Monatsarchiv: Juni 2022

HINAUS INS WELTALL, HINEIN IN DIE EINGEWEIDE

Dub: Wie jamaikanische Klangalchemisten vor einem halben Jahrhundert die Sprache des Pop radikal neu erfanden

Routiniert setzt der Mad Professor den Tonarm auf die Rille, dreht den Bassregler hoch: Eine gewaltige Druckwelle flutet aus den Boxen. Hosenbeine fangen das Flattern an, Cola-Gläser vibrieren auf den Tischen. Der Bass füllt den Raum wie eine gewaltige Trommel. „Ich werde den Teufel von der Leiter stoßen“ skandiert Lee Scratch Perry. Der kleine drahtige Typ mit den Tieramuletten um den Hals und einer spiegelgepflasterten Mütze über dem rotgefärbten Haar hüpft im Rhythmus, dreht zusammen mit seinem DJ an den Knöpfen. Ein irrwitziger Tanz zwischen Mensch und Maschine. Hall-Gedonner, Echoräume, Bässe rein, Bässe raus. Die zwei Legenden der jamaikanischen Dub-Kultur bringen den Münchner Blitz Club zum Wackeln. „Wenn man es das erste mal hört ist es unglaublich, unerträglich, mein Gott!“ schwärmte der englische Journalist Colin McGlashan 1973 nachdem er eine Nacht unter dem Einfluss eines Soundsystems verbrachte: „Aber man gewöhnt sich daran. Erst wirst du langsam taub und dann ist da diese coole, coole Freude, ein besänftigendes High. Eis im Rückgrat. Kein Schmerz“.

Das gilt auch noch über vier Jahrzehnte später. Das Soundsystem, dieses urjamaikanische Gespann aus einem Musik-auflegenden Selektah und einem darüber toastenden beziehungsweise rappenden DJ, ist da längst ein jamaikanischer Exportschlager. Musiker zwischen New York, London, Tokio, Rio und Luanda haben sich von dessen monströsen Basswellen und Musik-Collagen inspirieren lassen. Ja, die ganze Popkultur zehrt davon – HipHop, Elektro, House und Techno sind kaum denkbar ohne eine Erfindung aus den jamaikanischen Ghettos: Dub! Wenn Soundsystems Samstag abend ihre gewaltigen Boxentürme in einem Hinterhof oder einem Park aufbauen, dann geht es um mehr als laute Musik. Viel mehr! Dub, das ist das Ausweiden und geschickte Wiederzusammensetzen von Klängen, um maximale Wirkung auf der Tanzfläche zu erzielen. Entscheidend ist die Mischung. Bässe wie Abrissbirnen schieben, drücken, reißen Löcher in den Sound, Leerstellen, in die dann der DJ oder Toaster seine Vokalakrobatik einfügt, ein Gong, eine Schiffssirene oder auch eine Kuckucksuhr wie Botschaften aus einer anderen Welt hineinplatzen. Oder, wenn Lee Scratch Perry in Hochform ist, auch mal eine Spieldose mit Kuhgeräuschen: „Moooooooh!“

Schade nur, dass der durchschnittliche Popkonsument im Westen kaum etwas von den Ursprüngen dieser revolutionären Soundtechnik ahnt. Reggae kennt seit Bob Marley zwar die ganze Welt. Aber die Rolle der Produzenten dahinter, der Studio-Zauberer und Klangforscher, bleibt oft im Schatten. So war die Rezeption jamaikanischer Musik im Westen stets verzerrt: Irgendwann Ende der siebziger Jahre, Dreadlocks kamen gerade weltweit in Mode, stand in jedem mitteleuropäischen Jugendzimmer mindestens eine Bob Marley Platte. Doch kannte auch jemand Lee „Scratch” Perry, den jamaikanischen Produzenten und Klang-Alchimisten, dem Marley seinen internationalen Durchbruch zu verdanken hatte? Wusste jemand von den Klangforschungen des Elektronik-Pioniers King Tubby?

Die alten Reggae-Aufnahmen bedeuten für die westliche elektronische Musik der Gegenwart, was der Blues einst für die Rockstars der sechziger und siebziger Jahre war. Ein heiliger Gral, versteckt auf den B-Seiten alter Reggae-Singles an: Sie enthielten stets eine experimentell abgemischte Version des Songs. Diese sogenannten Dubs sollten die Blaupause für zeitgenössische Studiomusik liefern. Ihre Technik: Endlosschleifen, Halleffekte, das phasenweise Ein- und Ausblenden der Bässe und mehrfach übereinander geschichtete Tonspuren. „Ich hatte nur vier Spuren auf meiner Bandmaschine”, so Perry über seine legendären Aufnahmen aus den siebziger Jahren, „aber eine außerirdische Truppe stellte mir zwanzig weitere Spuren zur Verfügung. ”

Wenn Perry auch den Mystiker des Dub gab, erfunden hatte ihn ein anderer: Osbourne Ruddock alias King Tubby. Bereits als Teenager hatte er sich für Elektronik interessiert und defekte elektrische Apparaturen von den Straßen in Kingston zusammengeklaubt. Für ihre ehemaligen Besitzer waren sie nichts als Müll. Aber King Tubby lernte, aus ihren Komponenten Verstärker zu basteln. Und Lautsprecherboxen. Basslastige Boxen, die wie zugeschnitten waren auf die Bedürfnisse der Sound Systems. Bald arbeitete die Mehrzahl der jamaikanischen DJs mit King Tubbys Müllgeräten. Der Elektrotechniker betrieb in Kingston nicht nur ein Geschäft für Radioreparaturen – sondern richtete Anfang der 70er Jahre in einem leer stehenden Schlafzimmer ein Heimstudio ein. Hier brachte Tubby die Musiker und seinen selbst gebastelten Vier-Spur-Mixer unter, während ein Wandschrank als Gesangskabine diente. Bald schickten die wichtigsten Produzenten Jamaikas ihre Künstler in Tubbys Schlafzimmer.

Die Offenbarung des Dub verdankte er einem Zufall: Tubby produzierte Platten für Duke Reids Treasure Isle Label und als Perfektionist musste er – etwa wenn ein Sänger etwas falsch gesungen hatte – den Gesang von seiner Begleitung trennen. Übrig blieb der Instrumentaltrack, das Schlagzeug und der Bass. Tubby entdeckte, wie aufregend brutal das klingen konnte. Körperlich wie ein Magenschwinger. Prickelnd wie ein über die Wirbelsäule geriebener Eiswürfel. Und weil die Soundsystems Kingstons eine Art Freiluft-Musiklabore darstellten, testete Tubby mit seinem Home Town Hi-Fi-System die Effekte auf der Tanzfläche. Er hatte die Instrumental- und Gesangsparts eines Songs auf vier Dubplates – das sind auf metallene Schallplatten gepresste Mixe – verteilt. Als er in der nächsten Nacht hinter dem Mischpult seines Soundsystems stand, ließ er die Vokalspur des Stücks nach nur einer Zeile in einem starken Echo verenden, bevor die Basslinie in voller Wucht einsetzte. Dub – die neue Technik muss auf die Tänzer sensationell gewirkt haben. Sie forderten: Rewind! Noch einmal von vorne! Der Tanz dauerte angeblich stundenlang – mit King Tubbys vier selbst geschnittenen Platten als einziger Musik.

Tubby hatte ein Geheimnis entdeckt: Seine Dub-Plates beeinflussten das menschliche Nervensystem auf eine Weise, wie man es sonst nur von aufputschenden und angstlösenden Drogen kannte. Sie umging den Frontallappen, schoss direkt ins Stammhirn. Im Studio manipulierte er die verschiedenen Instrumente mit Hall und Echo-Verzörgerungs-Effekten; er ließ Gesangsstimmen, Gitarren, Bläser abrupt in und aus dem Mix fallen; er reduzierte einen Song auf den nackten Rhythmus, um ihn dann durch Schichten von Lärm, Verzerrung und elektrostatischen Effekten zu jagen. Dazu baute sich Tubby Mischpulte, die ihm erlaubten, Tonspuren wie Teppichfäden miteinander zu verweben. Wenn es notwendig war, schlug der Produzent auch mal mit der flachen Hand auf sein Halleffekt-Gerät: So etwa erschuf er den berüchtigten „Donnerschlag“-Effekt. „Er konnte“, sagte Produzent Bunny Lee, „Musik aus den Fehlern machen, die ihm andere Leute brachten“. Tubby wechselte einfach die Spuren, tauschte einen Gesang durch ein Instrument aus, sägte Löcher in den Sound. Und das sogar live. „Du konntest ihm beim lenken und dirigieren zuschauen, wie einem Busfahrer oder Orchester-Maestro. Und jedes Mal kam etwas anderes dabei raus“.

Der Sänger Lee Perry war einer von King Tubbys Kunden. Der Junge vom Land hatte Arbeit beim legendären Produzenten Clemend Coxsone Dodd in dessen Studio One gefunden, und stieg bald von der Hilfskraft zum Plattenverkäufer, Talentsucher und Produzenten auf. Schon damals bastelte er an seiner Legende: so behauptete er etwa, dass er aus dem Krachen von Felsbrocken prophetische Stimmen vernommen habe, die ihm befohlen hätten aus seinem Heimatdorf Kendal nach Kingston zu gehen. Was er an Tubbys Mischpult hörte, nahm er als Basis eigener Dub-Experimente. Dafür baute sich Perry Anfang der 70er Jahre einen Ort, der es in punkto mythischem Glanz leicht mit Picassos Atelier oder Bill Gates Programmier-Garage aufnehmen kann: Das Black Ark Studio. Hier, im Kingstoner Vorort Washington Gardens, produzierte Perry auf einem verbeulten, über lediglich vier Tonspuren verfügenden Bandmaschine einige der größten Klassiker des Reggae: Max Romeos „War In A Babylon“ etwa, Junior Murvins „Police And Thieves“ oder eigene Stücke wie „Roastfish & Cornbread“. Stets am Rande des Wahnsinns. Und trotzdem – oder gerade deswegen – unerreicht genial.

„Ich spüre etwas wie eine heilige Schwingung. Ein göttliches Schütteln“, erklärte Perry einmal. Sieht man eines der Videos des Dub-Schamanen wie er Anfang der 70er Jahre in seinem legendären Black Ark-Studio in Kingston um die Mix-Konsole tanzt, barfuß, und einen glühenden Spliff zwischen den Lippen, ist klar dass hier womöglich wirklich die „Kräfte des Weltalls“ mitwirken. Perry jedenfalls versteht sich als „Trickster“. Und seine Dubs als Medizin für Körper und Seele. Der drahtige Produzent – von HipHoppern wie den Beastie Boys als Guru der Sample-Technik verehrt – vertraute dabei auf eher ungewöhnliche Methoden. Mal baute er das Rauschen von Blättern in seine Rhythmen ein, mal vergrub er sein Mikro unter einer Palme.Auf die fertigen Mastertapes blies er Ganja-Rauch, um deren schmutzige magische Klangqualität zu sichern. Später soll er aus denselben Gründen auch Geldscheine verzehrt, Benzin getrunken und Bananen angebetet haben.

Doch sobald sich der Wahnsinn in eine musikalische Form verdichtet hatte, galt Perry als unschlagbar: Er war der erste, der zerberstendes Glas, rückwärtslaufende Bänder oder auch Samples von Regentropfen und Kinderspielzeug in seine Songs einbaute. Das brachte ihm einen Ruf. Und die Aufwartung eines jungen Jamaikaners namens Robert Nesta Marley. Perry schuf ihm seinen typischen Sound. Der Sound-Schamane ersetzte die milden, dem amerikanischem Pop entlehnten Love Songs von „Bob , Rita, Peter“ durch Geisterbeschwörungen und Rastafari-Parolen, brachte Roots-Reggae-Bässe und apokalyptische Bläser ins Spiel, machte aus einem leidlich guten Sänger einen weltweit gefeierten Rebellen. Die Black Ark galt fortan als Mythos. Später sollten selbst Rocker wie Paul McCartney, Robert Palmer oder The Clash zu Perrys pilgern.

Perry hatte das Tonstudio – ursprünglich ein Ort der Dokumentation von Musik – in einen quasi-religiösen Ort verwandelt. Der mit Federn, Spiegeln und Talismanen behängte Produzent glaubte an die Macht jamaikanisch-afrikanischer Spiritualität. „Das Studio muss wie ein lebendiges Wesen sein“, sagte er einmal „Die Maschinen müssen leben und intelligent sein. Dann stecke ich meinen Geist in die Maschine, indem ich ihn durch Knöpfe und Regler schicke“. Man kann Perrys Studiophilosophie – so futuristisch sie wirken mag – auch anders erklären: Als Rückkehr nach Afrika. Der Reggae-Historiker Lloyd Bradley etwa sieht Dub als Anwendung von Heilungszeremonien der jamaikanischen Obeah-Praktiken auf die Musik.

Vor allem aber stellte Dub eine radikale Art des Recycling dar. In einer armen Gesellschaft geboren, gehörte der Gedanke der Wiederverwertung zum täglichen Leben. Dazu kam, dass Copyrights in Jamaika nicht viel galten. Es gehört zur lokalen Pop-Tradition, vorgefertigte Rhythmen für Dutzende verschiedener Sänger und Songs wiederzuverwerten. Sogenannte Versions zu produzieren. Produzenten wie Perry, Tubby und ihre Jünger konnten selbst geflopten Songs neues Leben einhauchen. Ihre Teile nicht nur einfach „remixen“, wie es heute jeder Laptop-Bastler mit handelsüblicher Software im Schlafzimmer tut. Sondern sie analog auseinandernehmen, um ihre Elemente wie einen Berg Legosteine zu etwas völlig neuem zusammensetzen. „Musik“, sollte der New Yorker HipHop-Produzent Hank Shocklee in Nachfolge der jamaikanischen Paten behaupten, „ist nichts als organisierter Lärm“.

Bei Perry nahm dieses Organisieren manische Züge an: Wo andere Produzenten ein Werk für fertig erklären, mischte, schnitt und verzerrte er weiter, brachte Spielzeug-Geräusche und Fernsehdialoge in den Mix. Und ließ sich von wechselnden Studiobands, bei denen unter anderem Sly Dunbar, Robbie Shakespeare, Augustus Pablo und Vin Gordon mitwirkten, immer neue Instrumentaltracks einspielen. „Es konnte schwierig für uns sein, seinen Anweisungen zu folgen“, erinnert sich Leroy Sibbles, der Kopf der legendären Heptones. „Weil er dich aufforderte, Dinge zu singen oder zu spielen, die keinen Sinn zu machen schienen. Aber er hatte schon einen Plan, wie sie später in ein größeres Ganzes passen würden“. Das ständige Schichten und Überspielen der Spuren von einem Band auf das Andere produzierte den typischen „Black Ark“ Sound: Weich, warm, organisch ausgefranst..

Das Ende des Black Ark Studios blieb so rätselhaft wie die gesamte Arbeitsweise von Lee Scratch Perry. Der Produzent hatte die Wände seiner Wunderkammer mit hunderten von Nonsense-Graffiti beschmiert. 1979 aber begann Perry – seine Frau Pauline hatte ihn verlassen, während Jamaikas Musikszene von einer Welle der Gewalt und der Drogenkriege lahmgelegt wurde – jeden einzelnen Buchstaben wieder auszustreichen. Er war schon immer exzentrisch gewesen. Nun aber sah man ihn mit einem Hammer den Boden bearbeiten, rückwärts gehen, tagelang ein Stück Maden-durchsetztes Fleisch auf dem Kopf spazieren tragen. Gerade so als könne er all die verrückten Stimmen, die Perry mit seiner Musik bannen wollte, nicht mehr im Zaum halten. Dass er sein Studio anzündete, war da kaum noch überraschend: “Ich musste die Dämonen loswerden“, sagte Perry im Rückblick, „Denn der Teufel war gekommen, um sich Gottes Musik, Gottes Wort und Gottes Song zu holen“.

Lee Scratch Perrys Mythos aber erwies sich als unzerstörbar. Selbst als er eine ehemalige Schweizer Domina heiratete, mit ihr und seinen Kindern in einer Villa über dem Züricher See lebte, und sich dort im Waschkeller ein neues „White Ark” Studio einrichtete, konnte er lange Listen mit Produktionsanfragen füllen. Denn das Ende der Black Ark war nicht das Ende von Dub. Im Gegenteil. Die Technik des Ein- und Ausfädelns von Tonspuren wurde vielmehr zur Grundlage der Remix-Kultur des westlichen Pop, stand bei Kool Hercs frühen Blockparties in der Bronx Pate bei der Erfindung des HipHop, lieferte den New Yorker Pionieren des Disco-Mix, Tom Moulton und Walter Gibbons, die entscheidende Idee zur Verlängerung der Tanz-Ekstase.

„Mein Geheimnis?“, sagte der letztes Jahr verstorbene Perry bei einem Interview und ließ sein meckerndes Gelächter erklingen. „Ich bin kein menschliches Wesen, sondern ein Moskito und manchmal auch ein Fisch. Mein Metier sind Wasser-Wissenschaft, Wasser-Erziehung, Wasser-Erscheinungen“. Klingt verschwurbelt. Aber lässt sich über die Fluidität und spirituelle Potenz von Dub nicht leichter mit Bässen und Echos sprechen? Wer heute King Tubby und Lee Perry wiederhört, der findet ihn immer noch: Den Tunneleingang in andere Formen des Bewusstseins. Der Religionshistoriker Robert D. Pelton hat einmal die Verwandtschaft moderner Wissenschaftler und traditioneller westafrikanischer Trickster-Figuren folgendermaßen erklärt: „Beide versuchen, sich mit dem Fremden anzufreunden, nicht so sehr um dessen Anomalie zu reduzieren, sondern als Eingangstür zu einer höheren Ebene“. Dub führt in diesem Sinne weiter, was Jimi Hendrix, Charlie Parker und alle Apostel des „organisierten Lärms“ seit jeher beabsichtigten. Die Gitterstäbe der Wahrnehmung zu verbiegen. Den Raum zu erweitern: Hinaus ins Weltall, hinein in die Eingeweide.

JONATHAN FISCHER

in gekürzter Form erschienen in der NZZ 21.5.2022