Monatsarchiv: Juli 2020

AGENTEN DES WANDELS Deradikalisierung durch Kultur: Das Auswärtige Amt setzt mit dem Förderprojekt „Donko Ni Maaya“ auf die Jugendlichen in Mali

Diallakorodji am Stadtrand von Bamako ist alles andere als chic: Löchrige Lehmpisten, geflickte Hütten, Ziegen und Eselskarren neben improvisierten Marktständen. Junge Malier aber kennen dieses Armenviertel abseits des mondänen Zentrums der malischen Hauptstadt vor allem wegen seines berühmten Hip-Hop-Festivals: „Rapou Dogokun“. In den letzten beiden Jahren strömten Zehntausende Jugendliche aus dem ganzen Land der Musik wegen hierher. Und sobald das malische Kulturministerium die Corona-Beschränkungen aufhebt, soll auch die diesjährige Ausgabe nachgeholt werden – als Förderprojekt des Auswärtigen Amtes. Und Teil einer kulturellen Initiative, die mit deutschem Geld und malischer Kreativität Alternativen zu dem teuflischen Kreislauf sucht, in dem malische Jugendliche so oft feststecken: Aufgerieben zwischen Armut, schlechten Schulen und staatlicher Vernachlässigung auf der einen und dem Ruf radikaler Prediger auf der anderen.

  Master Soumy, ein schlaksiger Typ mit Rasta-Häkelmütze, einer der bekanntesten Rapper Malis, kauert unter einem schattenspendenden Schilfdach mit Blick auf den Niger. „Hip-Hop ist die Zeitung der malischen Jugendlichen. Von den Politikern fühlen sich die meisten nicht ernst genommen, aber wir sprechen ihre Sprache.“ Man sieht Master Soumy nicht an, dass er vor seiner Hip-Hop-Karriere Jura studiert hat. Aber man spürt die intellektuelle Klarheit. Warum er als Initiator von „Rapou Dogokun“ einen so unglamourösen Ort gewählt hat? „Wir müssen“, sagt er, „die Jugendlichen bei sich in ihrer Realität abholen.“ Dann zählt er Fakten auf: Zwei Drittel der malischen Bevölkerung sind jünger als 20 Jahre, ihre Zukunftsaussichten angesichts von Schulausfällen, Arbeitslosigkeit und der prekären Sicherheitslage in großen Teilen des Landes alles andere als rosig. Diese Jugendlichen müsse man für die Demokratie gewinnen. Schließlich sind in Mali Hip-Hop-Stars – abgesehen von religiösen Predigern – die einzigen, die Menschenmassen mobilisieren können. Master Soumy hat da einen Ruf: Seine Songs gegen Polizeiwillkür, Vetternwirtschaft und die Ignoranz „der da oben“ kennen die Jugendlichen hier auswendig. Den „Anwalt der Straßen“ nennen sie ihn. Als Präsident Ibrahim Boubacar Keïta 2017 eine Verfassungsänderung anstrebte, die seine Machtbefugnisse erweitern sollte, organisierte Master Soumy mit seiner Plattform „An Té A Bana“ (Rührt unsere Verfassung nicht an) Demonstrationen Tausender Jugendlicher und brachte das Kabinett dazu, das umstrittene Vorhaben aufzuschieben. Auch bei den aktuellen Protesten gegen den als unfähig beschuldigten Präsidenten IBK mobilisiert er seine Fans.

  Bei der letzten Auflage von „Rapou Dogokun“ waren 150 Rapper aus ganz Mali angereist. Selbst aus Orten wie Mopti und Gao kamen sie – Gegenden, in denen Dschihadisten und Drogenschmuggler arbeitslosen und desillusionierten Jugendlichen oft die einzigen greifbaren Perspektiven bieten. „Deradikalisierung“ und „demokratische Teilhabe“ waren deshalb die Themen, die vier Tage lang in Workshops und auf der Bühne behandelt wurden – mit Beteiligung der Freiburger Rapper Zweierpasch und dem senegalesischen Hip-Hop-Star Xuman. „Der Optimismus der Jugendlichen war mit Händen zu greifen“, erklärt Magali Moussa, die die Finanzierung und Durchführung des Projektes mit Mitteln des Auswärtigen Amts vor Ort betreut. „Am Ende erklärte ein junger Peulh-Rapper aus Gao gar, er werde fortan das Maschinengewehr gegen ein Mikro eintauschen.“ Hoffnung schien da auf. Und bekräftigte Moussas Arbeitsthese, dass kritische Kulturarbeit die Jugend für demokratische Prozesse gewinnen könne. Die Deutsche leitet seit Anfang 2019 das von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit initiierte Pilotprojekt „Donko Ni Maaya“. Aus dem Bamana übersetzt bedeutet das soviel wie: „Kultur im Dienste der Gemeinschaft“. „Wir suchen gezielt nach change agents“, erklärt Moussa. Nach Erneuerern, die der Jugend zeigen, wie sie ihren Anliegen Gehör verschaffen können.

  „Deradikalisierung“ durch Kultur: hatten das die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg nicht auch dem einstigen Nazi-Deutschland verschrieben, etwa durch die Propagierung westlich-libertärer Kultur und die Förderung entsprechend ausgerichteter Zeitschriften? Und war nicht damals der CIA-finanzierte Pariser „Kongress für kulturelle Freiheit“ gegründet worden, um in westlichen Künstlerkreisen autoritär-kommunistischen Ideen entgegenzuwirken? Die Parallelen enden hier aber auch wieder. Denn „Donko Ni Maaya“ agiert nicht im Geheimen, sondern auf Einladung des malischen Staates. Auf der einen Seite steht die Beratung des heimischen Kultusministeriums sowie die Förderung bestehender Kulturzentren und -initiativen. Auf der anderen die Förderung junger Künstler mit ihren Projekten – um Toleranz und Vielfalt zu propagieren. Ein „zunehmender radikalislamistischer Einfluss“, konstatiert die Homepage des Projekts, „bedroht den traditionellen Zusammenhalt der malischen Gesellschaft und die kulturelle Ausdrucksfreiheit.“

  Tatsache ist, dass radikalislamistische Prediger in Mali – auch nach der militärischen Vertreibung der Dschihadisten aus den Städten im Norden Malis durch eine französische Intervention Anfang 2013 – in eine Lücke stoßen, die die Abwesenheit staatlicher Strukturen gerissen hat. Sie nutzen die Unzufriedenheit der Jugend über die Korruption von Polizei, Justiz und Politik. Sie instrumentalisieren die Kultur für eigene Zwecke. Und präsentieren sich für diejenigen, die ihr Heil nicht in der illegalen Migration suchen, als einzige Alternative. Ein „failed state“ wie Mali jedenfalls scheint den perfekten Nährboden für gewaltbereiten Extremismus zu bieten.

  Wer nach Gegenkräften sucht, der findet sie besonders in den jugendlichen Subkulturen der Städte: Hip-Hop, Poetry Slams, moderner Tanz und Theater blühen trotz Krise. Sie bieten Ausdrucksmittel und Orientierung. Und stehen für die Perspektive, dass der einst für sein friedliches Miteinander gepriesene Vielvölkerstaat Mali Lösungen in der eigenen Kultur findet. „Kultur und Kunst gelten in Mali seit jeher als einende gesellschaftliche Kräfte“, erklärt Randa Kourieh, die Leiterin der GIZ in Mali. „Wir müssen alles tun, damit dieses Gewebe nicht zerreißt.“

  „Donko Ni Mayaa“ ist in Mali mit seinem Zwei-Jahres-Etat von 2,5 Millionen Euro der größte Kulturfonds einer einzelnen Nation. Warum sich gerade Deutschland so engagiert? Das hat auch mit der Einsicht zu tun, dass rein militärische Lösungen nicht funktionieren. In den Medien wird meist im Zusammenhang mit Mali nur über den Bundeswehr-Einsatz berichtet: Bisher hat die Bundesregierung bis zu 1100 Soldaten im Rahmen der Uno-Mission zur Stabilisierung Malis und als Ausbilder in das westafrikanische Land entsandt. Die gerade debattierte Ausweitung dieses Einsatzes aber hält etwa Gerd Müller, der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, für den falschen Ansatz: „Nur wenn die Menschen eine Lebensperspektive haben, können wir Radikalisierung, Terror, Flucht und Schleppertum wirksam begegnen.“ Die dahinter stehenden Konflikte schwelen schon lange: Bauern und Hirten rivalisieren um immer weniger Wasser und Weideland, die Jugend hat kaum Aussicht auf geregelte Arbeit, einstige Einnahmequellen wie der Tourismus sind längst versiegt. In den ländlichen Regionen hält die GIZ mit einer Modernisierung der Landwirtschaft und der Wasserversorgung dagegen. Schwerpunkt von „Donko Ni Maaya“ aber ist explizit die Kreativität der vernachlässigten urbanen Jugend.

  Ein staubiger Schulhof in Bamakos heruntergekommenen Banconi-Viertel. Fatoumata Bagoyo gibt ihrer Tanztruppe letzte Anweisungen. Hunderte von Schulkindern haben sich um die Tänzerinnen und die begleitende Trommeltruppe versammelt, folgen gebannt den pantomimischen Bewegungen der Mädchen mit den ernsten Gesichtern. Nein, um Tanzästhetik geht es hier nur in zweiter Linie. Fatoumata Bagoyo, eine energische kleine Frau, hat für ihr Tanztheater ausgerissene und in Heimen lebende Mädchen rekrutiert. Sie tanzen ihre eigene Lebensgeschichte. Wenn sich eine von ihnen im Sackgewand im Staub wälzt, gegen Dämonen spiegelfechtet und schließlich von der Gruppe weggetragen wird – dann verstehen selbst die Minderjährigen, um was es geht: um Gewalt gegen Frauen. Angefangen von der Beschneidung, einer Praktik, der hier noch immer das Gros der Mädchen unterzogen wird, bis zur späteren Zwangsheirat. Fatoumata Bagoyos Tanztheater hat bereits mehrere Tourneen in den Westen unternommen. Dank der Unterstützung durch „Donko Ni Maaya“ aber kann sie ihrer eigentlichen Mission vor Ort nachkommen: „Wir müssen Traditionen infrage stellen. Unser Theater sensibilisiert die Menschen für die mit der Beschneidung verbundenen Traumata.“ So tourt sie mit den Mädchen von Dorf zu Dorf, von Schule zu Schule, lässt Experten den Kindern erklären, an wen sie sich im Fall sexueller Gewalt wenden können. Und erklärt, was Frauenrechte mit Demokratie zu tun haben: „Wenn die Mädchen respektiert werden, dann bedeutet das einen Gewinn für die ganze Gemeinschaft.“

  Diesmal ist auch ein Filmteam bei Bagoyos Aufführung dabei. Amkoullel, ein bekannter Polit-Rapper leitet die Aufnahmen. Er selbst veranstaltet einen von „Donko Ni Maaya“ finanzierten Wettbewerb für Kurzfilme: 25 Teams nehmen aktuelle gesellschaftliche Themen auf und konkurrieren um die Likes des Publikums. Viele beschäftigen sich mit den Auseinandersetzungen zwischen Peulh-Hirten und Dogon-Bauern: Sie hatten in den letzten Monaten zu blutigen Massakern im Zentrum Malis geführt. Auch andere Förderprojekte fokussieren direkt oder indirekt ethnische Konflikte: etwa ein Theaterstück über Versöhnung mit offenem, vom Publikum mitgestalteten Ende. Oder eine Modeschau im Palais de la Culture, in dem traditionelle malische Flechtfrisuren präsentiert werden – und bei der eine Peulh-Frau auch mal eine Dogon-Frisur tragen kann. „Donko Ni Maaya“ gilt nach nur eineinhalb Jahren als eine der wichtigsten Anlaufstellen für die heimische Kulturszene, ob Graffitikünstler eine Schulmauer bemalen oder Slam-Poetry-Künstlerinnen einen Auftritt organisieren wollen. Die deutsche Organisation biete in diesen Fällen auch eine Beratung durch Experten an.

  „Malische Künstler“, erklärt Moussa, „stehen bei allen politischen Diskussionen stets in der ersten Reihe. Das hat sich gerade jetzt während der Corona-Krise wieder gezeigt.“ Sie waren die ersten, die Corona-Sensibilisierungs-Kampagnen starteten, mit Musik und Kunst die Bevölkerung informierten. Andererseits hat es sie selbst schwer getroffen. Auftrittsverbote und abgesagte Tourneen und Festivals brachten viele Künstler in existenzielle Nöte. „Donko Ni Maaya“ reagierte darauf mit der Schaffung digitaler Strukturen. Dazu gehört das Streaming-Format „Café de la Paix“, das regelmäßig live auf Facebook stattfindet. Aber auch der Aufbau von Online-Boutiquen, die Produktion von Videos und die digitale Aufrüstung von Kulturzentren.

  Für die Zeit nach Corona sollen sich auch wieder deutsche und malische Künstler begegnen: Zuletzt hatte das Berliner Omniversal Earkestra in Bamako ein Album zusammen mit Veteranen von Ali Farka Tourés Band und einem Dutzend jungen malischen Bläsern aufgenommen. Viele westliche Popstars pilgern seit Jahren nach Mali. Und dann ist da noch eine Hoffnungsbotschaft: „Donko Ni Maaya“ soll noch in diesem Jahr ausgeweitet werden. Von Bamako nach Gao und den Norden Malis. Die jungen agents of change dort warten schon lange auf ihre Chance.

JONATHAN FISCHER

SZ 29.7.2020

DIE DIEBE SIND IMMER NOCH FREI – John Burl Smith kämpfte schon in den Sechzigern für die Rechte der Schwarzen in den USA und tut es heute noch immer. Jetzt hat er ein Buch über 400 Jahre afroamerikanischen Widerstand geschrieben

John Burl Smith gründete 1967, nach seiner Rückkehr aus Vietnam, zusammen mit Charles Cabbage in Memphis die Invaders, eine Black-Power-Organisation. Er rief zu politischem Ungehorsam auf und organisierte Demonstrationen. Nunhat der 77-Jährige eine Geschichte des afroamerikanischen Widerstands von der Sklaverei bis zur Gegenwart geschrieben, die im August erscheint: „The 400th: From Slavery to Hip Hop“.

SZ: Mr. Smith, was hat Sie zu Ihrem Buch motiviert?

John Burl Smith: Ich habe vier Jahre lang meine Familiengeschichte zusammengetragen und all die historischen Ereignisse, die das Leben der Afroamerikaner seit Anfang der Sklaverei vor 400 Jahren geprägt haben. Die jungen Menschen heute sollen wissen, dass sie auf eine lange Geschichte des Widerstands zurückblicken können. Ich bin jedenfalls stolz auf die „Black Lives Matter“-Bewegung und sehe sie als Fortführung meiner eigenen Geschichte als Black-Power-Aktivist in den Sechzigern.

Wie begann Ihr Interesse für die Politik?

Das hatte in meiner Familie Tradition: Mein Ururgroßvater war als Sklave von seiner Plantage weggelaufen. Seinen Sohn trieb er an, Pfarrer zu werden. Denn das bedeutete, lesen und schreiben zu lernen, die Bibel und die Verfassung aus erster Hand zu verstehen. Als „rider“ tauschte er zwischen den schwarzen Siedlungen Nachrichten über neue Gesetze oder aber drohende Angriffe des Ku-Klux-Klan aus. Diese „rider“ waren die Keimzelle aller späteren Widerstandsbewegungen.

Dennoch waren Sie Mitte der Sechziger, nach Ihrer Rückkehr aus Vietnam, überzeugt, als Afroamerikaner endlich den amerikanischen Traum leben zu dürfen.

Ich glaubte an Amerika, an die Freiheit, an unsere Demokratie. Zum Militär war ich vor allem gegangen, weil das den schnellsten Weg zu Wohlstand und Karriere versprach. Ich hatte also einen gut bezahlten Job beim Staat, ein schönes Auto und ein Apartment – und ich war entschlossen, das Leben eines Playboys zu leben. Bis ich merkte, dass ich einer Illusion aufsaß.

Wann wurde Ihnen das bewusst?

Das war 1967. Der weiße Besitzer einer Tankstelle in Memphis wollte mir einen Tankdeckel verkaufen, nachdem er diesen zuvor von meinem Auto gestohlen hatte. Er versuchte nicht mal, das zu verheimlichen. Okay, wir sind im Süden, und er ist weiß. Ich aber hatte von meiner Zeit im Militär gelernt, gleichberechtigt mit Weißen umzugehen. Also rief ich die Polizei. Die Polizisten hörten mir nicht zu. Als dann noch mein Kumpel Charles Cabbage, ein Black-Power-Aktivist mit Riesen-Afro, aus meinem Volkswagen stieg, richteten alle ihre Waffen auf uns und drückten uns gegen die Wand. Am Ende brachten sie uns beide ins Gefängnis.

Und der weiße Tankstellenbesitzer kam ungestraft davon?

Ja. Dieser Zwischenfall mit dem Tankdeckel erschütterte meinen Glauben an Amerika. Er war der Dieb, aber ich kam hinter Gitter. Zuvor hatte ich oft mit Charles gestritten: Ich verteidigte Amerikas Demokratie, unsere Verfassung und den Vietnamkrieg. Jetzt aber musste ich einigen seiner Thesen recht geben: „Dieses Land liebt dich nicht. Dieses Land schert sich einen Dreck um dich, wenn du schwarz bist.“

Anschließend gründeten Sie zusammen mit Charles Cabbage und Coby Smith die Black Invaders, eine Organisation mit ähnlichen Zielen und Vorstellungen wie die Black Panthers, aber ohne deren martialisches Auftreten.

Die Black Panthers konnten in Kalifornien mit ihren Waffen in das State House marschieren und lebendig wieder rauskommen. Im Süden war das undenkbar. Stattdessen kümmerten wir uns um die Nöte der schwarzen Community und unterstützten etwa 1968 den Streik der Müllarbeiter in Memphis. Anders als ihre weißen Kollegen hatten sie keine Gewerkschaft, keinen Urlaub, kein Krankengeld, keine soziale Fürsorge.

Wie sah Ihre Kooperation mit den schwarzen Arbeitern aus?

Wir mussten sie erst mal politisch organisieren. Bisher hatten immer die schwarzen Kirchen die Vermittlungsrolle zwischen Bürgermeister und schwarzer Community gespielt. Aber deren Mittelklasse-Anführer arrangierten sich mit dem weißen Establishment, sofern sie selbst von Zugeständnissen profitierten. Die Arbeiter gingen dabei leer aus. Deshalb setzten wir auf die Politik der Straße und griffen zu Guerilla-Taktiken, die ich bei der Armee gelernt hatte: Wir zündeten Müllhaufen an, blockierten abwechselnd Hauptverkehrsstraßen und hielten die Polizeikräfte rund um die Uhr im Einsatz, um Druck auf die Stadtverwaltung aufzubauen.

Als Martin Luther King sich an die Spitze des Protestmarschs der Müllarbeiter setzte, gingen die Bilder um die Welt: von Demonstranten mit Schildern, auf denen „I Am a Man“ stand, und Polizisten, die auf Unbewaffnete, Frauen und Kinder einprügelten. Für Sie waren die Proteste dennoch ein Erfolg. Warum?

Martin Luther King suchte mit seiner „Poor People’s Campaign“ lange vergeblich nach Verbündeten. Als er sah, dass die Invaders für seinen Protestmarsch 50 000 junge Menschen aus dem ganzen Süden mobilisiert hatten, so viele wie nie zuvor, beraumte er ein Strategiegespräch mit den Invaders an.

Es war Martin Luther Kings letztes Treffen überhaupt, wenige Stunden vor seiner Ermordung im Lorraine Hotel. 

Er wollte seinen Kurs ändern, für die Armen kämpfen, statt nur für Mittelklasse-Anliegen wie gute Jobs, die Öffnung weißer Schulen für schwarze Kinder und das Recht, sich Häuser in weißen Gegenden zu kaufen. Er erzählte uns von seinem Plan, mit unserer Hilfe Black-Power-Organisationen im ganzen Land zusammenzubringen, um einen Marsch der Millionen in Washington zu organisieren. Es sollte der Höhepunkt seiner „Poor People’s Campaign“ werden, mit der er die Ausbeutung armer Schwarzer als Grundlage des amerikanischen Kapitalismus anprangern wollte. FBI-Chef Edgar Hoover nannte Martin Luther King daraufhin den „gefährlichsten Mann Amerikas“. Ich bin überzeugt, dass es Kings Radikalisierung zugunsten der Armen war, die zu seiner Ermordung führte.

Die Rolle der Invaders wurde erst Jahrzehnte später bekannt, als der Kongress bei einem Hearing zu Martin Luther Kings Ermordung geheime FBI-Akten freigab.

Die etablierten Bürgerrechtsanwälte wollten den Strategie-Schwenk Martin Luther Kings am liebsten verleugnen. Zusammen mit den weißen Medien zeichneten sie das Bild eines christlichen Pazifisten – aber am Ende war King zu denselben Ansichten wie Malcolm X gekommen.

Sehen Sie heute ein Wiedererstarken eines offiziell längst zur Vergangenheit erklärten Rassismus?

Donald Trump ist für mich ein Klon von Präsident Woodrow Wilson. Als Wilson 1913 an die Macht kam, hat er zusammen mit FBI-Direktor Hoover alle Fortschritte, die die Afroamerikaner seit Beendigung der Sklaverei 1866 gemacht hatten, mit einem Streich annulliert. Lincoln hatte den ehemaligen Sklaven Land und Bildung verschafft. Woodrow Wilson führte die Rassentrennung selbst in Regierungsbehörden wieder ein. Nach der Verfassung hatten wir Afroamerikaner seit 1866 die Rechte von Bürgern erster Klasse – aber bis heute ersinnen die Regierung, die Bundesstaaten und die Stadtverwaltungen immer neue Tricks, um uns unser Recht vorzuenthalten. Etwa durch die Neuziehung von Wahlkreisen oder gezielte Versuche, Leute am Wählen zu hindern.

Wie viele andere Aktivisten brachte Hoovers FBI auch Sie Anfang der Siebziger für mehrere Jahre ins Gefängnis. Was machte dem Establishment derart Angst an der Black-Power-Bewegung?

Wir wollten Amerika vor den Pranger der ganzen Welt stellen. Hoovers FBI hatte in den Zwanzigerjahren Marcus Garvey aus dem Land gejagt, der mit seiner Organisation UNIA die schwarzen Arbeiter vereinigen wollte. Und bestimmt ist es kein Zufall, dass Malcolm X gerade zu einem Zeitpunkt ermordet wurde, als er sich darauf vorbereitete, den Internationalen Gerichtshof in Den Haag anzurufen: Amerika sollte dort wegen Verbrechen gegen seine afroamerikanischen Bürger angeklagt werden. Und diesmal hätte Amerika das nicht verhindern können, wie zuvor bei „We Charge Genocide“.

Worauf spielen Sie an?

Das Anliegen war nicht neu. Paul Robeson und William Patterson wollten bereits 1951 eine Petition bei den Vereinten Nationen einreichen. Sie hieß „We Charge Genocide“ und war eine Abrechnung mit der systematischen Misshandlung und Ermordung von Afroamerikanern. Aber Amerika hat nie darüber diskutiert. Warum? Das State Department hatte jede Berichterstattung darüber verboten. Damals drohte James Strom Thurmond, ein Senator aus South Carolina, gar mit dem Austritt der Vereinigten Staaten aus den UN – ein Schachzug, um ein Hearing mit Paul Robeson und William Patterson um jeden Preis zu verhindern. „Black Lives Matter“ hat es heute geschafft, die Weltöffentlichkeit zu sensibilisieren, es gibt Solidaritäts-Demonstrationen überall auf der Welt. Und ich warte immer noch darauf, dass Amerika endlich wegen Völkermordes angeklagt wird – auch deswegen habe ich „The 400th“ geschrieben.

Erkennen Sie denn nicht an, dass sich die Situation der Afroamerikaner seit den Fünfziger- und Sechzigerjahren entscheidend gebessert hat?

Im Grunde hätten wir die sogenannte Civil Rights Bill von 1954 oder den Voting Rights Act gar nicht gebraucht – denn die selben Rechte waren den schwarzen Amerikanern schon 1866 zugesprochen worden. Die Einzelstaaten hatten sie nur nicht umgesetzt. So kämpfen wir bis heute um die Anwendung von Gesetzen, die bereits seit 150 Jahren gültig sind.

Nach Ihrer Zeit im Gefängnis studierten Sie Psychologie. Sie wollten verstehen, welche psychologischen Mechanismen dazu führen, dass schwarze Menschen gesellschaftlich nicht aufsteigen, dass ihr Widerstand so oft ins Leere läuft. Was haben Sie herausgefunden?

Menschen verlernen, sich zu wehren, wenn sie durch brutale Strafen dazu konditioniert werden. Man nennt das in der Verhaltenspsychologie „erlernte Hilflosigkeit“. Das war der Zweck der regelmäßigen Lynchmorde im Süden. Zwischen 1912 und 1946 wurden über 5000 Afroamerikaner gelyncht. Das waren oft richtige Volksfeste, zu denen die weißen Zuschauer ihre Kinder mitbrachten und bei denen sie Erinnerungs-Postkarten oder gar Reliquien des Ermordeten erwerben konnten. Als Harry Truman 1946 als erster Politiker öffentlich Anti-Lynching-Gesetze forderte, weigerte sich der Kongress, diese zu ratifizieren. Die Polizei benutzt diese Strategie bis heute: Sie schüchtern die armen Schwarzen durch Einsatz übermäßiger Gewalt ein. Und wenn Trump wie kürzlich geschehen „Black Lives Matter“-Aktivisten mit „Gangstern“ und „Unruhestiftern“ gleichsetzt, liefert er der Polizei auch noch eine Rechtfertigung.

Trump schrieb in einem Tweet: „When the looting starts, the shooting starts“ – ein Rekurs auf eine rassistische Parole aus den Sechzigern. Er spielt die Plünderungen, die einige der BLM-Proteste begleiteten, zu einer nationalen Gefahr hoch.

Das ist verkehrte Welt: Bestenfalls haben sich Afroamerikaner das Plündern von den Weißen abgeschaut. Waren nicht sie es, die zuerst den amerikanischen Ureinwohnern und dann den Sklaven alles genommen haben? Bis in die Vierzigerjahre galt das Verjagen Schwarzer als legal. Am bekanntesten ist das „Black Wall Street“-Massaker in Tulsa von 1921: Weiße Nachbarn zündeten über tausend Häuser der wohlhabenden schwarzen Community an, vertrieben die afroamerikanischen Geschäftsleute und nahmen deren Eigentum in Besitz. Die Polizei und die Nationalgarde stellten sich auf die Seite der Angreifer. Heute laufen die Enteignungen subtiler.

Wie meinen Sie das?

Starke Kräfte in unserer Gesellschaft rechtfertigen die moderne Sklaverei – ich meine damit die miese Bezahlung schwarzer Arbeiter, die Gefängnisindustrie und das marode Wohlfahrtssystem. Bis heute beruht unser kapitalistisches System auf der Ausbeutung schwarzer Menschen. Trump und seine Freunde sehen den gedeckten Tisch von oben. Wir aber mussten uns immer mit dem Blick von unten zufriedengeben und – schlimmer noch – unseren Kindern beibringen, ihr Leben vor uniformierten Menschen zu schützen, die von unseren Steuern bezahlt werden.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Landes?

Ich glaube immer noch an Amerika. Wir schwarzen Amerikaner haben diese Nation buchstäblich mit unseren Händen aufgebaut. Wir haben zu viel Blut für dieses Land vergossen, haben zu lange Amerikas Werte verteidigt, dafür gekämpft, dieses Land zu einer Heimat für uns alle zu machen, um jetzt aufzugeben. Mein Buch ist die Geschichte einer lang geprüften Liebe.

Haben Sie als Veteran einen Ratschlag für die jungen Leute, die heute für „Black Lives Matter“ auf die Straße gehen?

Sie sollten ihren Protest in Politik ummünzen. Und endlich die Greise im Kongress und Senat ablösen, die immer noch in den Vierzigern und Fünfzigern leben. Wenn sie es schaffen, so viele Stimmen in die Urnen zu bekommen wie sie Menschen auf der Straße mobilisieren, dann werden die Politiker ihnen zwangsläufig zuhören.

„The 400th – From Slavery To HipHop“ (River City Publishing, Memphis)

Interview: JONATHAN FISCHER

SZ 15.7.2020john burl smith

 

 

Aufklärung, Vernunft und Liebe: Afropop-Kolumne

Eigentlich kommt der Berliner Schlagzeuger und einstige Mitgründer der Münchner Retro-Funk-Combo Poets Of Rhythm ja vom Jazz. Jetzt aber trägt Max Weissenfeldt die jamaikanische Basskultur nach Afrika. Und revolutioniert aus seinem neugebauten Studio in Kumasi, Ghana, heraus den Afropop. Nachzuhören etwa auf dem Album „Nsie Nsie“ (Philophon“). Y-Bayani & Baby Naa and The Band Of Enlightenment, Reason & Love lautet der Projektname, der dann doch ganz gut zum afrofuturistischen Gestus des Ganzen passt. Hinter Y-Bayani steckt der Sänger Yusef Hussain, den Weissenfeldt bei Aufnahmen mit Jimmy Taylor, Sohn der Highlife-Legende Ebo Taylor, kennenlernte. Der Mann hielt sich mit Uhrenreparaturen über Wasser und hatte nur diesen einen Song „Asembi Ara Ambe“ im Repertoire. Aber wie würde dessen flehentlicher Gesang wohl in Kombination mit einem der schlingernden Reggae-Riddims klingen, die Weissenfeldt zusammen mit Josie Coppola, dem Schlagzeuger von Gentleman, eingespielt hatte? Das Stück mit seinem polyrhythmischen Shuffle, den mollig-mäandernden Melodien und infektiösen Chants gab die Blaupause für ein ganzes Album. Y-Bayanis Duettpartnerin fand sich in der Kirchensängerin Naomi Addy alias Baby Naa. Deren Soul befördert Weissenfeldt mit Hilfe quengelnder und gurgelnder Sci-Fi-Keyboards und jazzigem Vibraphon ins Kosmische. An einen Ort, wo Fela Kuti, Herbie Hancock und Rita Marley in einer ghanaischen Kirche tanzen. Vollanalog natürlich. Und im Dienst einer höheren Art von Aufklärung, Vernunft und Liebe.

Ähnlich unwahrscheinlich klingt die Konstellation eines der stärksten Ethio-Jazz-Alben seit langem: „To Know Without Knowing“ (Agogo Records), eingespielt von Mulatu Astatke & The Black Jesus Experience. Mulatu Astatke hatte in den 60er Jahren während seines Studiums in London und New York Jazz gespielt, und den afroamerikanischen Swing und Soul bei seiner Rückkehr nach Addis Abeba mit traditionellen Klängen fusioniert. Seine Musik müsste jedem Popkonsumenten im Westen längst ein Begriff sein: Sei es durch den melancholischen Soundtrack zu Jim Jarmuschs „Broken Flowers“, sei es durch Samples von Kanye West bis Damian Marley. „The Black Jesus Experience“ aus Melbourne, Australien, aber nutzt Astatkes Musik nicht nur als exotischen Geschmacksverstärker. Peter Harper, der Gründer und Saxophonist des achtköpfigen Kollektivs hat die Liebe zum Ethio-Jazz von seinem Vater, einem Musiklehrer des äthiopischen Marine-Orchesters in den 60er Jahren, übernommen. Zusammen mit der 1992 aus Äthiopien emigrierten Sängerin Enushu Taye versteht er „The Black Jesus Experience“ als globales Funk-Experiment: Karibisch angehauchte Bigband-Bläser, Afrobeat-Rhythmen, Reggae und Gnawa unterfüttern Astatkes lässige Vibraphon-Kaskaden. Lediglich „Kulun Mankwaleshi“ bleibt dabei dem traditionellen Ethiojazz-Format verhaftet. Ansonsten wechseln die melismatischen Vocals von Enushu Taye mit den politisch-kritischen Raps des zimbabwisch-australischen MC Mr. Monk, der etwa in dem zehnminütigen „Living On Stolen Land“ über die Rechte der Aborigines rapt. Für den 77-jährigen Astatke ist es bereits sein zweites Album mit den Freunden aus Melbourne. Und egal wieviel Zutaten hier zusammenkommen: Seine pentatonischen Skalen vermögen nach wie vor zu hypnotisieren.

Oumou Sangaré verzichtet diesmal auf Funk-Experimente. Hatte die große Dame des malischen Pop ihr letztes Album „Mogoya“ noch mit Schlagzeuger Tony Allen und allen möglichen Dub-Effekten Soundsystem-tauglich aufgerüstet, spielt sie nun die selben Songs nochmal in abgespeckten Versionen ein. Das muss kein Verlust sein. Im Gegenteil: Oumou Sangaré zeigt auf „Acoustic“ (No Format!), warum sie überall in Westafrika verehrt wird, eine Pop-Heilige, deren Konterfei auf den Kleinbussen in Bamako neben denen von Bob Marley, Che Guevara und Koran-Gelehrten prangt. Es ist die Kombination aus Haltung und Stimme! Um ihren schneidend-nasalen Sirenengesang zur Geltung zu bringen, genügen ihr ein Background-Chor, akustische Gitarre und eine dreckig-bluesige Ngoni-Laute. Atmosphärisch und intim klingt das. An zwei Tagen hat Sangaré alle elf Songs live in einem Pariser Studio eingespielt – ohne Verstärker oder Overdubs. Das Ergebnis strahlt mit der archaischen Wucht früher Bluesaufnahmen, wo die Magie allein auf der Präsenz der Musiker ruht. Oumou Sangarés Songs prangern Polygamie, Zwangsheirat und die Verstümmelung weiblicher Genitalien an. In „Yere Faga“ warnt sie vor den leeren Versprechungen der Männer – und wenn Sangaré, eine erfolgreiche Geschäftsfrau und Hotel-Besitzerin, in „Mali Niale“ ihre emigrierten Landsleute dazu aufruft, am Wiederaufbau der Kriegs- und Krisen-geplagten Heimat mitzuwirken, hat das wohl mehr Gewicht als ein Wort des Präsidenten.

JONATHAN FISCHER

SZ 14.7.2020Y-Bayani

Gruß vom Ende der Welt – Arbeitslose Reiseführer aus Timbuktu verschicken auf Bestellung handgeschriebene Postkarten. Da keine Touristen mehr in die sagenumwobene Stadt kommen, haben sie dadurch ein kleines Einkommen

Ein amerikanisch-malisches Gemeinschaftsprojekt verschafft arbeitslosen Reiseführern in der von Krisen gebeutelten Wüstenstadt Timbuktu in Mali ein Einkommen – und Menschen aus aller Welt exotische Post. Auf der Website postcardsfromtimbuktu.com, die ein amerikanisch-malisches Paar betreibt, kann man sich für zehn Dollar eine handgeschriebene Postkarte bestellen. Verschickt wird sie von Ali Nialy, der lange in Timbuktu als Reiseführer gearbeitet hat. Seit einigen Jahren war das nicht mehr möglich, weil Tuareg-Nationalisten und Islamisten seine Heimatstadt besetzt hatten. Auch nach der Befreiung Timbuktus durch eine französische Interventionstruppe bleibt die Sicherheitslage prekär – nun kommt auch noch Corona dazu. Die einst von Touristen frequentierte „Perle der Sahara“ durchlebt schwere Zeiten.

SZ: Herr Nialy, wie erleben Sie die Corona-Krise in Timbuktu? Haben Sie dort auch Ausgangssperren gehabt?

Ali Nialy: Wir hatten einschließlich der ersten Maiwoche eine Ausgangssperre, jeweils von sechs Uhr abends bis zum nächsten Morgen. Covid-19-Fälle gab es in Timbuktu zunächst nur bei den hier zur Friedenssicherung stationierten Uno-Truppen. Nun gibt es etwa 40 akut Erkrankte unter den Einheimischen. Aber wir saßen natürlich alle vor dem Fernseher und haben gesehen, wie schlimm es China, Amerika und Länder in Europa erwischt hat.

Und jetzt geht das Leben wieder ganz normal weiter?

Nein, wir dürfen nur mit Masken an öffentliche Orte wie etwa auf den Markt. Die Menschen meiden auch größere Versammlungen. Am meisten hat uns Corona jedoch wirtschaftlich getroffen. Wenn die Wirtschaft hier eh schon kränkelte, hat die Ausgangssperre sie noch zusätzlich geschwächt.

Was hat Sie dazu gebracht, Menschen aus aller Welt Postkarten zu schreiben?

Früher kamen viele Touristen, um unsere berühmten Lehmmoscheen, Märkte und Manuskript-Sammlungen einmal mit eigenen Augen zu sehen. Als das nicht mehr möglich war, fragten mich Phil und Bintou, ein befreundetes amerikanisch-malisches Paar: Könnten wir nicht wenigstens Postkarten aus der Stadt verschicken? Phil gründete die Website postcardsfromtimbuktu.com. Zusammen mit ein paar Freunden fingen wir an, die dort eingegangenen Aufträge zu bearbeiten. Für mich war das ein großer Glücksfall. Denn die Postkarten erlauben mir, meine Familie zu ernähren.

Was reizt Menschen daran, eine Postkarte ausgerechnet aus Timbuktu verschicken zu lassen?

Viele finden es wohl originell, Post aus so einem entlegenen Ort zu bekommen. Timbuktu gilt ja im Westen als Ende der Welt. Ein Ort, der vor allem in Sagen und Legenden existiert.

Haben Sie das selbst auch jemals so empfunden?

Nun gut, Timbuktu ist tatsächlich abgeschnitten, weil es von der Sahara umgeben ist. Europäische Expeditionen und Forscher versuchten bis Mitte des 19. Jahrhunderts vergeblich, unsere Stadt zu erreichen. Aber während meiner 21 Jahre als Tourguide kamen jährlich viele Tausend Touristen zu uns.

Was sicher auch mit der mysteriösen Geschichte Ihrer Heimatstadt zu tun hat.

Unsere Geschichte ist unser größter Schatz: Wir waren jahrhundertelang ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. All die Karawanen von und nach Marokko oder Mekka passierten Timbuktu, es wurde in der Stadt mit Gold und Salz gehandelt. Hier entstanden bereits im 14. Jahrhundert die ersten Universitäten Afrikas, die Gelehrte aus ganz Nordafrika und Arabien anzogen. Damals galt die Stadt mit ihren vielen Bibliotheken als Zentrum der Wissenschaft und als sagenhaft reich – es hieß in Europa sogar, unsere Straßen seien mit Gold gepflastert.

Heute kommen keine Touristen mehr nach Timbuktu. Was machen die vielen ehemaligen Reiseleiter?

Wir Tourguides sprechen alle fließend Französisch und Englisch, manche auch noch andere europäische Sprachen. Deswegen arbeiten einige von uns heute als Übersetzer bei den Uno-Truppen. Aber das sind vielleicht nur fünf Prozent. Der Rest von uns bleibt arbeitslos.

Wie funktioniert das Postkarten-Geschäft ganz praktisch?

Eine Postkarte mit einer handgeschriebenen Nachricht im Internet zu bestellen, kostet zehn Dollar. Ein Teil davon geht in die Organisation, den Druck der Ansichtskarten, das Porto. Am Ende bleiben mir ungefähr sechs Dollar übrig. Das ist gutes Geld. Ich kaufe davon Essen für die Familie, bezahle die Telefonkarten und den täglichen Tee. Der Durchschnittsverdienst liegt in Mali unter 100 Dollar im Monat. So kann ich mit einem Schwung Postkarten eine Zeit der Flaute überstehen. Wenn es für mich Arbeit in unserer Hauptstadt Bamako oder in Mauretanien gäbe, wäre ich längst weggezogen. Aber so kann ich hierbleiben und habe wenigstens meine Familie um mich.

Gibt es überhaupt eine funktionierende Post in Timbuktu?

Sie war lange nicht in Betrieb. Als ich vor fünf Jahren das erste Mal mit meinen Postkarten kam, musste ich den Postamtsleiter zu Hause aufsuchen. Er hatte keine Briefmarken. Also ließen wir welche aus Bamako kommen. Heute bin ich sein wichtigster Kunde. Oft sperrt er sein Amt nur wegen mir auf.

Welche Botschaften schreiben Sie denn üblicherweise für Ihre Auftraggeber?

Es sind meistens Glückwunschkarten zu einem Fest oder zum Geburtstag. Oder auch Grüße an eine Person, die früher einmal unsere Stadt besucht hat oder davon träumt, es zu tun. Ich habe gelernt, auf Spanisch, Italienisch und Deutsch zu schreiben. Selbst japanische Schriftzeichen sind mir inzwischen geläufig. Am häufigsten gehen die Karten in die USA.

Und wie kommen die Postkarten von Timbuktu in die ganze Welt?

Früher haben wir sie in wasserdichten Säcken mit unseren Booten, den Pinassen, auf dem Niger verschickt. Aber das hat sehr lange gedauert. Heute bringt sie der Postmann mit dem Moped an den Flughafen: Dort geht jeden Tag ein Flug der Uno-Truppen in die Hauptstadt Bamako. Die Karten erreichen die Absender in etwa ein bis zwei Wochen.

Wenn Timbuktu heute in einer Nachrichtensendung vorkommt, dann meist im Zusammenhang mit Terrorgefahr. Wie ist Sicherheitslage?

In letzter Zeit hat sich die Lage etwas entspannt. Davor gab es so gut wie jede Woche Entführungen von Geschäftsleuten oder Autoraub durch bewaffnete Banditen. Ob die Touristen jemals zurückkommen werden? Ich hoffe es. Jedenfalls beten wir, dass es mit unserer Stadt weiter aufwärtsgeht – inschallah.

INTERVIEW: JONATHAN FISCHER