Monatsarchiv: März 2018

Bis zum Hals im Niger – Was Waffengewalt nicht kann, schafft die Musik. Das Festival sur le Niger trotzt den Dschihadisten

 

Darf man zum Tanz aufrufen, wenn gerade Dutzende Tote zu beklagen sind? Ist Musik wirklich wichtiger als die Sicherheit der Bevölkerung? Und wer garantiert angesichts der Terror-Gefahr für die Besucher des größten jährlichen Musikereignisses Malis, des Festival sur le Niger in Ségou? So fragte vor einigen Wochen ein Kommentator der malischen Nachrichtenseite Maliactu.net . Und forderte die Absage des traditionsreichen Festival sur le Niger in Ségou, einer Provinzhauptstadt, 235 Kilometer flussabwärts von der Hauptstadt Bamako. Nur eine Woche vor Beginn hatten Dschihadisten nicht weit vom Festivalort bei Überfällen auf Armeelager mehr als 40 Soldaten und Zivilisten ermordet.

Tatsache ist, dass der malischen Armee die Kontrolle über weite Teile des Landes entglitten ist, dass ein Netzwerk miteinander verflochtener Dschihadisten und Drogenkartelle darüber bestimmt, welche Schule in Zentralmali noch operieren kann und welches Dorf es noch wagen kann, Hochzeiten abzuhalten. Aber sollen die Malier deswegen auch noch auf ihr größtes und international renommiertestes Musikfestival verzichten?

„Wir dürfen uns,“ konterte Mamadou Daffé, der Direktor des Festival sur le Niger, „von den Terroristen nicht unser Leben vorschreiben lassen. Nichts ist wertvoller als unsere Kultur.“ Daffé erklärte die Tanztheater, Konzerte, Ausstellungen und traditionellen Zeremonien in Ségou kurzerhand zum „Akt des Widerstands“. Auch deswegen hatte man das zuletzt in die besser zu schützende Innenstadt verlegte Festival ans Niger-Ufer zurückgebracht.

Ségou mit seiner alten sudanesischen Lehmarchitektur und den breiten ungeteerten Alleen macht trotz einiger Schützenpanzer nicht den Eindruck eines Kriegsgebietes. Ambulante Händlerinnen balancieren Kochbananen und Fisch auf dem Kopf, Motorpirogen und Eselsgespanne tauschen am Ufer ihre Fracht aus. Seit Jahrhunderten waren die verschiedenen großen Ethnien Malis von den Bambara im Süden bis zu den arabisch geprägten Tuareg ganz im Norden entlang des Niger durch den Handel miteinander verbunden. Man tauschte nicht nur Waren aus, sondern auch Songs. „Musik“, hat der malische Griot Bassekou Kouyaté erklärt, „diente uns immer als Kitt.“

Musik ist auch der Grund, warum Mali, eines der ärmsten Länder der Welt, als kulturelle Größe gilt. So hatten die Veranstalter des Festival sur le Niger bei der Premiere 2005 noch Tausende Touristen angelockt. Malische Musiker wie Ali Farka Touré wirkten als Publikums-Magnete. Und das Festival au Desert in den Sanddünen vor Timbuktu ließ gar Promis wie Bono mit dem Hubschrauber einfliegen.

Vierzehn Jahre später ist das alles Geschichte. Die weißen Festivalbesucher in Ségou kann man an zwei Händen abzählen. Und die hinter den Taschenkontrollen lagernden Händler aus Gao, Mopti und Timbuktu können einem leidtun, wenn sie klagen, dass keine Kundschaft mehr für ihre Indigo-Decken und Kamelledertaschen komme. Seit sechs Jahren hoffen sie vergeblich. Nach der Besetzung des Nordens durch Dschihadisten im Jahre 2012 und einem darauffolgenden Putsch hatte zwar Frankreich militärisch interveniert. Der von einer großen Uno-Truppenpräsenz begleitete Friedensprozess jedoch stockt.

Regiert werden bestenfalls noch ein paar größere Städte. Denn de facto haben viele Politiker, wie auch gewisse Religionsführer, Drogenbosse und ihre wirtschaftlichen Profiteure kein Interesse an einem funktionierenden Staat.

Ségou wirkt da wie ein Lichtblick. Hier erlebt der panafrikanische Gedanke ein Comeback. Oliver Mutukudzi aus Harare, Zimbabwe, das Orchester K Musica aus der kongolesischen Hafenstadt Pointe Noire und mehrere mauretanische Rapper aus Nouakchott spielen auf der großen Festivalbühne im Niger. Auffällig auch, wie viele junge weibliche Rapperinnen und Sängerinnen dieses Jahr auf dem Programm stehen. Da tanzt Kareyce Fotso aus Kamerun in Jeans und mit umgehängter Gitarre zu energischen Afrobeats über die Bühne, um zwischendurch ziemlich launig die Zwangsehe zu verurteilen. „Wir lassen uns nicht vorschreiben, mit welchem Mann wir zusammenleben. Wir sind stark, wir sind klug, wir sind schön – und wir entscheiden selbst.“ Jubel unter den zigtausend überwiegend jungen Frauen, die sich mit Hidschab, Turban oder Hip-Hop-Käppis vor der Bühne drängen und mit ihren Smartphones in die Nacht leuchten.

„Nein zum Terrorismus. Nein zur Korruption. Nein zu Politikern, die nur ihre Taschen füllen“, wettert wenig später das malisch-senegalesisch-mauretanisch-marokkanische Frauen-Hip-Hop-Quartett Jokko Cam. Die Politik ist allgegenwärtig. Nicht nur an den Infoständen von Initiativen zur Aids-Aufklärung, zur Beschulung von Mädchen oder Frauenkooperativen. Auf dem großen Festival-Bazar, zwischen Parfüm- und Kleiderhändlern, fallen immer wieder Trupps von jungen, westlich gekleideten Studentinnen auf: „Macht Mali wieder zu einem Hafen des Friedens“ prangt auf ihren weißen T-Shirts.

„Unsere Initiative“, sagt Rahabel Nantoume, die junge malische Koordinatorin der Initiative „Peace is Possible“, „zielt darauf ab, die Jugendlichen in die politische Diskussion einzubeziehen.“ Besonders in den Krisenstädten wie Timbuktu, Gao oder Mopti halte man regelmäßige Workshops ab. Politische Bildung sei das eine. Das andere die Einrichtung von Werkstätten und Landwirtschaftsbetrieben für die einst im Lohn von Dschihadisten und Drogengangs stehenden Jugendlichen. „Ich habe erlebt, dass hier einstige Todfeinde friedlich zusammenarbeiten“, sagt sie. „Unsere Spaltung ist nicht naturgegeben. Aber es gibt Leute, die davon profitieren.“

Man kann dieses Festival ansonsten sicher nicht mit westlichen Maßstäben messen. Manches scheint schlecht organisiert. Doch wer wissen wollte, warum westliche Musiker und Produzenten wie Damon Albarn und Doctor L die Reisewarnungen ihrer Botschaften für Mali immer wieder in den Wind schlagen, der musste nur etwa die Off-Konzerte im Innenhof des Hambe Hôtel besuchen, wo die pentatonischen Grooves lokaler Balafon-Orchester eine Brücke vom Niger zum Mississippi schlugen, und die nasalen Gesänge malischer Divas mit dem dreckigen Blues der Ngoni-Laute um die Wette klagten.

„Der Himmel möge“, flehte der malische Popstar Abdoulaye Diabaté von der Bühne, „unserem Land in dieser schwierigen Übergangsphase helfen.“ Am Ende war es Hilfe zur Selbsthilfe. Denn nur eine Woche später hielt das legendäre Festival au Desert Wiedereinzug in Timbuktu, zum ersten Mal seit sechs Jahren und fast unbemerkt von der Öffentlichkeit. Aus Sicherheitsgründen hatte Organisator Mani Ansar das Event so gut wie nicht beworben. Trotzdem oder gerade deswegen funktionierte es. Ein halbes Dutzend Bands, darunter Ali Farka Tourés Sohn Vieux Farka Touré, ließen sich für das Vorhaben gewinnen, die Bühnenanlage kam auf dem Niger eingeschifft und das Personal mit der UNO-Mission aus Bamako eingeflogen. „Der Enthusiasmus der Bewohner von Timbuktu“, erzählte der Tuareg-Veranstalter anschließend, „war mit Händen zu greifen.“ Malis Kultur wird nicht kampflos untergehen – so viel verrät der Mut seiner Musiker.

JONATHAN FISCHER

SZ 20.3.2018

 

Afrika denkt sich selbst – zwischen Afrotopia und produktiver Anarchie: Die Kunstbiennale in Bamako spiegelt alle zwei Jahre die Aufbruchstimmung des Kontinents

 

Wie kann der tägliche Kampf ums Überleben nur so anmutig erscheinen? Solche Gedanken kommen, wenn in Bamako Minibusse mit herzförmig ausgesägten Fenstern und bunten Konterfeis muslimischer Cheikhs, lokaler Rapstars oder Comicfiguren wie Tom & Jerry vorbeiknattern, wenn lachende und teetrinkende Hirten ihre Ziegenherden im Schatten von Smartphone-Reklamen zum Verkauf anbieten.

  Nein, die Klischees vom schwarzen Elends- und Krisenkontinent wollen nicht so wirklich dazu passen. Nichts scheint hier besser zu gedeihen als der afrikanische Optimismus, den der Film „Black Panther“ in diesem Jahr in einer überdrehten Comicversion in die Welt getragen hat. Und der sich in der Kunstbiennale „Rencontres de Bamako“ hier schon seit 1994 in den Werken einer Künstlergeneration präsentiert, die sich längst von den Klischees der kolonialen und postkolonialen Jahre befreit und eine eigene, kosmopolitische Identität gefunden hat.

  Das strahlen auch die Dutzend Porträts aus, die Fototala King Massassy im Nationalmuseum ausstellt: Ein Mann mit Helm und Schweißgerät macht sich an einem pittoresken Gerüst von Metallstreben zu schaffen. Eine Marktfrau posiert inmitten einer Auswahl an Plastikeimern. Und der Brillendealer thront hier auf einem königlichen Hochsitz über seinem Sortiment. Die Bilder erinnern an die stilisierte Porträt-Fotografie der malischen Legenden Malick Sidibé und Seydou Keita aus den Sechzigerjahren. Nur dass die Inszenierungen King Massasys ein halbes Jahrhundert später so gar nicht mehr zu den aktuellen Nachrichtenmeldungen über Mali – Wirtschaftskrise, Entführungen, dschihadistische Anschläge – passen wollen.

  „Symbole der Hoffnung“ seien seine Figuren, sagt King Massassy. Dass der 46-Jährige mit der Rasta-Frisur persönlich vorbeikommt: Ehrensache. Schließlich stellen die „Rencontres de Bamako“ nicht nur die wichtigste Messe der afrikanischen Fotografie dar, sondern auch eine seltene Gelegenheit für malische Fotografen, als Künstler jenseits von Hochzeits- und Familienfotos wahrgenommen zu werden. Wenn sich rund um den Globus in den letzten Jahren eine Welle von Ausstellungen, Galerien und Biennalen moderner afrikanischer Kunst widmen, ja eine deutliche Verschiebung Richtung Süden die Kunstwelt bewegt, dann ist hier noch nicht viel davon zu spüren. Samuel Sidibé, der Direktor des Nationalmuseums von Mali, erklärt zwar, dass er die Rede des französischen Präsidenten Macron sehr schätze, in der dieser die Europäer dazu aufrief, die Verantwortung für den Kolonialismus zu übernehmen und ankündigte, geraubte afrikanische Kunstschätze aus Frankreich zurückführen. Aber, sagt Sidibé: „In welche Museen, bitte?“ Seinem Haus stünden kaum Mittel zur Verfügung. Und in einem so armen Land wie Mali rangiere Kulturförderung auf einem der allerletzten Plätze.

  Genau mit dieser Frage soll sich der senegalesische Wirtschaftsphilosoph Felwine Sarr in den nächsten Monaten beschäftigen. Er wurde zusammen mit der Berliner Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy von Macron damit beauftragt, ein Konzept für die Rückgaben zu entwickeln. Von einem Buchtitel Sarrs stammt auch das Motto der Biennale, „Afrotopia“. „Ich glaube, dass wir viel vom Erfindungsreichtum des afrikanischen Kontinents lernen können“, sagt Marie-Ann Yemsi, die deutsch-kamerunische Kuratorin, „viele lassen sich heute von Afrika inspirieren, hier entstehen gerade nicht nur neue Ästhetiken sondern auch neue ökonomische und ökologische Modelle“. Utopien interessierten sie nicht. Eher gehe es ihr mit Sarr darum, im Realen Möglichkeiten zu entdecken. „Afrika soll sich endlich selbst denken – und nicht durch die Brille des Westens hindurch“. Immerhin seien die jungen afrikanischen Künstler mit demselben Internet, denselben Medienstars, derselben Musik aufgewachsen wie ihre westlichen Kollegen.

  Was Yemsi am meisten an Sarrs „Afrotopia“ inspiriert: „Er entwickelt diese Idee, dass Fortschritt in Afrika nicht dasselbe wie im Westen zu bedeuten hat.“ Wenn der Westen sich darauf festgelegt habe, dass das Heil in mehr Konsum, mehr Kapitalismus bestehe, könne Afrika alternative Denk- und Lebensmuster entwickeln. Auch was die Kunstwelt betrifft.

  Für King Massassy ist Afrotopia jetzt schon Wirklichkeit: Tag für Tag entfalte sich die Zukunft vor seinen Augen – etwa in der Spitzfindigkeit und Improvisation der Händler, Straßen-Mechaniker, Handwerker und Musikveranstalter. „Sag einem Afrikaner niemals, dass etwas nicht geht.“ Wenn das pessimistische Afrikabild des Westens stets den staatlichen Apparat in seiner ganzen Schwerfälligkeit und Korruption fokussiert, dann tritt hier eine beneidenswerte Energie auf. King Massassy selbst liefert das beste Beispiel. In jeder Hinsicht Autodidakt, stieg er in den Neunzigern mit seiner Band Sofa zum ersten Rapstar Malis auf, bestreitet mehrere Comedy-Fernsehserien, und hat sich die Fotografie nebenbei beigebracht. Seine Fotografenschule? „Jeden Tag schaue ich mir eine Stunde lang Fotos auf Instagram an.“

  Für seine auf der elften Biennale von Bamako präsentierte Serie „Anarchie productive“ habe er ein paar seiner Bekannten gebeten, ihren Alltag mit ihrer Marktware oder ihrem Arbeitsgerät nachzustellen. „Diese Frauen und Männer wie der Elektriker, der hier jeden kaputten Fernseher zum Laufen bringt, verkörpern für mich die informelle Wirtschaft. Es ist der Motor Afrikas und er entwickelt sich in Lichtgeschwindigkeit.“

  Manche Möglichkeiten Afrikas erschließen sich erst durch den Blick auf die Vergangenheit: So präsentierte eine Einzelschau im Distriktmuseum von Bamako die afrikanische Aufbruchsstimmung kurz nach der Unabhängigkeit. Eine späte Wiedergutmachung für den ghanaischen Foto-Pionier James Barnor. Bevor er sich notgedrungen als Hausmeister und mit Hilfsjobs in London über Wasser hielt, hatte er in den Sechziger- und Siebzigerjahren Models, Musiker, Straßen- und Partyszenen in Ghana und der Londoner Diaspora festgehalten. Die Männer in Anzügen, die Frauen mit Minirock und modischen Bubikopf-Perücken. Eine naive Zuversicht weht durch diese Bilder.

  Diese Unschuld ist dahin. In der panafrikanischen Ausstellung im Nationalmuseum dominiert der Geist einer hart erkämpften oder noch zu erkämpfenden politischen und gesellschaftlichen Teilhabe: Was hindert Afrikaner daran, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen? Und wie verändern Migration, Urbanisierung, Gewalt und Traditionsverlust die Rollenbilder unserer Gesellschaft? Da unterscheiden sich die Fragestellungen der vierzig meist jungen Fotografen kaum von denen ihrer westlichen Kollegen.

  Besonders eindrücklich: Die überstickten Fotos von Joana Choumali. Kurz nach dem Attentat vom März 2016, bei dem Dschihadisten im Badeort Grand-Bassam an der Elfenbeinküste 19 Hotelgäste erschossen, hat sich die Fotografin auf Spurensuche gemacht. Ihre Bilder versuchen, das Unsagbare einzufangen. Spuren des Verlustes, die sich als gestickte Blutbahnen, Körperumrisse, weißer Niederschlag über die Szenerie eines tropischen Paradieses legen. Emotional stark sind auch Gabrielle Goliaths Videos. In „Personal Accounts“ präsentiert die Südafrikanerin auf fünf Bildschirmen die Gesichter von fünf Vergewaltigungsopfern. Sie erzählen ihre Geschichte. Nur: Man hört sie nicht. Lediglich ein leises Klicken, Schmatzen, Räuspern bleibt vom Soundtrack bestehen.

  Eine andere Form von Stigmatisierung macht der Ghanaer Eric Gyamfi zum Thema: In „Just Like Us“ fragt er nach dem gesellschaftlichen Ort lesbisch-schwuler Gruppierungen in seinem Land und gestaltet dazu eine Art Pinnwand mit Bildern ausgelassener Schwulen-Pärchen, Orten an denen die LGBT-Community sich trifft, Zeitungsausschnitten, die Homosexualität als unnatürlich darstellen und kopierten Kommentaren aus sozialen Netzwerken. In einem Kirchen-dominierten Land wie Ghana streiten Aufklärer und Bibelfanatiker, während Post-Its von Besuchern das Thema meist dankbar mit „Endlich traut sich jemand“ oder „Wir sind alle nur Menschen“ kommentieren.

  Freiräume statt Konventionen – darum geht es auch bei der Serie des Fotografinnen-Kollektiv Cairo Bats. Die Dächer von Kairo sind oft die einzigen Orte wo Frauen ungeschützt unter sich sein können. Die Fotografien zeigen denn auch keine Gesichter, sondern weibliche Figuren die sich halb hinter Parabol-Antennen verbergen oder nachts lediglich im Schein des Handy-Displays zu erkennen sind.

  Tatsächlich schafft es diese Biennale, den Blick auf Afrika zu dekolonisieren: Viele Sujets haben eine globale Gültigkeit. Und dann kommt dem westlichen Besucher dieses Afrika manchmal überraschend nahe. Während in Europa das Wort Flüchtling mit Problemen assoziiert wird, gilt es vielen Afrikanern als Chance.

  In diesem Sinne porträtiert der von den Komoren stammenden Künstler Mahmoud Ibrahim in seinem Video „Escale à Pajol“ die erstaunliche Widerstandskraft einer Gruppe afrikanischer Flüchtlinge auf den Straßen von Paris. Man sieht ihnen zu, wie sie Plakate malen, Demonstrationen organisieren. Wie sonst könnten sie angesichts meist negativ eingestellter Medien Gehör finden? Es ist ein Lernen auf vielen Ebenen – und eine gelungene Aneignung demokratischer Umgangsformen.

  „Egal, ob es um Migration, um sexuelle Identitäten oder Gewalt gegen Frauen geht“, sagt Yemsi. „Es sind die Künstler, die die Grenzen auf dem Kontinent verschieben“. Natürlich hätten auch dieses Jahr wieder manche Kritiker gezweifelt, ob es vernünftig sei, eine Biennale in einem Bürgerkriegsland zu veranstalten. „Ich entgegne ihnen: Gerade deshalb.“

  Nicht nur seien Terror-Attacken heute in Paris genauso wahrscheinlich wie in Bamako. Die Kultur müsse doch, wenn sie sich ernst nimmt, dorthin gehen, wo es brennt. So sei während der Biennale das Projekt Cinemobil durch die verschiedenen Armen-Viertel Bamakos getourt und habe vor begeistertem Publikum die Fotos und Videos der Biennale auf Häuserwände projiziert. „Diese physische Begegnung mit der Kunst kann man nicht ersetzen. Und die Diskussionen, die sie auslöst, ist die beste Schutzimpfung: Ein Widerstand gegen Fundamentalismen jeder Art“.

  Vor dem Nationalmuseum passieren wie jeden Abend Trauben aufgetunter Mofas ein gepanzertes Militärfahrzeug mit MG-Schützen auf dem Dach. Die wohl wirkungsvollere Anti-Terror-Waffe aber steht auf einer Plakatwand im Grünpark dahinter. Ein Riesenabzug von Joana Choumalis „Ça va aller“. Das Leben lässt sich nicht aufhalten.

JONATHAN FISCHER

SZ 12.3.2018

Ich möchte jeden Tag Afrikaner sein – Der Afrobeat-Star Seun Kuti über Stolz, Heimat und „Black Panther“

Seit drei Generationen fordert die Familie Kuti die Machtstrukturen in Nigeria und überall in Afrika heraus. Funmilayo Ransome-Kuti kämpfte für Frauenrechte und gegen den Kolonialismus. Ihr Sohn Fela Kuti mischte Anfang der Siebzigerjahre Highlife, Funk und politische Texte zum neuen musikalischen Genre Afrobeat und wurde für seine Kritik an Nigerias Militärdiktatoren zusammengeschlagen und eingesperrt. Nach Felas Tod im Jahre 1997 setzten seine beiden Söhne Femi und Seun dessen musikalische Mission fort. Seun übernahm mit 14 Jahren Felas Band Egypt 80. Auf seinem neuen Album „Black Times“ (Strut) zielt er auf die Rekolonisierung Afrikas durch Diktatoren und mit ihnen verbündete transnationale Konzerne.

 Der Blockbuster „Black Panther“ feiert mit einer schwarzen Besetzung Afrika als reichen Zukunftskontinent. Hat Ihnen dieser Film nach Donald Trumps „Shithole“-Vergleich nicht aus der Seele gesprochen?

Seun Kuti: Ich habe die begeisterten Reaktionen vieler afrikanischer und afroamerikanischer Kritiker mit Erstaunen registriert. Da geht es um ein imaginäres Königreich Wakanda, eine Art Himmel, um uns Schwarze ruhigzustellen. Aber kann uns Science-Fiction erlösen?

Hat nicht Ihr Vater Fela Kuti mit politischem Pop und dem Leben in seiner Kalakuta-Kommune eine Utopie für ein besseres Afrika entworfen?

Mein Vater war kein Afro-Utopist, sondern ein Afro-Realist. Er hat die Lebenswirklichkeit in Nigeria gesehen und besungen. Genauso wenig halte ich von einer fiktiven Repräsentation schwarzer Menschen. Dazu ist die Lage viel zu ernst. Afrika muss lernen, nach innen zu schauen.

Zumindest korrigieren Utopien wie „Black Panther“ doch viele Negativ-Klischees und lassen Afrikaner wieder stolz und menschlich aussehen. Was ist daran falsch?

Entschuldigung, aber kein Afrikaner braucht einen Film von Walt Disney oder Hollywood, um Stolz für sein Mutterland zu empfinden. Wenn ich durch eine afrikanische Großstadt spaziere und sehe, wie Analphabeten am Straßenrand Mofas, Computer und die neuesten iPhones reparieren – das macht mich stolz. Das ist der wahre Superhelden-Scheiß. Unser Vibranium heißt Erfindergeist.

Sehen Sie denn keine Parallelen zwischen Wakanda mit dem Wundermetall Vibranium und Ihrer Heimat Nigeria mit all dem Reichtum an Bodenschätzen und kulturellen Fertigkeiten?

Wakanda ist ein schlechtes Vorbild: Ein Land, das seinen Reichtum geheim hält und nicht mit anderen schwarzen Nationen teilen will. Wo bleibt da der panafrikanische Gedanke, die internationale Solidarität? Alles wirkt wie eine Kopie des kapitalistischen Amerika. Und Killmonger, der einzige echte Revolutionär, wird als Bösewicht dargestellt. Das Spiel kennen wir doch: Die Weißen gestehen uns einen fiktiven Raum zu, wo wir bitte sehr schwarz sein dürfen. Sie feiern uns sogar – solange wir nicht den weißen Kapitalismus und dessen Ausbeutung unserer Bodenschätze infrage stellen.

Wie einst Ihr Vater kritisieren Sie auf Ihrem neuen Album „Black Time“ die Korruption und Willkür der herrschenden Klasse. Hat sich seitdem nichts geändert?

Für die Menschen hat sich nicht viel geändert. Sie haben noch weniger Mitsprache als früher. Und sie arbeiten – entgegen dem westlichen Klischee vom faulen Afrikaner – äußerst hart für Pfennigbeträge. Am schlimmsten ist, dass die Medien allein in der Hand der Reichen sind: Sie manipulieren die Menschen, sodass etwa die Nigerianer den Ex-General Buhari, gegen den schon mein Vater kämpfte, zum Präsidenten gewählt haben.

Sie halten mit Songs dagegen, die an das Erbe von panafrikanischen Revolutionären wie Thomas Sankara, Kwame Nkrumah oder Patrice Lumumba erinnern. Liegt die Rettung in der Vergangenheit?

Es wachsen kaum neue Rebellen vom Schlag Fela Kutis oder Thomas Sankaras heran, weil die Herrschenden die Menschen indoktrinieren, dass deren Ideen gescheitert seien. Kinder lernen in den Schulen nichts über sie. Ihre Leistungen werden einfach totgeschwiegen. Viele der heutigen afrikanischen Diktatoren kommen aus dem von ehemaligen Kolonialmächten aufgebauten Militär. Kein Wunder, dass sie alle revolutionären Bewegungen niederschlagen.

Kann man bei so viel Sozialrealismus überhaupt optimistisch bleiben?

Sie hören nur die Hälfte meiner Musik. Da ist so viel Hoffnung, Stolz und Schönheit in unserer Realität. Wir haben so viel Kraft. Ich möchte jeden Tag Afrikaner sein. Allerdings müssen wir kämpfen, uns unsere Plätze an einem von Weißen besetzten Tisch zu sichern …

…  und akzeptieren, dass die eigenen Freiheitskämpfer wie etwa Robert Mugabe die Tyrannen von morgen sind?

Natürlich, Mugabe ist korrupt, er sollte zur Rechenschaft gezogen werden. Aber stellen Sie mal seine Verbrechen in die richtige Relation. Die Amerikaner feiern den Christopher-Kolumbus-Tag, und König Leopold wird in Belgien noch immer verehrt, obwohl beide gewaltige Völkermorde zu verantworten haben.

Schwimmen Sie mit Ihrer Musik nicht gegen den Strom? Wenn man sich nigerianische Popkultur anschaut, dann scheint sie 20 Jahre nach Fela Kuti von blankem Materialismus geprägt.

Ein großer Teil der Bevölkerung ist tatsächlich gehirngewaschen. Das fängt mit den vielen Kirchen an, denen die Leute ihr Geld vermachen, damit sie in den Himmel kommen. Aus demselben Grund schwärmen die Menschen von „Wakanda“. Oder sie schauen diese nigerianischen Popvideos, in denen der Hauptdarsteller immer dieselbe Geschichte erzählt: Ich habe es aus dem Slum in die Villa geschafft – schaut euch meine Goldketten und Lamborghinis an, ich kann jetzt sogar eure Freundinnen ins Bett bekommen. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn du arm bist, bist du nichts wert.

In Amerika haben Grassroots-Bewegungen wie Black Lives Matter ein neues Bewusstsein in die Politik und den öffentlichen Diskurs gebracht. Ein Vorbild für Afrika?

Ich sympathisiere zwar mit der „Black Lives Matter“-Bewegung, aber ihre Botschaft missfällt mir: Liebe Weiße, bitte erkennt doch unsere schwarze Humanität an. Ich dagegen sage: Unsere Menschlichkeit ist unser Recht – wir brauchen niemanden, der sie uns bestätigt. Deshalb habe ich eine Bewegung namens „Nigeresistance Movement“ gegründet, eine von vielen Initiativen in Lagos, um junge Menschen zu repolitisieren. Die Geschichte lehrt allerdings, uns vorzusehen. Der Westen und seine transnationalen Konzerne standen stets auf der Seite der korrupten Machthaber. Sie halfen dabei, panafrikanische Idealisten wie Lumumba, Touré oder Sankara blutig zu beseitigen.

Dennoch glauben Sie weiterhin an deren Ideale?

Ja, letztendlich geht es um einen Klassenkampf. Wir sollten uns nicht von den Mächtigen in Ethnien, Religionen, Migranten und Nicht-Migranten spalten lassen. Deswegen wird Afrobeat nie aus der Mode kommen: Er spricht zu Deutschen, Amerikanern wie zu Nigerianern gleichermaßen – als Stimme der Armen.

Interview: Jonathan Fischer

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