Monatsarchiv: April 2014

Die Archäologie des Pop: Der Frankfurter DJ Samy Ben Redjeb bewahrt die populäre Musik Afrikas vor dem Vergessen

Der Plattensammler, DJ und Labelbetreiber Samy Ben Redjeb erforscht und dokumentiert die Geschichte des afrikanischen Pop der Sechziger- und Siebzigerjahre. Er sieht sich zu allererst als Konservator, der diese Musik bewahrt, bevor sie verloren geht.

Er bedient aber auch einen Markt. Die Wiederveröffentlichungsregale der Plattenläden sind zum Bersten voll mit exotischer Musik: Nachdem jahrzehntelang selbst die entlegensten alten Funk-, Rhythm’n Blues-, Soul-, Reggae- und Jazzaufnahmen ihren Weg auf Vinyl-Nachpressungen, Sampler und CD-Boxen fanden, sind sensationelle Entdeckungen selten geworden. Stattdessen begeistern sich westliche Hipster und Pop-Avantgardisten seit einiger Zeit für unerforschtes Terrain: die Popmusik Afrikas und Südamerikas aus den Sechziger- und Siebzigerjahren. Fasziniert von ihrem Reichtum und den musikalischen Querverbindungen zu zeitgleichen Musikmoden des Westens, haben sich Dutzende von Labels der Hebung vergessener afrikanischer Popschätze verschrieben.

Samy Ben Redjeb aus Frankfurt gilt dabei neben mit seiner Plattenfirma Analog Africa als Pionier der Szene. Der deutsch-tunesische DJ, Plattensammler und Musikhistoriker hat seit 2002 über zwei Dutzend Kompilationen mit Musik von Zimbabwe bis Benin, Ghana bis Angola veröffentlicht.

SZ: Sie reisen einen guten Teil des Jahres auf der Suche nach alten Musikern, Produzenten und Musikaufnahmen quer durch Afrika. Was treibt Sie bei dieser Recherche an?

Ben Redjeb: Ich war Anfang der Neunzigerjahre als Tauchlehrer in den Senegal gekommen. Afrikanische Musik verband ich damals noch mit dem Klischee von Trommeltruppen in Stammestracht. Bis ich mein Hotel davon überzeugte, DJ-Abende mit afrikanischer Musik zu organisieren. In den Live-Clubs hatte ich mitbekommen, dass jenseits der Pop-Exporte nach Europa eine weitgehend unbekannte Musik-Szene existierte. Ich begann gezielt zu suchen: Und stellte fest, dass fast jedes afrikanische Land in den Siebzigerjahren unglaubliche Orchester hervorgebracht hatte. Diese Platten musste ich unbedingt finden! Ich habe dann als Steward bei Lufthansa angeheuert, um regelmäßig in Luanda, Harare oder Accra in alten Studios, Lagerhallen und Radiostationen wühlen zu können, ohne dann Übergewicht für Tausende von Vinylplatten zahlen zu müssen.

Die ersten Aufnahmen, die Sie auf Ihrem Label Analog Africa veröffentlichten waren hierzulande unbekannte Popbands der Siebzigerjahre aus Zimbabwe wie die Green Arrows oder die Hallelujah Chicken Run Band. Warum sollte das jemanden im Westen interessieren?

Ich hatte keine Ahnung, wie man eine Plattenfirma aufzieht. Aber ich glaubte etwas naiv daran, dass diese beseelte, ungehobelte Tanzmusik andere Menschen genauso anstecken würde wie mich selbst. An diesen dreißig, vierzig Jahre alten Aufnahmen ist ja nichts Museales. Sie gehören zum Weltkulturerbe wie der klassische Jazz, ihre Qualität hat alle Moden überdauert.

Was hat Sie denn spontan an dieser Musik so angezogen? Es gibt ja genügend moderne Popmusik in Afrika, die viel greifbarer ist.

Allein der Sound dieser Ära! Da arbeitete niemand mit Overdubs, es gab ja kaum Mehrspur-Studios. Man beließ die Musik genauso warm und spontan, wie sie tatsächlich live im Studio gespielt wurde. Alles wirkt da wie aus einem Guss. Und wenn ein berühmter angolanischer Musiker erst nach seinen Hits bemerkte, dass er zwei Saiten seiner Gitarre grundsätzlich falsch gestimmt hatte, berührt mich das mehr als alles, was ich aus der gegenwärtigen digitalen Musikproduktion kenne.

Sie sind nicht mehr der einzige, der heute die Afropop-Geschichte erforscht. Vor einem gutem Jahrzehnt begannen neben Analog Africa auch die englischen Labels Soundway und Strut, die Archive in Afrika zu durchwühlen. Fast zeitgleich entdeckten westliche Musiker wie Damon Albarn für sich die Musik Afrikas, machten hippe junge Bands von Brooklyn bis Tokio auf Afrobeat und Ethiopian Jazz. Warum der plötzliche Fokus?

Der neue Blick nach Afrika hängt sicher auch mit einer gewissen Übersättigung am amerikanischen Pop zusammen. Da war irgendwann alles ausgereizt. In Afrika aber konnten selbst versierte Musikliebhaber noch so viel Neues entdecken. Gerade die Fusionen von Soul, Funk, Jazz und Rumba mit jahrhundertealten afrikanischen Traditionen haben eine sehr komplexe Musik geschaffen.

Viele Wiederveröffentlichungs-Label haben den Ruch der Musikpiraterie. Profitieren die alten afrikanischen Musiker denn von dem Wiederveröffentlichungs-Boom?

Für mich ist es selbstverständlich, wenigstens den Autoren Lizenzen zu zahlen. Das nützt beiden Seiten. Denn die Komponisten erzählen mir oft die Geschichten zu den Songs, geben mir Hintergrundinformationen und verweisen mich an andere befreundete Musiker und Produzenten. Manchmal reise ich tagelang durch ein Land, nur um eine bestimmte Nummer zu finden, oder die dazugehörigen Bandmitglieder zu treffen. Natürlich rechnet sich das finanziell kaum. Aber mein Gewinn liegt eben auch darin, all diese großartigen Musiker kennen zu lernen.

Sie legen großen Wert darauf, in Ihren Booklets auch die Biografien und Geschichten all der Musiker darzustellen. Diese Interviews müssen doch mindestens so viel Aufwand kosten wie das Zusammentragen der Songs.

Man kann ein Kunstwerk mögen. Aber lieben tut man es erst, wenn man verstanden hat, wer die Person ist, die dahinter steckt. Zumal die einzelnen Biografien auch die politische Geschichte Afrikas widerspiegeln. Etwa in Ghana, wo der Bürgerkrieg Ende der Siebzigerjahre eine zweijährige Ausgangssperre mit sich brachte: Das zerstörte das Clubleben, ruinierte heimische Orchester und Musikindustrie. Danach begnügte man sich jahrzehntelang mit billigen synthetischen Beats. Man kann es also nicht unbedingt den Musikern anlasten, wenn eine alte Musik verloren geht. Regierungswechsel, Korruption, Piraterie und die Ausstattung der Bands – das hängt alles in einer großen Geschichte zusammen.

Wie reagieren die Musiker, wenn Sie sie anrufen und nach Aufnahmen von vor 40 Jahren fragen?

Viele sind erfreut, dass jemand den Wert ihrer Musik erkennt. Und manche Musiker können wegen des Erfolgs ihrer alten Aufnahmen im Westen sogar ein Bühnen-Comeback feiern. Etwa das Orchestre Polyrytmo de Cotonou aus Benin, das sich vor einigen Jahren wieder formierte, und sogar eine neue Platte mit Gaststars von Franz Ferdinand bis Angelique Kidjo aufnahm. Oder Ebo Taylor: Bisher kannten wohl nur zwei Dutzend westliche Sammler den ghanaische Afrobeat-Pionier, nun tourt er verstärkt mit jungen Musikern wie dem Münchner Jan Weissenfeldt erstmals durch Europa. Und er hat sogar zwei neue Alben eingespielt.

Müssen denn immer erst junge hippe Musikliebhaber aus dem Westen kommen, um die Bedeutung dieser Musik zu erkennen und sie für die Nachwelt zu konservieren?

Viele Afrikaner belächeln meine Leidenschaft für sogenannte „Oma-und-Opa-Musik“. In manchen Ländern wie Ghana wissen die jungen Leute so gut wie nichts über die einstige Highlife- und Afrobeat-Kultur ihres Landes. Umso überraschter sind sie, wenn sie zum ersten mal die großartigen Songs der Generation ihrer Großeltern hören. Oft glaubt man in Afrika: Das Neuere muss auch das Bessere sein. Erst seit kurzem fangen die ersten Hip-Hop-Produzenten in Ghana wieder an, die alten Highlife-Musiker ins Studio zu holen. Auch in Mali oder dem Kongo leben die alten Traditionen unter dem Popradar fort. Aber es wird wohl noch eine Weile dauern, bis das eine Massenbewegung wird. So wie in Kolumbien etwa: In der dortigen Soundsystem-Kultur feiern junge Leute Partys mit kenianischen und kongolesischen Popsongs der Siebzigerjahre, sie zelebrieren diese Musik regelrecht.

Im Internet wird heftig und kontrovers über die Ethik der Wiederveröffentlichung alter afrikanischer Musik im Westen diskutiert. Plattensammlern wie Ihnen wird kultureller Neokolonialismus vorgeworfen.

Das ist doch Bullshit! Die ganze Argumentation ist weltfremd. Durch Labels wie Analog Africa bekommt vergessene Musik noch einmal eine Chance, sie wird digitalisiert, konserviert und von Club-DJs wieder zum Leben erweckt. Lass die Platte in Afrika und in 30 Jahren ist diese Musik sang- und klanglos verschwunden. So kaufe ich oft Vinyl aus alten Lagern an, auf denen die Produzenten sitzen blieben, und die irgendwann auf dem Müll landen werden.

Ohne Sammler aus Europa würden die Platten verrotten oder gar verbrannt werden, Sie retten viele dieser Musikstücke wortwörtlich vor dem Feuer?

Es war schlimm, als ich Al Barika, den größten Plattenladen in Cotonou, Benin besuchte und sie mir sagten, sie hätten ein paar Monate zuvor ihr ganzes Plattenlager verbrannt. 20 000 Vinyl-Schallplatten! Der Familienvater und Ladengründer war gestorben und hinterließ ein Zimmer voller Platten. Als ein Sohn einzog, räumten sie die ungeliebten Erbstücke auf den Balkon. Von dort wurde das Vinyllager vor die Haustür verfrachtet. Dann hat es geregnet, die Papierhüllen haben angefangen zu schimmeln. Am Ende wurde alles auf einen Scheiterhaufen geworfen.

Auf dem Weg dorthin sah ich Kinder durch die Straßen laufen, die haben Originaltonbänder als Luftschlangen hinter sich hergezogen. Es waren die Aufnahmen des Orchestre Polyrytmo de Cotonou, der Voodoo-Funk-Band, die heute von Indierockbands aus dem Westen kultisch verehrt wird. Immerhin habe ich dann noch einige dieser Tonbänder retten und vor Ort digitalisieren können.

Interview: JONATHAN FISCHER

SZ 24.4.2014

Wo man singt, da schießen sie dich nieder! Zum Konzert mit Tuba, Akkordeon und Bazooka: Narcocorridos sind der musikalische Flügel der mexikanischen Drogenkartelle – und ein höchst erfolgreiches Latin-Genre

 

Die Nachricht von Joaquin „El Chapo“ Guzmans Verhaftung war noch keine zwei Tage alt, da geisterten auch schon Dutzende Elogen auf den geschnappten Gangsterboss durchs Internet. Eine der ersten war Gonzalo Penas „El Captura de El Chapo“: Ein Akkordeon animiert zum Tanzen. Bass und Schlagzeug hüpfen im Polka-Rhythmus. Und der Schmachtgesang über einen seiner Freiheit beraubten Helden – „auf fünf Kontinenten war er der Übervater….“ – könnte einem glatt Tränen des Mitgefühls in die Augen treiben. Nur Popstars und Volksheilige dürfen so viel Anteilnahme an ihrem Leben erwarten.

Joaquin „El Chapo“ Guzman gilt aber als mächtigster und meistgesuchter Drogenboss der Welt. Dass an seinen Händen das Blut von Tausenden, wenn nicht Zehntausenden erschossenen, gelynchten, verstümmelten Opfern des mexikanischen Drogenkrieges klebt; dass sein Kartell mit Bestechung, Erpressung und Mord arbeitet, Richter, Politiker und Journalisten einschüchtert und mit seinen schmutzigen Geschäften die mexikanische Zivilgesellschaft zerstört: solche Details spielen in den Songs auf „El Chapo“ kaum eine Rolle. „Er hat mit ehrlicher und entschiedener Hand regiert“, heißt es in einer der Heldenballaden. Und: „Guzman ist ein ehrenwerter Mann“. Ob die Songs Besitztümer des Drogenbosses aufzählen oder auf dessen neuerliche Flucht wetten: Ein bewundernder Unterton schwingt so gut wie immer mit.

Die alte Binsenweisheit, wonach „böse Menschen keine Lieder“ haben, sie hat sich im Reich der Drogenmafia ins Gegenteil verkehrt: In Mexiko und Nordamerika leben Hunderte volkstümliche Combos davon, das kriminelle Leben derjenigen zu besingen, die auf den Fahndungsplakaten ganz oben stehen. Viele Mythen ranken sich um die Narco-Paten und ihre unterirdischen Poolanlagen, Privatzoos und hochgerüsteten Privatarmeen. Die Krönung ihres Ruhms aber bleibt ein eigener Tribut-Song. Ein Narcocorrido.

„Schon als Kind vertickte ich Kokain/ wir sind nun mal harte Burschen in meinem geliebten Mexiko“, singen etwa die Los Capos. Während der Narcocorrido-Hit „Sanguinarios del M1“ der Buknas de Culiacan erst gar keine lyrischen Schnörkel bemüht: „Mit einer AK-47 und einer Bazooka auf der Schulter/ mach ich dich einen Kopf kürzer/ wenn du meinen Weg kreuzt/ ich bin verrückt und liebe es, meine Feinde abzuknallen“. Ein Song, den Zehntausende Fans bei jedem Auftritt der Band aus Los Angeles begeistert mitsingen, während die Musiker nicht nur Tubas und Akkordeons, sondern auch Bazookas schultern.

Andere Narcocorrido-Stars wie El Komander lassen sich schon auf ihren CD-Covern mit Maschinengewehr abbilden. In den Songs geht es denn auch ausschließlich um das lustige Gangsterleben zwischen Poolpartys, Prostituierten und peng peng peng. Oft ist dabei schmutziges Geld im Spiel. Ein wohlwollender Narcocorrido, so schätzt der mexikanische Journalist Edmundo Perez, bringt dem Autor mindestens fünf- bis zehntausend Dollar ein. Nebst Engagements für Privatkonzerte der Drogenmafia. Wer mag schon einen so mächtigen Sponsor ausschlagen?

Fast noch schockierender als die Käuflichkeit der Sänger ist die Popularität ihrer Songs: Manche mexikanische Bundesstaaten haben zwar Narcocorridos aus dem Radio verbannt, Städte wie Chihuahua Auftrittsverbote für ihre Interpreten erlassen. Die Zugkraft der Musik aber scheint das kaum gemindert zu haben. Eher im Gegenteil. Die meist von Südkalifornien aus vermarkteten Narcocorridos sammeln Millionen Youtube-Klicks, verkaufen Hunderttausende Tonträger und hängen in Nordamerika die gesamte Latin-Konkurrenz ab.

Zumindest in kommerzieller Hinsicht. Längst verdient eine Multimillionen-Dollar-Industrie an den so harmlos mit Akkordeons, Tubas und Gitarren daherkommenden Verbrecherlegenden. Selbst ins amerikanische Prime-Time-Fernsehen haben sie es geschafft: So durften in der zweiten Staffel von „Breaking Bad“ Los Cuates de Sinaloa einen Narcocorrido-Song auf den Meth dealenden Hauptdarsteller darbieten. Kritiker unterstreichen gern die Parallelen zum US-amerikanischen Gangster-Rap: Romantisierung des Outlaws.

Nebst Überhöhung einer skrupellosen Kapitalisten-Ethik. Doch anders als beim Gangsta-Rap und dessen Gepose sind viele der Narcocorrido-Musiker selbst tief in das Drogenmilieu verstrickt. Edmundo Perez zählt in seinem 2012 erschienenen Buch „May They Bury Me With Narcocorridos“ allein über 50 Musiker auf, die in den sechs vorangegangen Jahren ermordet wurden – „unter Beteiligung von Drogenkartellen“, wie der Autor angesichts der Todesumstände vermutet.

Den Sänger Valentin Elizalde etwa erwischte 2006 kurz nach einem Konzert eine Kugel: Er hatte angeblich abfällig über das Zeta-Kartell gesungen. Die Gruppe La Quinta Banda, die von „Lynchkommandos mit eisernen Nerven“ trällerte, wurde 2012 auf offener Bühne niedergemäht. Legende ist die Geschichte von Narcocorrido-Star Chalino Sanchez: Bei einem ersten Anschlag im Jahre 1992 zückte er auf der Bühne seine Waffe und erschoss den Möchtegern-Attentäter im Publikum. Ein paar Monate später aber erwischte es auch ihn.

Bereits seit den 70er-Jahren werden Narcocorridos als Lieder auf die Gegenkultur-Helden der Drogenschmuggler geschrieben. Das passte zur antiautoritären Tradition des Genres: Ursprünglich waren die Corridos aus der europäischen Heldenballade hervorgegangen und dienten während der mexikanischen Revolution von 1910 zur Glorifizierung von Kriegshelden und Rebellen wie Pancho Villa und Emiliano Zapata.

Die Immigration Hunderttausender Mexikaner in die Vereinigten Staaten und der aufblühende Drogenhandel aber hinterließen bald ihre Spuren in den Texten. Besonderen Einfluss sollte ein 1974er-Hit der kalifornischen Norteno-Band Los Pinguinos del Norte ausüben: „Contrabando y Traicion“ (Schmuggelware und Verrat). Die Geschichte von der Drogenschmugglerin, die ihren Gangsterpartner des Geldes wegen umbrachte, inspirierte mehrere Filme und wurde zur Blaupause aller späteren Narcocorridos – als Robin-Hood-Mäntelchen für Gangster.

So absurd die gesungene Sanktionierung des organisierten Verbrechens auch klingen mag: Der Korruptionsfilz der mexikanischen Regierung, ihr Versagen bei der Armutsbekämpfung verschafft den Kartellen vor Ort viele Sympathien. Zumindest schaffen sie Arbeitsplätze. In vielen Armenvierteln haben sie die Grundversorgung der Bevölkerung übernommen. Auch deshalb demonstrierten so viele Menschen nach der Verhaftung Guzmans Solidarität mit „ihrem“ Boss.

Seit dem Militäreinsatz der mexikanischen Regierung gegen die Drogenkartelle 2005 und dem damit verbundenen Blutzoll von über 50.000 Toten sind auch die Narcocorridos immer brutaler geworden: Viele Sänger wechselten in die erste Person. Ihre Lieder preisen die Tötung, Folterung und Zerstückelung von Gegnern und erinnern mit ihrer surrealen Gewaltlust bisweilen an Splatter-Horrorfilme. Songs als psychologische Kriegsführung?

Edgar Quitero, der Bandleader von Buknas de Culiacan, möchte sich lieber als Berichterstatter sehen: „Unsere Texte spiegeln lediglich den Horror des Drogenkriegs“. Doch die Syndikate nehmen immer öfter Einfluss auf die Texte. „Manche Musiker schicken ihre Songs vorab den verschiedenen Drogenkartellen, um sie von diesen freigeben zu lassen“, erklärt der Journalist Edmundo Perez. Im Gegenzug könnten sie Schutz und finanzielle Sicherheit erwarten.

Der Profit beruht auf Gegenseitigkeit. Denn die Narcocorridos bedeuten für die Kartelle willkommene Imagepflege: Selbst die brutalsten Geschichten über Drogenbosse vermitteln doch immer noch die Fiktion eines gegen die Autoritäten rebellierenden Helden. Setzen Menschen ein, wo längst transnationale Wirtschaftsimperien am Werk sind. So täuscht die Drogenfolklore darüber hinweg, dass die Kartelle sich längst nicht mehr auf den Handel mit Kokain, Heroin und Marihuana beschränken. Heute verdienen sie auch mit Waffenschmuggel, Menschenhandel, Raubkopien und Internetbetrug – um den Profit anschließend in karibischen Touristenhotels oder auch in deutschen Einkaufszentren zu waschen. Eine Wirklichkeit, die so in keinen Akkordeonschlager passt.

JONATHAN FISCHER

DIE WELT, 22.4.2014

Die Manuskripte von Mali, ein fragiler Schatz: Eva Brozowsky restauriert in Mali Hunderttausende altertümliche Handschriften. Im Interview spricht sie über ihren unschätzbaren Wert, die dramatische Rettung und die Bedrohung durch Schwarzhandel.

Das dreistöckige Archivierungsgebäude im Süden Bamakos ist seit über einem halben Jahr fertiggestellt: Es beherbergt unter anderem Werkstätten für die Restaurierung, Katalogisierung und Digitalisierung von gut 270.000 Manuskripten, die von Timbuktu nach Bamako geschmuggelt werden mussten, als Nordmali im Jahr 2012 durch radikale Islamisten besetzt wurde. Finanziert unter anderem vom deutschen Auswärtigen Amt und der Gerda-Henkel-Stiftung, lernt die Restauratorin Eva Brozowsky von der Universität Hamburg hier junge Malier in ihrem Metier an und koordiniert die Rettung der bis zu 1200 Jahre alten Schriften vor dem drohenden Verfall.

Die Welt: Frau Brozowsky, die Bundesrepublik Deutschland unterstützt nicht nur die Restaurierung dieser bedeutendsten Sammlung alter Schriften in Afrika. Sie hat bereits bei der Rettung von Hunderttausenden von Manuskripten aus dem von Islamisten besetzten Timbuktu geholfen …

Eva Brozowsky: Die Gefahr für die Schriften war groß. Ihre Evakuierung wurde dringend erforderlich, als die extremistischen Milizen anfingen, Manuskripte aus der staatlichen Ahmed-Baba-Bibliothek in Timbuktu zu verbrennen oder zu verkaufen. Abdel Kader Haidara, Archivar und Eigentümer einer der größten privaten Bibliotheken Timbuktus, fragte an, ob wir bei der Bergung der Manuskripte aus dem Ahmed-Baba-Institut und Dutzenden von Familienbibliotheken behilflich sein könnten. Daraufhin taten sich die niederländische, die luxemburgische und die deutsche Botschaft zusammen: Sie finanzierten unter anderem die Anschaffung von Tausenden von Metallkisten, in denen die Bücher herausgeschmuggelt werden sollten.

Die Welt: Wie haben die Malier diese Rettungsaktion unter den Augen der islamistischen Milizen organisiert?

Brozowsky: Die Metallkisten wurden in Mopti, der nächsten großen Stadt unter Regierungskontrolle, eingekauft und auf 30 private Haushalte in Timbuktu verteilt. Dort wurden sie mit Büchern gefüllt und dann per Eselskarren, Bus oder auch mit Pirogen auf dem Niger Richtung Bamako geschmuggelt. Aus Sicherheitsgründen konnten höchstens zwei bis drei Kisten pro Transport mitgehen – versteckt unter Obststiegen oder Körben mit getrocknetem Fisch. Bis Januar 2013 organisierte Haidara fast jede Nacht geheime Transporte. Am Ende gelangten so über 2500 Bücherkisten nach Bamako.

Die Welt: Es heißt, dass auf diese Weise 95 Prozent der Manuskripte gerettet werden konnten. Wie lässt sich der kulturelle Wert dieser bis ins 9. Jahrhundert zurückdatierenden Schriften einordnen?

Brozowsky: Wir reden von einem Schatz, den man nur mit dem Bestand sämtlicher Bibliotheken in Deutschland vergleichen kann. Bisher gab es noch kaum Forschung an den in Privatbesitz befindlichen Manuskripten. Wissenschaftler könnten hier also vieles zum ersten Mal entdecken. Unter anderem alchemistische Schriften, Abhandlungen über Astrologie und Medizin, Koranauslegungen und historische Schriften zu Ereignissen, über die wir bisher keine Primärquellen haben.

Die Welt: Ist denn der Fortbestand der Manuskripte mit ihrer Rettung nach Bamako schon gesichert?

Brozowsky: Nein, die erste Rettung ist gelungen. Jetzt kämpfen wir um eine zweite Rettung: Denn die Papiere, die viele Jahrhunderte lang den trockenen klimatischen Bedingungen in Timbuktu ausgesetzt waren, drohen sich nun durch das viel feuchtere Tropenklima zu zersetzen. Etwa durch Aufquellen, Verfärbungen, Schimmelpilzbefall. Viele der Manuskripte sind jetzt schon sehr fragil. Und im Mikroklima der Transportkisten können sie bereits in wenigen Wochen immensen Schaden nehmen. Bei der Restaurierung der Papiere ist also höchste Eile geboten …

Die Welt: Könnte nicht eine rasche Digitalisierung der Manuskripte erst einmal deren Inhalte sichern?

Brozowsky: Nur die neuesten stabilen Manuskripte lassen sich ohne Weiteres digitalisieren. Die alten, sehr fragilen Manuskripte müssen erst einmal stabilisiert werden. Das sind etwa 20 Prozent der Manuskripte. Weitere 20 Prozent sind so verschmutzt, dass sie kaum lesbar sind. Die Restaurierung ist also Voraussetzung für alle folgenden Rettungsmaßnahmen. Deshalb beschäftige ich mich mit der historischen Herstellung der Manuskripte: Welches Papier wurde verwendet, wie kam es aus Europa nach Afrika, welche Farben und Farbrezepturen enthält es? Das ist Forschung, die bisher noch nie stattgefunden hat.

Die Welt: Wie kommt es, dass trotzdem bisher nur ein Bruchteil der Manuskripte in dem mit Regalen, Luftentfeuchtern und stabiler Stromversorgung eingerichteten Archivierungsgebäude in Bamako gelandet ist?

Brozowsky: Nur die wenigsten Manuskripte befinden sich in staatlichem Besitz. Und viele der malischen Familien, denen die Bibliotheken gehören, fürchten um die Sicherheit der Schriften. Deshalb befindet sich das Gros der über 270.000 Manuskripte immer noch in geheim gehaltenen Verstecken in Garagen und Privathäusern – bewacht von ehrenamtlichen Wächtern und verpackt in dieselben Metallkisten, in denen sie einst aus Timbuktu geschmuggelt wurden.

Die Welt: In Mali sind 70 Prozent der Menschen Analphabeten. Hat die millionenteure Rettung der Manuskripte für die Menschen in diesem armen Land denselben Stellenwert wie für westliche Wissenschaftler?

Brozowsky: Ich glaube, die Manuskripte haben für die Malier sogar noch einen höheren Stellenwert. Selbst denjenigen, die nicht lesen oder schreiben können, ist klar, dass diese Dokumente ein unfassbarer kultureller Schatz sind. Sie sehen die Bibliotheken als Teil ihrer Identität an.

Die Welt: Trotz dieser Wertschätzung von allen Seiten müssen Sie noch immer um den Erfolg Ihres Restaurierungsprojektes bangen …

Brozowsky: Es gibt weder eine Verbindlichkeit der Finanzierung noch eine funktionierende Gesamtorganisation. Die Uni Hamburg hat vor allem Hilfe bei Material und Ausbildung zugesagt – nun wollen wir auf Geberkonferenzen in Europa und Amerika um finanzielle Unterstützung werben. Darüber hinaus fehlt die Einigkeit mit den holländischen und amerikanischen Partnern, die jeweils eigene Projekte unterhalten. Wir brauchten da eine Gesamtkoordination.

Die Welt: Welche Rolle spielen bei dieser „zweiten Rettung“ die Malier?

Brozowsky: Die Federführung des Projektes in Mali unterliegt Herrn Haidara. Er vertritt und koordiniert einige Dutzend Bibliotheken in Familienbesitz. Zusätzlich aber wäre eine gewisse Kontrolle von außen wichtig – vor allem, um Richtlinien aufzustellen, was mit den Bibliotheken passieren darf.

Die Welt: Gehen da die Vorstellungen der Malier und der westlichen Geldgeber auseinander?

Brozowsky: Im Moment ist es in Mali noch völlig legal, als Privatmann mit diesen Manuskripten zu handeln. Hier müssten neue Vereinbarungen zur Schaffung einer wirklichen Bibliotheksstruktur getroffen werden. Wir wünschen uns natürlich einen offenen Zugang für die Wissenschaft, wie das in Europa üblich ist. Doch die Digitalisierung und Öffentlichmachung der Schriften ist umstritten. Viele der Besitzer, auch Haidara, sind hier noch äußerst skeptisch. Sie sehen die Manuskripte als persönlichen Besitz an. Wir wirken in dieser Hinsicht nicht nur als technische Ausbilder – sondern auch als Vermittler neuer Denkweisen, wie eines demokratischen Zugangs zu Wissen, der in Europa ja auch erst seit relativ kurzer Zeit akzeptiert wird.

Die Welt: Vor wenigen Wochen haben Tuareg an der Nordgrenze Malis eine Karawane mit Manuskripten abgefangen und die Schriften beschlagnahmt. Sie müssen also auch befürchten, dass Manuskripte verkauft oder aus Mali herausgeschmuggelt werden?

Brozowsky: So etwas passiert leider laufend. Die Manuskripte sind eine Ware. Und sie ziehen Hehler an, die in Bamako Manuskripte ungeklärter Herkunft an die Baba-Ahmed-Bibliothek verkaufen. Andererseits haben auch Händler aus Katar und anderen arabischen Ländern ihre Hände im Spiel: Sie sehen die alten Bücher und Manuskripte als Wertanlage – die gerade durch ihre Exklusivität gewinnt.

Die Welt: Könnte die Unesco nicht die Manuskripte als Weltkulturerbe anerkennen und schützen?

Brozowsky: Das wäre sehr wünschenswert. Tatsächlich bringt sich die Unesco immer mehr ein: So organisiert sie in den nächsten Monaten eine Konferenz in Bamako, wo Bibliotheksbesitzer, Geldgeber und Restauratoren über das weitere Vorgehen diskutieren sollen.

Die Welt: Welcher Ort ist für die endgültige Archivierung der Manuskripte vorgesehen?

Brozowsky: Irgendwann sollen die Manuskripte auch wieder von Bamako zurück nach Timbuktu kommen. Im Moment ist die Sicherheitslage in Timbuktu dafür aber zu prekär. Außerdem sind wir erst am Anfang eines gewaltigen Restaurationswerkes: Immer noch befinden sich Hunderttausende Manuskripte in Privatbibliotheken im Umkreis von Timbuktu, es wird lange dauern, sie alle ausfindig zu machen und zu sichern.

Interview: JONATHAN FISCHER

Die Welt 8.4.2014

Zur Hölle ins Obergeschoss: Dantes „Göttliche Komödie“ aus der Sicht afrikanischer Künstler – eine mutige Ausstellung in Frankfurt

 

Strumpfsockig und in Jeans, so schlurfen die 72 im Koran versprochenen Jungfrauen durch das Erdgeschoss des Frankfurter Museums für moderne Kunst. Einige folgen mit kreisenden Armbewegungen den Vorgaben der Choreografin, andere stecken am Bühnenrand ihre Haare zurecht. Generalprobe für den Tanz der Houris. Die jungen Damen – alle Haut- und Haarfarben sind vertreten – wirken wie eine Zufallsauswahl junger Passantinnen aus den Straßen der Multikulti-Metropole Frankfurt. Am Abend werden sie unter vielen Schleiern tanzen, als inkarnierte Träume aus dem muslimischen Paradies. Die Aufführung ist Teil einer Installation der marokkanischen Künstlerin Majida Katthari: Den Märtyrer-Himmel hat sie mit erotischen Frauenfotos gepflastert, die sich dank konsequenter Überbelichtung und einem vorgeschobenen weißen Gaze-Vorhang nur in Andeutungen erschließen.

Der Erfüllung all der voyeuristischen Phantasien aber geht die Gewalt des Märtyrertodes voraus. Was für ein Paradies! „Ist Ihnen aufgefallen, dass sich der Himmel ganz unten, im Erdgeschoss befindet?“, fragt Simon Njami. Der Kurator der Ausstellung „Die Göttliche Komödie – Himmel, Hölle, Fegefeuer aus Sicht afrikanischer Gegenwartskünstler“ hockt am Bühnenrand und betrachtet durch seine schwarze Sonnenbrille das Geschehen: „Wir müssen uns erst hinaufarbeiten, um durch das Fegefeuer in die Hölle zu gelangen.“ Dantes göttliche Komödie steht Kopf.   Dass das MMK unter der Leitung von Susanne Gaensheimer nach Schauen brasilianischer und koreanischer Künstler nun Simon Njami einlud, ist ein mutiger Bruch mit der rein europäisch-nordamerikanischen Perspektive. Denn „Himmel Hölle Fegefeuer“ sticht explizit in die eurozentrische Kunstblase. 55 Künstler mit afrikanischen Wurzeln, aber vollkommen unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergründen werfen einen Blick auf den zentralen christlich-westlichen Epos. Nur ein Remixer wie Njami konnte diesen Coup landen. Seine einzige Vorgabe an die Künstler: Ein jeweils zufällig ausgewähltes Wort aus der „Göttlichen Komödie“. Und der Wille, mitzudiskutieren über die universale Frage, was Glauben bedeutet. „Ich habe beschlossen, ein wenig Humor in Gottes Schöpfung zu bringen“, sagt Njami, der den ersten Afrika-Pavillon der Biennale gestaltete. „Ich möchte nachvollziehen, was Gott sich eigentlich gedacht hat.“ Die moralischen, theologischen und politischen Fragen, die „Die göttliche Komödie“ aufwirft, hätten nichts an Aktualität verloren. Dante lässt sich auf seiner imaginierten Jenseitswanderung von dem antiken Dichter Vergil und seiner Muse Beatrice durch die drei Reiche Paradies, Hölle, Fegefeuer führen. In Hunderten von Einzelschicksalen seziert er die Frage nach Schuld und Läuterung, Dogma und Freiheit.

Eindeutige Antworten will auch diese Ausstellung nicht geben. Viele Künstler stehen mit einem Fuß im Himmel, mit dem anderen in der Hölle. Ihr Vexier-Spiel nimmt dem 700 Jahre alten Drama die hermeneutische Schwere. Das Paradies erscheint hier oft als Neuanfang. So fliegen die filigranen Eisenfiguren des Senegalesen Ndary Lo scheinbar schwerelos wie Vögel in alle Himmelsrichtungen auf, dem Unbekannten entgegen. Überraschend optimistisch auch Zoulikha Bouabdellahs Installation „Silence“. Die nordafrikanische Künstlerin hat glitzernde High Heels auf ausgeschnittenen Flächen eines Gebetsteppichs angeordnet. Müssen sich religiöse Traditionen und westliche Phantasien ausschließen? Nein, behauptet sie, selbst starre Rahmen lassen Freiräume, in denen Frauen ihre Existenz behaupten können.

Wie höllisch wirkt dagegen das Gefängnis des Selbst! Das führt Joël Andrianomearisoas Installation vor. Hunderte blinkende Rechtecke gruppieren sich wie Häuserfassaden um den Betrachter. Es sind Make-up-Spiegel. Sie zerschneiden das Spiegelbild, werfen Begierden zurück,„ein Zuviel selbst für den größten Narziss“, wie Njami kommentiert. Am buntesten aber brennt das Fegefeuer. Da passt der angolanische Künstler Kia Henda in der Fotoserie „Othello’s Fate“ einen nackten schwarzen Mann in die Kulisse eines alten Lissaboner Palastes ein. Die Skulptur des nigerianisch-englischen Künstlers Yinka Shonibare, in der sich zwei kopflose Figuren duellieren, nimmt dank der Bekleidung aus Afrika-Stoffen ganz neue Bedeutungen auf.

Wenn „typisch afrikanisch“ eine Kombination aus javanischem Design, holländischer Wachsdruck-Fabrikation und afrikanischem Markt bedeutet: Wie geht dann der westliche Kunstkanon mit afrikanischer Körperlichkeit um? „Reinheitsgebote sind in Afrika kaum zu finden“, sagt Njami. „Für mich ist das der heterogenste Kontinent überhaupt. Schauen Sie mich doch an.“ Nein, Njami, Kind kamerunischer Eltern, aufgewachsen in Lausanne, studiert in Paris, liegen afrikanische Essenzialismen so fern wie Dante Alighieri die Vorstellung eines straffreien Jenseits.

Gut die Hälfte der ausstellenden Künstler leben und arbeiten in der Diaspora – wo der afrikanische Rückbezug oft an Dringlichkeit gewinnt. So zeigt die kanadische Künstlerin Aïda Muluneh in ihren Fotoportraits eine symbolisch bemalte äthiopische Frau: Das Gesicht weiß wie die für den sozialen Aufstiegskampf notwendige Maske, die Hände rot wie die dazugehörige Schuld. Es böten sich wohl viele Ansatzpunkte, um Dantes Drama als politische Keule zu schwingen, bekannte ideologische Diskurse um Rassismus und Post-Kolonialismus aufzunehmen. Nur, sagt Njami, hätte ihn das nie interessiert. Statt politischer Konzepte möchte er die Ästhetik der Kunstwerke in den Mittelpunkt rücken. Nähe und Stofflichkeit der Symbole: Njami rehabilitiert diese von der westlichen Kunst der letzten Jahrzehnte gering geschätzten Qualitäten. Da braucht es keine Erklärungen zu Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, um Jems Robert Koko Bis „Convoi Royal“ zu verstehen – ein grob gezimmertes Boot aus hellem Holz, in dem sich 80 schwarze Köpfe stapeln. Gleich daneben windet sich ein riesiger Walfisch.

Wo aber findet der Mensch Schutz? Statt Dantes Strafregister zu folgen, befragen viele Künstler mögliche metaphysische Zufluchtsorte: In der Religion, der Kunst – oder auch den eigenen Traditionen. Am imposantesten wirkt hier Dominique Zinkpés Installation „Errance“. Tausende hölzerner Figuren hängen in einem blauen Dämmerlicht von der Decke. Die Kreuze an den Enden des Raumes und die Musik verweisen auf die synkretistische Voodoo-Tradition in Zinkpés Heimat Benin, einst Ausgangspunkt für den Sklavenhandel und bis heute Zentrum einer afrikanischen Kosmologie, die sich über den Atlantik nach Brasilien, Haiti, Kuba und Nordamerika verbreitet hat. „Gehen Sie mal ganz nah an das geschnitzte Kreuz heran“, sagt Njami. „dann sehen Sie, dass es aus lauter Menschenkörpern besteht.“

  Die hängenden Figuren haben wider Erwarten auch etwas Tröstliches: Denn die Lebenden, die aus der großen Ahnen-Gemeinschaft gefallen seien, könnten diese nun um Beistand bitten. Hier lernt nicht nur Dante Alighieris „Göttliche Komödie“ das Tanzen. Sondern auch so manche ermüdete Kunstkonvention des Westens. Simon Njami grinst hinter seiner Sonnenbrille. „Wie viel Treppen muss man hinuntersteigen in den Himmel?

JONATHAN FISCHER

SZ 31.3.2014

Die Göttliche Komödie . Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main. Bis 27. Juli 2014.