt, für die Menschen vor Ort etwas aufzubauen. Entwicklungskooperation also mit Nachhaltigkeitseffekt. Es könnte ein für Afrika beispielhaftes Modell werden.Küppers erzählt von seiner Erfahrung, dass es in den senegalesischen Regionen zwar ein ungeheures Potential an kulturellen Traditionen gebe – aber wederMusikschulen noch anständige Studios oder Veranstaltungsorte, um die Künstlerinnen und Künstler auch angemessen in Szene zu setzen. Deshalb reiche es nicht, Talente zu fördern. Man brauche auch Infrastruktur. So finanziert das Goethe-Institut einen professionellen Studiengang für Toninginieure in Dakar und mehreren Regionalstädten und hat zwei Dutzend senegalesischer Kulturjournalisten im Rahmen eines „Journalistischen Salons“ Weiterbildungen angeboten. „Wir vergessen oft“, sagt Küppers, „dass die Wertschätzung eines Künstlers eben auch von kompetenten Technikern und Journalisten abhängt.Kultur ist nur so gut wie seine Präsentation.“Bei Sunu Talents sollten alle Rahmenbedingungen stimmen. Über die sozialen Medien erreichte die Idee auch Leute vom Land wie den Rapper LPS Boy de Thianaff, der mit solarbetriebenen Laptops arbeitet und für eine gute Tonaufnahme erst in die nächste Stadt reisen muss. Über 300 Bewerbungen gingen ein. Einerseits von Menschen, die ihre Wettbewerbssongs zum Teil mit ihrem Handy auf der Bettkante sitzend aufgenommen hatten; andererseits Musiker, Tänzerinnen und Theaterensembles, die bereits einen gewissenregionalen Ruhm mit sich brachten.50 der Bewerber erhielten Stipendien von jeweils 400 Euro für ein professionell gemachtes Video. „Da sind coole Sachen entstanden“, schwärmt Küppers, „dieman so vorher noch nie gesehen hat“, nachzuschauen sind sie auf der Sunu-Talents- Website des Goethe-Instituts. Eine sechsköpfige heimische Jury unterPatenschaft von Sänger Baaba Maal, Rappern und Veteranen der Theater- und Tanzszene entschied über das Weiterkommen. Nach der nächsten Runde blieben21 Künstler und Ensembles übrig. Sie bekamen Einladungen zu lokalen Residenzen, dort wurden sie von senegalesischen Musikcoaches, Choreografinnen,Dramaturgen, Technikern betreut.

„Niemand glaubte an ein Gelingen“

Das Vorhaben schien selbst Senegal-Kennern verwegen: „Niemand glaubte an einGelingen“, sagt Küppers. „Aber am Ende sind wir mit einem Truck voller angemietetem Equipment und zwei Bussen zehn Wochen lang durch sieben Regionalstädte Senegals getourt und haben dort jeweils eine Woche Workshop veranstaltet. Und zum Abschluss hochprofessionelle Shows produziert. An Orten,die manchmal als einzige Bühnentechnik zwei Neonröhren an der Decke hängen hatten.“Es sei so gewesen, „als ob uns jemand von der Straße auf eine Weltbühne geholt hätte“, sagt Amina Diol. Mit ihren vier Kollegen und Kolleginnen von der Theatergruppe Copin’art  aus der 200.000-Einwohnerstadt Saint-Louis bestreitet sie im Grand Theatre de Dakar letzte Proben. Es wird getanzt, gestikuliert und fast schon Rap-tauglich im Chorgesprochen. Ihr Stück hinterfragt mit viel Witz die überlieferten Rollen von Mann und Frau in afrikanischen Gesellschaften, ja, was männlich und weiblich überhaupt bedeuten könnte, in Familie, Erziehung, Sprache. Die herrschenden Geschlechterverhältnisse sind ein dringliches Thema in Senegal, die Performances der anderen beiden Finalistenensembles im Theaterwettbewerb handeln von erzwungenen Ehen und der elterlichen Hausarbeitsaufteilung.“Bisher mussten wir tatsächlich auf der Straße üben“, sagt Diol. Und welche Auftrittsmöglichkeiten gab es? „Wenn wir einer Schule einen Theaterkursangeboten haben, dann haben wir das Stück am Ende gegen Eintritt im Schulhof gezeigt. Das wars dann aber schon.“ Wie die meisten senegalesischen Schauspielerinnen und Schauspieler können Diol und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter nicht von ihrer Theaterarbeit leben. Um Geld zu verdienen arbeiten sie als Busschaffner, Telefonreparateur, Verkäuferin, Verwaltungsangestellte oder Imker. Was hat Sunu Talents für sie verändert? „Wir haben uns dank des Coachings professionalisiert“, sagt Diol. Nicht nur das Selbstbewusstsein sei gewachsen. Der vom Fernsehen übertragene Auftritt im Theatre Sorano wirke auch auf den Rückhalt der Familien zurück, in Senegal ein nicht zu unterschätzender Faktor.“Obwohl das Theater über die Griots eine lange Tradition bei uns hat, kritisierten uns viele der Älteren. Jetzt werfen sie uns nicht mehr vor, unsere Zeit zu vergeuden“. Die Mitglieder von Copin’art hat das in ihren Träumen beflügelt, genauso wie die von References aus Saint-Louis und die von Etoiles de Saloum.

Alhamdulillah. Lob sei Gott!

Die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), Partner des Goethe-Instituts bei der Durchführung von Sunu Talents, hat einen attraktiven Preis ausgelobt, die Sieger gewinnen eine Tour durch ganz Senegal mit Aussicht auf internationale Engagements. Einige der Finalisten haben schon vor Sunu Talents von deutscher Entwicklungskooperation profitiert. Etwa Roger Sarr, ein Tänzer aus Saint-Louis, der mit Hilfe des GIZ-Programms „Reussir en Senegal“(„Erfolgreich sein im Senegal“) Workshops für Jugendliche anbietet. „Eine ganze Generation von Jugendlichen im Senegal ist mit HipHop infiziert“,sagt der drahtige Tanztrainer. Die Jugendlichen nähmen selbst stundenlange Fußmärsche in Kauf, nur um etwas über Beatmaking, Graffiti oder Breakdance zu lernen. Zusammen mit Aly Johnson und Ibrahima Ndiaye vom Breakdance-Duo Idol Boyz aus Thiès sitzt Sarr gerade über Hühnchen und Reis in der Kantine des Nationaltheaters. „Wir sehen uns nicht nur als Tänzer, sondern auch als gesellschaftliche Sprachrohre“, sagt Ndiaye. Die fünfminütige Tanzperformance der Idol Boyz handelt von der klandestinen Migration per Piroge Richtung Europa.“Das Schicksal der vielen Ertrunkenen berührt uns sehr“, sagt Ndiaye. Nur sei die Frage, wie realistisch die Träume derjenigen seien, die etwa aus Senegalaufbrechen. „Wir erzählen in unserem Stück von denjenigen, die vielleicht einDiplom gemacht haben, jetzt aber im Senegal keine Arbeit finden“, sagt Ndiaye:“Ein junger Mann steigt kurzentschlossen in ein Boot. Wir tanzen seine Verzweiflung und Getriebenheit. Aber dann sagen wir auch: Nein, das ist keine Lösung.“

In Tanz-Workshops in Thiès und anderen Städten vermitteln die Idol Boyz immer auch HipHop-Geschichte. Diskutieren gesellschaftliche und politische Zusammenhänge. Stiften Hoffnung: „Schau uns an“, sagt Aly Johnson, und da weiß er noch nicht, dass die Idol Boyz später zu den Gewinnern gehören werden:“Wir verdienen uns etwas mit Hühnerzucht, Tierfutterhandel und Hausreparaturen hinzu. Aber mit harter Arbeit kann man hier im Senegal bleiben und erfolgreich sein. Alhamdulillah“, Lob sei Gott.

Das Finale von Sunu Talents beginnt. Die Veranstaltung bekommt etwas von einer High-Society-Gala, aber mit der Atmosphäre eines Fußballspiels. Nationale Fernsehprominenz und Kulturgrößen sitzen im Publikum, ebenso Botschafter ausverschiedenen EU-Mitgliedstaaten. Die Stimmung aber machen die angereistenFans aus den Regionen, die ihre Leute auf der Bühne mit lautem Gejohle, Getanzeund einstudierten Songs anfeuern. Die Bewerber haben je fünf Minuten Auftrittszeit, außerdem dürfen alle Teilnehmer in einem Kurzvideo je ihre Heimatstadt (oder ihr Dorf ), die Familie und Freunde vorstellen. Dramaturgischgeschickt kommt der Musikwettbewerb zum Schluss.Da tritt dann etwa Oumar Fouta auf, ein schmaler junger Mann aus Saint-Louis, erhat eine akustische Gitarre umgehängt. Wie ein glockenheller Gebetsruf schneidetsein Gesang durch den Saal. Tatsächlich hat Fouta seinen Weg als Musiker mit derDarbietung von Korangesängen auf Familienfeiern begonnen, heute klingt seinFolk-Soul entsprechend heilig. Die Allstar-Band des Sunu-Talents-Wettbewerbs, die die Finalteilnehmer musikalisch unterstützt, unterlegt Foutas Vortrag mit einemRhythmus, der von traditionellen Instrumenten wie Kora, Ngoni und Balafon befeuert ist .Deren Klänge ergänzen auch die live eingespielten Beats der nachfolgenden HipHop-Auftritte. Thiès L’Esprit etwa trägt messerscharfe Wolof-Raps vor. Bevor LPS Boy de Thianaff die Bühne betritt, wird ein Video über sein Dorf eingespielt,aus dem bereits ersichtlich wird: LPS Boy de Thianaff präsentiert hier nicht so sehrein HipHop-Ego, er repräsentiert stolz eine lokale Kultur. Melodramatik wie gemacht für einen Fernsehabend.

Am Ende aber fliegen die Herzen der Zuschauerinnen und Juroren im Theater Daniel Sorano in Dakar PB Style alias Lasane Sane zu. Dass der den US-Rapper Kendrick Lamar] als Inspirationsquelle nennt, überrascht nur auf den ersten Blick. Denn wie sein Vorbild vereint der HipHopper aus der Casamance in seinem Auftreten wie in seinen Songs Sensibilität und soziale Militanz. In dem Video, das PB Style für Sunu Talents gedreht hat, sind seine diola-französische Raps mit traditionellen Trommelrhythmen unterlegt. Auf den Bildern sieht man den 27-Jährigen neben seiner tanzenden, Machete-schwingenden Crew durch die üppigen Palmwälder seiner Heimatstadt Bignona reiten; PB Styles Gesicht ist,ebenso wie sein Pferd, nach Art eines Initiationsritus bemalt. So verbindet das Video lokale Folklore mit einer Art, nun ja, Gang-Symbolik. Als Baaba Maal, der Schirmherr des Wettbewerbs, PB Style schließlich die Siegertrophäe für den Musikwettbewerb übergibt, laufen dem Rapper Tränen über das Gesicht. PB Style schluchzt, er braucht eine Minute, bevor er überhauptsprechen kann. „Ich widme meinen Sieg meiner Mutter, die gerade eine schwere Operation überlebt hat“, sagt er dann. „Sie hat immer an mich geglaubt. Und ichmöchte ihr etwas zurückgeben.“ Melodramatik, wie gemacht für einen Fernsehabend. Als sich der Saal leert, scheinen alle Beteiligten – ob sie nun gewonnen haben odernicht – in Siegerlaune. Im Vorraum des Theaters stehen die Besucher Schlange, umsich einzeln und in Gruppen von professionellen Fotografen ablichten zu lassen.Souvenirfotos eines gesellschaftlichen Großereignisses

Drei Tage später nimmt PB Style die tägliche Propellermaschine von Dakar nach Ziguinchor. Von der Hauptstadt der Casamance sind es dann nur noch eine halbeStunde Taxifahrt nach Hause zum verschlafenen Marktflecken Bignona. Schon auf den Straßen in Ziguinchor wird er immer wieder von Wildfremden durchs offene Autofenster angesprochen. „Danke, dass du uns repräsentiert hast“, ruft jemand,ein anderer „Du bist der Stolz der Casamance!“.Der Bezug zur regionalen Kultur war ein explizites Auswahlkriterium der Sunu-Talent-Jury für die Künstlerinnen und Künstler. Darüber hinaus repräsentiert PB als einziger Sohn seiner Eltern einen in ganz Afrika unschätzbaren moralischen Wert: Familiensolidarität. Dass er all sein Erspartes für den Krankenhausaufenthalt der Mutter ausgegeben hat, das Wohlergehen seiner gebrechlichen Eltern ganz von seinen Gelegenheitsjobs als gelernter Videotechniker abhängt, das findet der Rapper selbstverständlich.Der Zustand seines Elternhauses erweist sich dann als tatsächlich traurig. Neben dem Wohnzimmer, wo sich fadenscheinige Sofas um einen Fernseher gruppieren, befindet sich eine Ruine. Das Dach des Schlafzimmers seiner Mutter sei vor zwei Wochen eingestürzt, sagt PB Style, er habe notdürftig ein Blech über das Lochlegen lassen. Zum Glück sei seine Mutter beim Einsturz des Daches nicht im Hausgewesen, sondern unterwegs. „Mashallah“, wie Gott wollte. Nun springt seine jüngere Schwester dem heimgekehrten Sunu-Talents-Sieger in die Arme. Die Mutter zeigt auf den staubigen Hinterhof: Hier habe ihr Junge jede Nacht mitseinen Freunden Musik und Theater gespielt. „Nur wenn ich seinen Lärm höre,kann ich beruhigt schlafen“, sagt sie.

Bignona hat einen neuen Helden, und örtliche Jugendgruppen ebenso wie der Bürgermeister haben bereits feierliche Zeremonien angekündigt. PB Style aber willnoch einen Freundschaftsbesuch bei seinem Sunu-Talents-Konkurrenten LPS Boy de Thianaff absolvieren.

„Jetzt hört mir die ganze Welt zu“

Dessen Wohnort, das 200-Seelen-Dorf Thianaff, das er in seinem Rapper-Namen verewigt hat, ist nicht mal auf Google Maps verzeichnet. Wer könnte sich auch für einen derart einsamen Ort in der Casamance im Süden Senegals interessieren? Nach dreißig Kilometer Irrfahrt in das weit größere und bekanntere Thanaff findet der Taxifahrer doch noch die richtige Abzweigung. Eine Lehmpiste, die durch Sumpfgebiete und Palmwälder führt ins Hinterland. Es gibt dort, stellt sich heraus,weder fließend Wasser gibt noch Strom. Seit der Liveübertragung im Fernsehen aber weiß ganz Senegal von der Existenz Thianaffs. Dass LPS Boy de Thianaff sein Heimatdorf im Namen trägt, signalisiert HipHop-Lokalpatriotismus in der Tradition des Ausrufens der heimischen boroughs der US-Vorbilder, nur dass Thianaff eben nicht die Bronx oder South Central L.A. ist. LPS wartet, umringt von einer großen Kinderschar, im Schatteneines Mangobaums am Eingang seines Dorfes. Der Rapper und Tänzer hat seine Sonnenbrille in die Stirn geschoben, er trägt wie stets eine traditionelle Muschelkette um den Hals und seine Kopfhörer wie eine Art Helm um den Hinterkopf gezwängt. Der Aufzug könnte ihm selbst in New York Coolness-Punkte einbringen.

Doch cool ist das falsche Wort für LPS. Er strahlt über das ganze Gesicht, fällt den Besuchern um den Hals, trommelt die Nachbarn zusammen. Fünf Sekunden Händeschütteln für jeden, das ist hier das mindeste. Auf dem Weg durchs Dorffinden sich viele Teilhaber des Erfolgs. Vom Dorfladenverkäufer, bei dem früher zusammen Musik gehört wurde, bis zum Lehrer, der dem Rapper bei den Lyrics geholfen haben will. „Früher galten wir als hinterster Busch“, sagt LPS und lacht sein meckerndes Lachen. „Jetzt kommen die Stars aus ganz Senegal in unser Dorf.“ Die Stars: Damit ist vor allem PB Style gemeint, der Gewinner von Sunu Talents. Die Leute rufen ihm zu: „Wir haben dich im Fernsehen gesehen!“, „Gratuliere zum Sieg!“ oder „Ihr Zwei macht der Casamance Ehre!“. Fast jeder und jede will ein Selfie mit PB Style.

„Sie glauben, dass wir von gestern sind“

Genau eine Woche ist es her, dass die Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes hier unter dem Mangobaum um einen mit Solarpaneelen betriebenen Fernseherherum saßen. So erzählen sie es: Wie sie ihren Jungen anfeuerten, als der in seinem traditionellen muschelbestickten Kostüm wie ein Derwisch über die Bühne des Nationaltheaters in Dakar fegte. Als am Ende PB Style die Trophäe

entgegennahm, da hatten sie in Thianaff trotzdem gesiegt, weil LPS das Dorf inseinem Kurzvideo vorgestellt hatte – und damit eine vielen Senegalesen schlichtunbekannte regionale Kultur. Balant heißt die Ethnie in und um Thianaff. Sieunterscheiden sich in Sprache, Musik und Bräuchen von den Diola, zu der sich PB Style zählt.“Der Senegal ist so reich an Kulturen“, sagt PB. „International anerkannte Künstlerhaben sich bei unseren Rhythmen und Melodien bedient. Aber die Hauptstadtmedien und die Musikindustrie in Dakar ignorieren uns. Viele der Menschen dort haben Vorurteile gegen uns angebliche Hinterwäldler. Sie glauben,dass wir von gestern sind.“Auf dem Rückweg nach Bignona, PBs Heimatort, passiert das Taxi eine traditionelle animistische Heilungszeremonie. Tänzer und schreiende Menschenversperren die Straße, rennen kreuz und quer über die Fahrbahn, sobald sich zweiunter roten und braunen Faserkostümen vermummte Gestalten nähern. Sieschwingen Macheten, schießen mit Pulverflinten in die Luft. „Sie repräsentieren unsere Schutzgeister“ erklärt PB, „ihre Waffen dienen dazu, böse, krankmachende Mächte abzuschrecken.“ Als 14-jähriger habe er eine ähnliche Zeremonie mitgemacht.

PBs winziges Zimmer in einem anderen Gebäudeteil als dem mit dem eingestürzten Dach ist gleichzeitig sein Heimstudio. Neben Kühlschrank, Mikrowelle, Stereoanlage und Kleiderschrank passt gerade noch sein Bett. An der Wand ist eine Schallplatte angenagelt. Früher habe er auch Bücher besessen, vorallem von seinem Lieblingsautoren Jean Paul Sartre, sagt PB. Die aber habe er an Freunde verschenkt. Seine erste Investition gelte nun seiner Musik. Bisher habe er alles mit der Musiksoftware Fruity Loops (die mittlerweile FLStudio heißt) auf dem Computer gebastelt, sagt PB. Aber seit Sunu Talents wisse er nun, wie gut seine Songs mit einer richtigen Band klingen. Sobald das Hausrenoviert sei, werde er alle seine Musikerfreunde zusammentrommeln – um mitihnen zu üben. Zunächst für die Senegal-Tour der Sunu-Talents-Sieger. Und dann …PBs Handy klingelt, so wie seit zwei Tagen eigentlich ständig. Es ist ein Fernsehsender aus Ziguinchor. Man wolle am Samstag ein einstündiges Live-Interview mit ihm senden. Pas de probleme. Wieder klingelt es. Diesmal wirkt der Rapper aufgeregt: Ein großes Festival in Marokko habe ihn eingeladen. „Jetzt hörtmir die ganze Welt zu – dank dieser Leute von Goethe. Ich hatte ja nie gedacht, in Dakar aufzutreten. Warum also nicht demnächst bei euch?“ PB lacht und schüttelt seinen Rasta-Zopf. Der Titel seiner Welt-Tournee stehe zumindest schon fest: „VonBignona nach Berlin“

Wo Afro zum Punk kommt

In Dakar arbeitet er an der Zukunft des Afro-Pop. Ein Besuch im Studio des irischen Musikproduzenten Liam Farrell alias Doctor L.

Eine sandige Strasse im Handwerkerviertel im Norden Dakars, wo quietschende Flaschenzüge Ziegelsteine für eine der vielen Baustellen transportieren. Durch offene Türen hört man das Rattern von Nähmaschinen. Ab und zu fährt ein Taxi mit aufgedrehter Musik vorbei: schnulzige Keyboard-Sounds, schmachtende Gesänge, Trommelwirbel. Der Stil heisst Mbalax. Es ist urbaner, senegalesischer Pop, wie ihn Youssou N’Dour rund um die Welt getragen hat.

Hinter einer rötlichen Fassade mit vergitterten Fenstern regiert ein andersartiger Sound. Hier dreht Doctor L an den Reglern seines Heimstudios und zieht dabei an einem Joint: «Ganz Westafrika hat sich von schlechtem westlichem Pop verführen lassen. Interessante Sounds findest du nur noch abseits der Charts.»

Sounds aus urbanen Hinterhöfen

Der drahtige Ire im Tank-Top, den Rasta-Schopf zusammengebunden, muss es wissen. Er hat die letzten beiden Jahrzehnte jedes liebliche Klischee von sogenannter Weltmusik zum Einstürzen gebracht. Er hat kongolesische und malische Folkmusik mit elektronischen Sounds verschmolzen und verzerrte Beats produziert, die auf die Avantgarde-Klubs zwischen New York, Paris und Tokio zielen.

Die Widersprüche, der Schmutz, das rohe Hinterhof-Geschehen afrikanischer Megacitys: Sie haben Liam Farrell alias Doctor L stets als Aufputschdroge gedient und den früheren B-Boy zur Hochform auflaufen lassen: «Ich suche den Geist des frühen Hip-Hop nun in der örtlichen Musikszene hier», sagt Farrell und tigert mit seinem Joint nervös zwischen dem mit afrikanischen Stoffen verhängten Studio und seiner Sneaker-Sammlung im Gang hin und her – «in Dakar bekomme ich zu Spottpreisen Sneaker-Modelle, von denen ich früher nur träumte.»

Aus den Boxen bollern tiefe Bässe. Dazu ein schleppender Beat. Und die nasal klagenden Gesänge der Mbaye Fall, einer islamischen Sufi-Sekte, die in Senegal viele Anhänger hat. Der Sänger heisst Mara Seck, er ist Doctor Ls grosse Hoffnung. «Solche Aussenseiter interessieren mich mehr als die lokale Klubmusik», sagt er. «Weil ihre Sounds unfertig sind, kann ich etwas Neues, Interessantes daraus basteln.» Der Ire unterstreicht Wörter wie «Aussenseiter» und «unfertig» mit nervösen Handbewegungen. «Ich versuche so, die punky Seite afrikanischer Musik hörbar zu machen, ihren anarchischen Kern einzufangen.»

Ist das nicht eine europäische, eine «weisse» Idee? Farrell lacht über die Frage. Die Ideologie von Schwarz und Weiss und der Zwang, alles danach einzuteilen, hätten ihm schon oft die Arbeit erschwert. «War es nicht schon immer das produktive Chaos, aus dem die interessante Musik entstand?» Als Ire könne er allerdings gewisse afrikanische Bedenken gut nachvollziehen. Schliesslich gälten die Iren als die «Schwarzen» Europas: «Wir haben unseren Wert nie gesehen. Weil wir arm waren, unsere Rechte nichts zählten, wir 600 Jahre lang unter einem britischen Quasi-Kolonialregime lebten.»

Farrell erzählt von seiner Kindheit in Nord-Dublin, wo man im Winter die Pferde als Heizung in die Wohnung brachte. Wo sich Jugendliche an Tankstellen trafen, um Kleber zu schnüffeln. Und wo man schon bei Geburt als «Loser» galt. «Irische und schwarze Kultur standen sich schon immer nahe. Das hat mit einem geteilten Aussenseiterwissen zu tun.»

Vielleicht deshalb hat es Doctor L an Orte wie Kinshasa in der Demokratischen Republik Kongo gezogen. Dort fand er in Strassenkünstlern, mittellosen Studenten und musizierenden Rollstuhlfahrern seine Verbündeten. Während zehn Jahren produzierte er die Musik von Bands wie Mbongwana Star oder Kokoko!. Sein letztes Projekt, Bantou Mentale, kombinierte Folk, Electronica und den Lärm der kongolesischen Metropole. «Megacitys wie Kinshasa bilden einen Schmelztiegel der Traditionen und Stile, sie sorgen für ein Ambiente zwischen Verzweiflung und Lebensgier, wie es auch für das New York der achtziger Jahre typisch war. Es ist diese rohe Beseeltheit, die ich als Produzent suche.»

Tatsächlich prägte einst ein Aufenthalt in New York den Stil von Doctor L. Hier lernte er Michael Clip kennen, den Sänger des Funk-Gurus George Clinton. Clip weihte ihn ins Universum des P-Funk ein und inspirierte ihn zu gewagten Funk-Rock-Fusionen. Später kombinierte Doctor L seine Funk-Leidenschaft mit Elektronik. Das mündete etwa in die grossartigen Produktionen für Tony Allen: Dem ehemaligen Schlagzeuger von Fela Kuti verhalf er mit Alben wie «Black Voices» zu einer zweiten Karriere.

Noch immer bleibt die Frage im Raum: Kann man als weisser Produzent schwarze Musik produzieren, ohne in die Postkolonialismus-Falle zu tappen? Er kenne europäische Musikproduzenten, denen gegenüber Misstrauen durchaus angebracht sei. «Warum arbeiten sie mit Afrikanern? Etwa weil sie als Musiker so viel billiger sind?»

Doctor L sieht sich selbst als Trickster und Vermittler. Als einen, der Verbindungen schafft, das Neue ermöglicht, indem er scheinbar widersprüchliche Ideen zusammenbringt. «Afrikanische Kulturen haben schon immer Fremdes adaptiert», sagt er. «Das geht über die reine Musik hinaus, es reicht in die Philosophie und die Kunst hinein.»

Authentizität ist Quatsch

Als Beispiel nennt Doctor L den kongolesischen Rumba: Die ersten Musikproduzenten in Kongo seien Griechen gewesen, die nebenbei Platten mit Bouzouki-Musik verkauft hätten. Folglich übernahmen die kongolesischen Gitarristen ihre Skalen von transponierten Bouzouki-Akkorden, die sie wiederum mit importieren kubanischen Rhythmen verbanden.

All das Gerede von Authentizität sei doch Quatsch. Habe nicht Fela Kuti mit Ginger Baker zusammengearbeitet? Wer wäre Bob Marley ohne Chris Blackwell (den Gründer des berühmten Labels Island Records)? Und stamme die interessanteste ghanaische Pop-Musik heute nicht aus dem Studio des Berliner Funk-Pioniers Max Weissenfeldt?

In dieser Linie schwarz-weisser Kooperationen verortet sich auch der irische Produzent. Die Grenzen verliefen in der senegalesischen Gesellschaft eher zwischen den Klassen und Ständen – die Herkunft aus Europa oder Afrika sei dagegen zweitrangig. «Ich kann so weiss sein, wie ich will», sagt er und grinst. «Wenn ich als Freak mit meiner Rastafrisur bei einer Party in Dakar aufkreuze, bin ich erst mal untendurch, weil ich ihnen zu wenig elegant und aufgeputzt erscheine.»

Sein neuestes Projekt könnte die Perspektiven miteinander versöhnen. Irland hat beschlossen, endlich eine Botschaft in Senegal zu eröffnen. Doctor L soll die Begleitmusik liefern: «Ich habe den Auftrag, ein Album mit irischen Rappern und ihren senegalesischen Kollegen zu produzieren.» Er zieht an seinem Joint, lacht und sagt: «Schwärzer geht es nicht.»

JONATHAN FISCHER

NZZ 10.2.2022