Monatsarchiv: Oktober 2011

Die Rhythmusschwestern – Das Publikum lacht, die Szene staunt: Wie das Frauen-Trio „Wonnebeats“ sich von Rio über Havanna bis ins Hofbräuhaus gstanzlt

München – Sonntagnachmittag in einem grau gefilzten Kellerraum in der Nähe der Sendlinger Großmarkthalle: „Muzik“ stand auf dem Klingelschild vor der Tür. Ein Scherz? Selbstironische Anspielung auf die multikulturelle Bastard-Musik, die hier geprobt wird? „Nein, das Namensschild hat unser Hausmeister geschrieben“, erklärt Barbara Fried, die hier wochentags als Percussion-Lehrerin arbeitet. Tssss-ts-ts-tssss, tssss-ts-ts-tsssss fegt der Besen über das Becken. Die Conga lässt einen Shuffle-Beat dahinschlurfen, während die große umgehängte Samba-Trommel dumpfe Bassdonner dazwischen schlägt. Ein Rhythmus, der mindestens so viel Fernweh macht wie das Schwellengeratter vom benachbarten Verladebahnhof. Bis die Heimat mit hellen Frauenstimmen ruft. Und Stub’nmusi-Gesänge durch den Keller wehen: „Wir sind das Rhythmusschwestern-Move-and-Groove-Orchester / sind die Stöckeschwinger und Wirbelfinger / sind die Stimmungsbringer, now lets groove along. . .“

Wenn Andrea Schick, Barbara Fried und Julia Braun-Podeschwa – auch bekannt als Wonnebeats – in Fahrt kommen, dann treffen präzise und hart geschlagene, afrokubanische und brasilianische Rhythmen auf heimelige Harmoniegesänge, wie sie eigentlich zur bayerischen Volksmusik gehören. Bei ihnen sieht das verdammt leicht aus: Trommelbreaks, Gesangseinsätze, choreographierte Tanzschritte und Gesten. „Wir sind die Synkopenwipper, Offbeat-Schnipper, Beatversteher und Taktverdreher. . .“ Nein, Angeberei ist das kaum.

Erst letzten Sommer haben die – namentlich nicht ganz zufällig auf Wannabes deutenden – Damen sich einen überregionalen Ruf erspielt. Und das vor allem dank des Gstanzl-Slams im Hofbräuhaus. Sie waren als krasse Außenseiter gestartet: Zwei Preißn-Madl in der Band, dazu noch ein Repertoire, das die bayerische Mundart nur am Rande streift. Dennoch lehrten sie die Konkurrenz Respekt: die Rapper; die derben Mannsbilder; und auch die Hardcore-Gstanzler. Sie alle konnten gegen den Charme dieser so feschen wie feinsinnigen Rhythmus-Furien nicht an und mussten sich am Ende vor den Kameras des Bayerischen Fernsehens widerwillig geschlagen geben.

„Wir selbst“, sagt Julia, „waren am meisten überrascht. Schließlich hatten wir bei der ersten Runde gerade mal ein einziges Gstanzl im Repertoire.“ Zwar leben alle drei Musikerinnen seit Jahrzehnten in München. Doch nur Barbara Fried spricht von Haus aus Bairisch. Bei der Aussprache des Bajuwarischen helfe sie schon mal nach, dafür würden die Wonnebeats-Kolleginnen ihre Samba-Gesänge schleifen. Am Ende gab sich selbst Jury-Mitglied Stofferl Well überrascht: „Dass di jetzt Preißn san, des hob i mir jetzt ned denkt / was beweist, dass d’ Preißn auch musikalisch san.“ Der erste Preis: ein Auftritt auf der Oiden Wiesn. Mit Holzlöffeln vom Viktualienmarkt, Tamborins, Maracas und Boom-Whackers ließen die drei Musikerinnen dort exotischste Rhythmen auf das Bierpublikum los – nebst ein wenig Selbstironie: „Von Kuba nach Bavaria, ihr habt’s es gehört / mir meng reisen / da kenn’ ma nix / denn mir san Preißn.“

Klar, dass Barbara Fried an dieser Stelle neckisch auf ihre Kolleginnen zeigt. Ihre Musiker-Eltern luden regelmäßig Nachbarn zur Hausmusik mit Zither und Hackbrett ein – und schon als Kind hatte sie Spaß daran, die Harmonie-Stimme zu singen. Ihre Mitmusikerinnen lernte sie vor 15 Jahren auf der Münchner Latin Percussion Schule kennen. Doch erst bei einem Wiedertreffen im Theaterchor für Dieter Dorns „Die Bacchien“ entstand die Band-Idee: Zwar hatten sich alle drei Wonnebeats von dem Kuba- und Samba-Percussion-Boom im München der neunziger Jahre infizieren lassen, haben bei lokalen Bands wie Quizumba und Macondo mitgemischt. „Aber das war dann doch alles sehr traditionell orientiert, man spielte nur wie in Brasilien oder Kuba.“ Warum nicht das Ganze autobiographisch brechen? Und statt eines ewig vor sich hintreibenden Percussion-Geklöppels sich an ganz eigene Gesänge wagen? „Das rein instrumentale Rumsti-Wumsti“, sagt Julia Podeschwa-Braun, „hält doch auf Dauer niemand aus – es sei denn, man tanzt oder ist selbst Percussionist.“ Also wagte man einen Weg, den zuvor schon Rudi Zapfs Bavario oder die Kuba-Boarischen gegangen waren – allerdings in umgekehrter Richtung: von der rhythmisch komplexen Weltmusik zu den Heimat-Gesängen.

Dass Fusionen aus Mundart und Karibisch-Südamerikanischem nun mal gerade hip sind, das geben die Wonnebeats gerne zu. „Gstanzln können wir inzwischen aus dem Stand“, sagt Andrea Schick. „Aber den Gesang so mit den Rhythmen zu verzahnen, dass nichts mehr aufgesetzt wirkt – das ist die Herausforderung.“ Aufgesetzt soll auch sonst nichts sein: Das heißt: kein Dirndl auf der Bühne, höchstens ein buntes Haartuch, wie es die drei berufstätigen Mütter auch privat tragen würden. Den gut gemeinten Rat jedenfalls, jetzt doch ganz aufs Bayerische zu setzen, haben die Wonnebeats in den Wind geschlagen. Dafür macht das Rumwildern zu viel Spaß. Etwa beim „Rhythmus-Western“, bei dem sie zu Triangel, Kazoo, Surdo und Congas das Wort „Lonely“ wie eine große Kinomelodie daher schluchzen, um zum Schluss ihre imaginären Colts auszublasen. Ob bayerischer Comparsa oder Bajão: Bei jedem Song wird durchgewechselt. Am Ende der Probe – Dutzende Instrumente liegen wie Spielzeug über den Boden verstreut – intonieren die Rhythmusschwestern einen Alperer-Jodler. Mit Cajon und Kalimba. Ist es die untergehende Sonne oder der Nachklang der „Muzik“? Auf dem Heimweg strahlt Sendling in wunderbar rosigem Licht.
SZ 29.10.2011
JONATHAN FISCHER

Meshell Ndegeocello: »Weather« (NaÏve/Indigo)

Mit ihrem Debüt Plantation Lullabies rebellierte sie gegen die sexuellen und politischen Verlogenheiten der amerikanischen Gesellschaft. Neun Alben später ist der Kampfgeist zwar nicht verflogen, doch zu einer Meditation über Wahrheit und Schmerz herabgedimmt. »Let me die a small death / when you tell me the truth«, singt Meshell Ndegeocello, bekennende Lesbe und Rollenvorbild für Sängerinnen wie Erykah Badu und Jill Scott, im Titel Petite Mort . Ein Bekenntnis mit Sogwirkung: Beziehungs-Sackgassen, mitmenschliche Täuschungen – Ndegeocello lässt selbst solche Düsternisse sexy klingen. Selten einmal blitzt ihr vertrauter Funk-Bass auf. Ansonsten vertraut die afroamerikanische Multiinstrumentalistin auf die Künste des Produzenten Joe Henry, der bereits Alben von Aimee Mann und Ani Di Franco veredelte. Man merkt den sparsamen, von Folkklängen getragenen Orchestrierungen jedenfalls dessen Handschrift an. Ein, zwei Gitarren-Akkorde, schleppendes Schlagzeug, ein verlorenes Piano: Das reicht, um die dunkle Kraft und Zerbrechlichkeit von Balladen wie Leonard Cohens Chelsea Hotel oder dem Titeltrack Weather zur Geltung zu bringen. Ndegeocellos mal soulig-gehauchter, mal rezitierender Gesang wirkt dabei so ungeschützt und anrührend wie ein halbnacktes Kind im Herbstwind.
JONATHAN FISCHER
Die Zeit, 27.10.2011

Unter wilden Göttern – Anthony Caronias Fotoband über afro-kubanische Religion

Alle paar Monate erscheint ein neuer Fotoband mit dem Anspruch, den so malerisch ruinösen wie magisch aufgeladenen Alltag der Kubaner einzufangen. Und fast immer spielt dabei die afro-kubanische Religion eine Rolle – prägen doch die Orishas, jene Repräsentanten afrikanischer Götter, die vor vielen Jahrhunderten mit den Arbeitssklaven für die Zuckerplantagen hier landeten, bis heute den Alltag der Inselbewohner.

Der in Italien geborene Fotograf Anthony Caronia fokussiert nun die mit diesem Kult verbundenen Rituale in einem großformatigen Schwarzweiß-Band. „Dies ist eine fotografische Darstellung von Glauben und Mut“, erklärt er im Vorwort zu „Afro-Cuba. Mystik und Magie der afro-kubanischen Religion“. Da die religiösen Rituale auf Kuba kaum getrennt vom restlichen Leben in Wohnungen, auf Hinterhöfen und manchmal gar auf der Straße stattfinden, begegnen selbst flüchtigen Besuchern hier überall Zeichen dieser Kulte: Hausaltäre, ganz in Weiß gekleidete Initiationskandidaten, nächtliche Trommeln und Gesänge. Die meisten Bücher über Kuba behandeln diese Phänomene mit einem touristischen Unterton und stellen die Rituale als Exotismen zur Schau.

Ganz anders Anthony Caronia: Er hat die Fotos aus dem tiefsten Inneren eines Palero, eines Anhängers dieser afro-kubanischen Religion, gemacht – und gibt dem Betrachter das Gefühl eines Eindringlings in eine Welt, zu der er ansonsten keinen Zugang hätte. Die Bilder verraten den Blick des Eingeweihten: Altäre, Opfergaben, Besessenheit, Tänze, Initiations- und Reinigungsrituale, eingefangen in Schwarzweiß-Fotos, die bei aller Bewegung und offensichtlichen Emotionalität etwas Intimes ausstrahlen: „Keine einzige Fotografie“, behauptet Caronia, „wurde ohne die Zustimmung der Orishas gemacht“.

Der Fotograf lässt uns dabei auch an seiner eigenen spirituellen Reise teilhaben. Dass auf der Karibikinsel die Religion keine Diskriminierung nach Hautfarben kennt, eröffnete ihm ungeahnte Möglichkeiten. So schloss er sich, einer persönlichen Offenbarung folgend, vier Jahre lang einem Padrino oder Paten an, ließ sich nach und nach in die Rituale des Kultes Palo Mayombe einführen und wurde zum geweihten Palero. Seine Fotos entstanden zu einem Zeitpunkt, als er das volle Vertrauen seines Padrino gewonnen hatte – sein Blick aber auch schon ernüchtert war: „Im Grunde wollte ich sehen, wie Wunder geschehen. Und ich brauchte etliche Frustrationserlebnisse, bis ich lernte, dass ich Orishas nicht sehen musste, sondern nur fühlen.“

Auch wenn die Bilder das rituelle Schlachten von Tieren oder die Gesichter von Besessenen zeigen, wirken sie kaum je theatralisch oder dekorativ. Vielmehr veranschaulichen sie den instrumentellen Charakter dieser Volksreligion, die sich nicht an ein unerreichbares Jenseits wendet, sondern die Orishas für die Bewältigung der Lebenswirklichkeit um Hilfe anruft – und dabei Regeln und Rituale dem Alltag pragmatisch anpasst. Dass Caronia kritische Worte für den Machtmissbrauch mancher Padrinos findet, tut der Intensität seiner Bilderzählung keinen Abbruch: Am Ende wirft die Entschlossenheit, als Europäer gleichzeitig Beobachter und Beteiligter der afro-kubanischen Religion zu sein, grundsätzliche Fragen auf: nach der Adaption fremder Wurzeln, der eigenen Identität und der Anziehungskraft einer Religion, die keine Trennung zwischen sakral und weltlich kennt.

JONATHAN FISCHER

ANTHONY CARONIA: Afro-Cuba. Mystik und Magie der afro-kubanischen Religion. Benteli Verlag, Zürich 2010, 159 Seiten, 39 Euro.

SZ 24.10.2011

Die Beats sind interessant, nicht die Egos Sapperlot! Der beste deutsche Hip-Hop entsteht im Münchner Glockenbachviertel – ein Besuch bei Sepalot

Ein grauer Hinterhof im Münchner Glockenbachviertel: An der Treppe, die in den Keller hinunter führt, bröckelt der Putz. Sebastian Weiss drückt die Tür zu einem schmalen Gewölbegang auf, in dem sich ein Drumset, Lautsprecherboxen, eine alte Gitarre, Wasserkocher, Zeitschriften und Platten stapeln. Es riecht nach Moder. Ein Nebenraum mit Holzvertäfelungen aus den fünfziger Jahren dient als Gesangskabine. Wenn moderne High-Tech-Studios heute mit einem Rechner, Mikro, Abhöre auskommen, dann stellt dieses Loch so ziemlich das genaue Gegenteil dar. Überall Gerätschaften aus der Steinzeit des Hip-Hop: Neben einem Set 1210er-Plattenspieler, ein Fender Rhodes Piano Stage 73 und ein Korg Synthie Moog. Sebastian Weiss, alias Sepalot, ein drahtiger Typ mit Forscher-Blick kann jedes einem seiner Lieblings-Musiker aus den siebziger Jahren zuordnen: „Das hörst du bei Herbie Hancock, das hier hat Stevie Wonder . . .“. Beinahe zärtlich lässt der Hip-Hop-Produzent – und Mitbegründer der Münchner Hip-Hop-Formation Blumentopf – seine Finger über zwei graue Kästen streichen. SP 1200 Sampler-Dinosaurier: „Fünf Sekunden Mono-Sample-Zeit, und hier steckst du die Floppy Disc ein.“

Auch wenn Sepalots Arbeitsplatz in etwa so gemütlich wirkt wie das Depot eines Technik-Museums, hat er in dem Durcheinander doch sechs von der Kritik hochgelobte Alben mit seiner Band Blumentopf und diverse ambitionierte Seiten-Projekte produziert. Zum Beispiel die EP Fraud, wo er mit Freunden AC/DC -Songs coverte. Oder auch Bavarian Beat Konducta: Ein instrumentales Hip-Hop-Album, das nur aus Samples bayerischer Volksmusik besteht. „Das mache ich zur Gaudi“, sagt der Mann, dessen Künstlername mutmaßlich auf eine Verschleifung von Sir Rap-A-Lot mit der bayerischen Respekts-Bekundung Sapperlott zurückgeht: Warum sonst sollte sich einer der besten Hip-Hop-Produzenten Deutschlands mit solch skurrilen und kommerziell kaum verwertbaren Ideen die Zeit vertreiben? Sein Spieltrieb scheint jedenfalls kaum von Gedanken an Charts, Ruhm und Publikumsinteresse gebrochen zu sein. Entsprechend leichthändig hat er sein neues Solo-Album produziert: „Chasing Clouds“. Ganze vier Monate Keller-Gefrickel reichten, um aus einer Handvoll Ideen ein starkes und stilistisch eigenwilliges Hip-Hop-Opus zu fertigen – mit Songs, die den ganz großen Pop atmen.

„Mich haben am Hip-Hop immer die Beats interessiert“, sagt Weiss, „und nicht die Egos, die sich darüber breitgemacht haben.“ Tatsächlich gehört Weiss, Jahrgang 1974, zu einer neuen Generation von Hip-Hop-Liebhabern. Als er aufwuchs, befand sich der deutsche Rap in der Talsohle des Gangster-Rap, da war für ein Mittelklasse-Kind wie ihn nicht viel zu holen, obwohl er die Musik nach wie vor liebte. So wurde er Teil einer der wichtigsten Entwicklungen des jüngeren Hip-Hop: Der Emanzipation der Produzenten von den Rappern. „Inzwischen bin ich überzeugt davon, dass die Musik funktioniert, ohne dass ein Rapper halbscharige Reime darüberlegt.“

Gegen alles Halbscharige – also Unmotivierte, Laxe – hatte Sepalot sich bereits mit seiner Combo Blumentopf gestemmt. Seit Ende der neunziger Jahre bildeten sie zusammen mit Freundeskreis und den Beginnern die Vorhut einer mal politischen, mal selbstironischen Rap-Alternativkultur, die sich ihre eigene Version von Hip-Hop schnitzen wollte. Die Gangster-Rap-Welle wischte diesen Traum erstmal beiseite. Heute ist Sepalot „der schlechte Ruf des deutschen

Rap egal“ – weil es sich eh besser aus

der Underdog-Perspektive produziert. „Wenn du der Tollste sein willst, kommt was anderes raus, als wenn dich die Umwelt als Nerd belächelt und du es trotzdem durchziehst.“ Sepalot nippt an seinem zweiten Cappuccino. „Uncool-Sein ist der beste Nährboden für interessante Sachen.“ Wobei Sepalot wohl auch eine Abgeklärtheit gegenüber all den Modetrends meint, die ihn als Jugendlichen gefangen nahmen. Damals hatte er über ein paar Mod-Freunde den Soul für sich entdeckt. Dann fing er – mitten in der „Rare Groove“-Welle der frühen Neunziger – mit dem „Diggen“ an. „Ich wälzte Vinylstapel, bis meine Finger schwarz waren.“ Erste Auftritte als DJ von Blumentopf absolvierte Sepalot in Old-School-Manier: Bei Auftritten in Münchner Jugendzentren reihte er wie einst Grandmaster Flash Beatsequenzen aneinander, mixte die Breaks stundenlang von Plattenteller zu Plattenteller. Blumentopf aber wuchs mit der Horizonterweiterung von Sepalot bald aus der Funk-Ecke heraus. Die Band machte sich durch ARD-„Raportagen“ zu den Fußballweltmeisterschaften 2006 und 2010 auch jenseits der Hip-Hop-Kultur einen Namen. Und Weiss begann, mit Synthie-Electro-Klängen zu experimentieren. Oder unterlegte einen Song ausschließlich mit Film-Samples.

Auf seinem ersten Album „Red Handed“ fand Sepalot 2008 endgültig eine eigene, so futuristische wie Club-taugliche Sprache: Soulgesänge, jazzige Beats und pumpende Electro-Bässe. „Chasing Clouds“ aber liegt als Gesamtwerk noch mehr „neben der Spur“, wie der Produzent sagt. Da schimmern seine alten Lieben Soul und P-Funk durch die Ritzen – während verzerrte Bässe den Retro-Sound zum Raver-Raumschiff aufrüsten. Ein rhythmischer Fausthagel eröffnet das Album: Das Instrumental „Servus“ bleibt nicht der einzige Verweis zur verstorbenen Detroiter Produzentenlegende J.Dilla und dessen idiosynkratischer Sample-Arbeit. Auf die Brüche kommt es an. Ob Sepalot singen lässt oder einen alten Sam-Cooke-Schlager ausschlachtet – immer kostet er den Kontrast zwischen weichen Soulklängen und Synthie-Beats aus. Gerapt wird auf dem Album nur zwei mal sechzehn Takte. Weiss spannt lieber gospelnde Gesangslinien wie Brücken über seine kantigen Rhythmen. Das ist für ihn der schwierigste Part: „Roughe Beats schüttle ich dir aus dem Ärmel, aber eine Melodie, die nicht kitschig ist, puh!“

Sucht man nach Vorbildern aus dem aktuellen Hip-Hop, nennt Weiss Kanye Wests „808s & Heartbreak“ – und das nicht nur des melancholischen Ambientes wegen. Sondern auch weil sich hier eine durch und durch künstlerische Haltung jenseits aller Hip-Hop-Realismen spiegelt. „Hey, wir machen verdammt noch mal Kunst, was wollt ihr?“ Sepalot ruft das ein paar imaginären Gästen seiner eklektischen Live-Sets zu, die mal wieder zum „Spiel doch mal endlich Hip-Hop“-Gemecker ans DJ-Pult treten. Ja, Typen wie Kanye West hätten seinen Respekt. Weil es ein Risiko darstelle, über den Tellerrand des Hip-Hop hinauszuzielen, Schneisen durch eine noch nicht kartographierte Pop-Wildnis zu schlagen. Der Münchner Produzent markiert hier seinen ganz eigenen Weg: Gospel, Kraut-Rock, Disco, Electro? Für Sepalot alles nur Baumaterial, um über einem Hip-Hop-Chassis seine trotzige Liebe zum Seelenvoll-Unfertigen, dem Charme des Unpolierten auszuleben.

Die Mitstreiter für „Chasing Clouds“ kommen aus aller Welt: Die US-Rapper Buff 1 und Fashawn hat Sepalot über Myspace angefragt; der Sänger Fabian Füss ist ein Spezl aus der Münchner Bandszene; Frank Nitt wohnte vor vier Jahren monatelang bei ihm, während Weiss selbst auf einer Weltreise die Neuseeländerin Ladi6 bei einem Gig in Sidney kennenlernte – und zwei Wochen später mit dem Wohnmobil vor ihrer Tür stand. Mittlerweile hat der Münchner ihr mehrere Chart-Hits in ihrer Heimat beschert.

Die Gast-Vokalisten, sagt Sepalot, brauche er, um seine eigenen Emotionen zu verkörpern: Das Video zur Single-Auskopplung „Rainbows“ etwa verfilmt den Ennui und das Beziehungsende eines High Society Pärchens – mit Sepalot als dessen Chauffeur auf dem Weg zum Friedhof. „Hip-Hop“, sagt er, „hat doch oft Angst vor großen Gefühlen. Mir gefällt, dass ich hier der Traurigkeit neben der breiten Brust ihren Platz geben kann.“ Emotionaler Schmutz trifft auf Pop-Instinkt: Es ist als ob das Hochglanz-Genre Hip-Hop einen gehörigen Schuss Sepalot’scher Uncoolness bräuchte. Das beste deutsche Hip-Hop-Album 2011 jedenfalls stammt aus einem modrigen Keller im gentrifizierten Glockenbachviertel.
JONATHAN FISCHER
SZ 20.10.2011

Paul Simon emanzipierte sich schneller als gedacht von Art Garfunkel – nun wird er 70

Als sich Paul Simon 1970 im Streit von seinem Gesangspartner Art Garfunkel trennte, setzten weder seine Plattenfirma noch das Gros der Kritiker viel Hoffnung in die Solo-Karriere eines Mannes der eben „nur“ als die kreativere Hälfte von Simon & Garfunkel galt. Ein Duo, das in der Liga von Bob Dylan und den Rolling Stones spielte, aber kaum deren Coolness ausstrahlte. Schließlich orientierten sich die alten Schulfreunde Simon und Garfunkel weniger am schwarzen elektrischen Blues als an den Close-Up-Gesängen der Everly Brothers, deklamierten ihre Engelsstimmen nicht so sehr Sex, Drugs und Rock’n Roll als eine tiefe spirituelle Sehnsucht.

„Sounds Of Silence“, „America“ oder „Bridge Over Troubled Water“ waren Heilungs-Zeremonien für die wunde Seele eines von den Morden an den Kennedy-Brüdern, Martin Luther King und dem Vietnam-Krieg erschütterten Amerika. Mit Harmonien, die beseelten, nicht aufrührten, wie der aufkeimende Rock. Erste Solo-Hits wie „Kodachrome“ oder das gospelnde „Love Me Like A Rock“ zeigten jedoch Paul Simons Stärke: Frische, optimistische Melodien mit Texten zu paaren, die auf tiefschürfende Weise soziale und politische Themen aufgriffen.

Erst nach dem 1975er Album „Still Crazy After All These Years“ schien die Magie des All-American-Darling zu verblassen. Auch wenn das Reunion-Konzert mit Art den Central Park füllte: Simon beklagte den Verlust jeder Inspiration, privat setzte ihm seine zweite gescheiterte Ehe zu. Überraschenderweise aber rettete er sich nicht in introspektives Gejammer. Sondern ging hinaus, um die ganze Welt zu umarmen.

Ausgerechnet im Apartheid-geplagten Südafrika fand er Hoffnung und jede Menge inspirierende Sounds. Sie beflügelten sein 1986er Album „Graceland“, ein Magnum Opus der Weltmusik, das mit südafrikanischen und anderen Diaspora-Klängen experimentierte, lange bevor das dank David Byrne oder Damon Albarn hip wurde. Und auch wenn Simon auch auf den Folgealben südafrikanische Chöre, brasilianische Perkussionisten und westafrikanische Gitarristen zum Mitspielen einlud: Er klang doch immer noch – und Gott sei Dank! – wie ein jüdischer Songwriter aus New York City.

Wen störte es da, wenn ihn ein paar Kritiker des „musikalischen Kolonialismus“ verdächtigten? Hatte der Immigrantensohn aus New Jersey doch den Weg dafür bereitet, dass 20 Jahre später großartige junge Bands wie Vampire Weekend sich dem Pop des schwarzen Kontinents zuwendeten. Nun feiert Paul Simon seinen 70. Geburtstag. Und man darf wetten, dass außer Art auch eine Menge Anrufer aus Afrika das Telefon seiner Villa in New Canaan, Connecticut, klingeln lassen.
JONATHAN FISCHER
SZ 13.10.2011

Der Gangster-Guide: In Los Angeles führt ein ehemaliges Gang-Mitglied Touristen durch Problemviertel wie South Central

Kein Problem, Alfred Lomas auf dem Hotelparkplatz zu erkennen: ein bulliger, untersetzter Typ mit tätowierten Flammen, Frauenkörpern und einem großen „F“ auf den Armen. Das F, wird er später erzählen, steht für seine ehemalige Gang „Florencia“. „Ich hoffe, mein Auto stört Sie nicht“, begrüßt der Tour-Guide seinen Kunden. Ein fester Händedruck. Und eine einladende Bewegung in Richtung eines rostigen Kleinwagens.

Nach der Lektüre der allmorgendlichen Meldungen der Los Angeles Times über die jüngst in Gang-Auseinandersetzungen verletzten oder getöteten Teenager, fühlt es sich etwas seltsam an, mit einem ehemaligen Gangster durch diese Viertel zu fahren. „Ich habe eine Vereinbarung mit vier Gangs ausgehandelt, dass sie meine Touristengruppen nicht behelligen“, sagt Lomas, sobald der Sicherheitsgurt angelegt ist. Immerhin verzichtet der Betreiber der „LA Gang Tours“ – anders als bei seinen monatlichen Bustouren durch die Ghettos – darauf, eine Einverständniserklärung unterschreiben zu lassen, nach der man sich „freiwillig in potentiell lebensgefährliche Situationen begibt“.

Dann geht es los, und so gefährlich, denkt man bisweilen, schaut Los Angeles South Central doch gar nicht aus: das Rasengrün zwischen den artig aneinandergereihten Häuschen, die nur wenige Meilen entfernten Wolkenkratzer von Downtown und die Silhouette der Hollywood-Hills. Wer South Central aus Hip-Hop-Videos und einschlägigen Filmen wie „Boyz In The Hood“, „Colours“ oder „Menace II Society“ kennt, der könnte Lomas’ Führungen durch die No-Go-Areas seiner Stadt womöglich für eine makabre Alternative zu einem Hollywood-Stars-Ausflug halten.

Doch Lomas weist bei der Fahrt auf Gebäude und Zeichen, die man sonst wohl übersehen hätte: den weißen, mit Fensterschlitzen bewehrten Hochhauskomplex des größten Gefängnisses von LA, das betonierte Flussbett, in dem Graffiti-Künstler ihre überdimensionalen Buchstaben hinterlassen haben, einen Park, in dem die berüchtigte Gang MS 13 ihren Ursprung hat. Die ärgsten Slums meidet Lomas. „Das wäre ausbeuterisch, da reinzufahren“, meint er.

Zwar bieten auch Chicago und Las Vegas Besichtigungen der Schauplätze von Al-Capone-Mafia und Mob an – doch nur Lomas’ Tour führt durch Gebiet, in der noch heute Tag für Tag Kämpfe wüten. Lomas weiß um die Brisanz seines Unternehmens, deswegen verpflichtet er seine Kunden – darunter viele Lehrer, Sozialarbeiter und Kommunalpolitiker – die Kameras stecken zu lassen. Auf der Fahrt referiert der 45-Jährige, der heute als Gang-Sozialarbeiter bei einer Kirche angestellt ist, nüchterne Zahlen: 90 000 Gangmitglieder, 20 000 Insassen im LA County Jail und 15 000 Tote in den vergangenen zehn Jahren. „Ich selbst lag schon auf dem Totenbett, war angeschossen und süchtig nach Aggression, Crack und anderen Drogen. Nein, da ist nichts Glamouröses dran.“

Lomas’ Biographie erinnert an die vieler in South Central aufgewachsener Jugendlicher: mehrere Onkel als Mörder im Knast, die Eltern verarmt und überfordert, der Teenage-Cousin ein Killer. Mit zwölf Jahren besteht Lomas das Aufnahmeritual der Florencia-13-Gang: 13 Sekunden Gruppen-Prügel. Ein Versuch, sich durch eine Verpflichtung bei den Marines dem Gangleben zu entziehen, scheitert. Am Ende nutzt Lomas sein militärisches Training, um im Auftrag der Gangs Drogen-Transfers zu organisieren. Er durchlebt die Paranoia eines Crack- und Methamphetamin-Süchtigen, kommt ins Gefängnis, streift nach seiner Entlassung als Obdachloser durch Downtown, wo ihn Freiwillige der christlichen Hilfsorganisation Dream Centre aufgabeln. Heute, sagt Lomas, gehe es ihm darum, „der Welt die Wahrheit des tristen Ghetto-Alltags zu zeigen“ – zu erklären, warum ein Großteil der schwarzen und Latino-Jugend seiner Stadt ein Leben führe, in dem es darum geht zu töten oder getötet zu werden.

Lomas beschäftigt auf seinen Bustouren ein knappes Dutzend Ex-Häftlinge als Guides, darunter Mitglieder der mit seiner ehemaligen Gang verfeindeten „Bloods“ und „Crips“. Mit den Einnahmen aus den Touren werden die Stellen zum Teil finanziert. Während Lomas’ Kleinwagen durch die grauen Industriebrachen von South Central rollt, an der Slauson Avenue leerstehende Lagerhallen und aufgegebene Eisenbahngleise passiert, erinnert sich der Ex-Gangster an seine Kindheit: „Diese Straße hier war die Grenze zu den weißen Vierteln. Niemand überquerte sie. Und wer es doch wagte, wurde garantiert von der Polizei verprügelt.“ Ebenso gefährlich wie die Rassenschranken sei das Labyrinth unsichtbarer Gebietsgrenzen zwischen den Gangterritorien. Lomas deutet auf eine Gruppe Teenager, die am Metallzaun einer der barackenähnlichen Sozialsiedlungen lehnen: „Sehen Sie die roten Käppis? Hier residiert die Bloods-Gang – und du kommst besser nicht mit einem blauen Tuch, wie die Crips es tragen, um die Ecke.“ Oder mit einer Kamera. Fotografieren ist während der Tour nur an ausgewählten Orten möglich. Und Gangmitglieder sind auf jeden Fall tabu.

Abseits seines Jobs als Tour-Guide fungiert Lomas als Vermittler. Er hat einen Waffenstillstand zwischen seiner ehemaligen Florencia-Gang und der 18th Street Gang auf den Weg gebracht, arbeitet an der Einrichtung eines Boxclubs im ansonsten verwahrlosten South Central, fährt im Auftrag seiner Kirche mit einem Truck voller gespendeter Lebensmittel durch die Sozialsiedlungen. Ohne diesen Hintergrund wären die Gangland-Touren kaum möglich: „Ich gehöre zu den wenigen“, sagt Lomas, „die sich ungehindert sowohl in Latino- als auch in afroamerikanischen Gang-Territorien bewegen können. Die Jugendlichen respektieren mich – weil fast jeder von ihnen eine Mutter, Tante oder Oma hat, die von mir mit Lebensmitteln versorgt wird.“

Mitten in Watts biegt Lomas in eine Sozialsiedlung ein: Die einstöckigen, durchnummerierten Baracken mit den vergitterten Fenstern und den Überwachungskameras an den Wänden erinnern an eine Justizvollzugseinrichtung. „Wir leben die ganze Zeit wie im Gefängnis“, sagt Scorpio, der hier auf einem Parkplatz auf uns wartet. Der 42-jährige Gangveteran hat mehr als die Hälfte seines Lebens im Gefängnis verbracht. Er hat gedealt, geraubt und von seiner Waffe Gebrauch gemacht. Aus Mangel an Alternativen, wie er sagt. Die nächste Mall, das nächste Restaurant, der nächste Arbeitsplatz sind weit entfernt, die lokalen Schulen eine Katastrophe. Heute arbeitet Scorpio als Lehrer in einer privaten Schulinitiative, die Aussteigern und Problem-Jugendlichen zu einem Abschluss verhelfen soll. „Die Eltern hier“, erzählt er, während ein Polizeihubschrauber im Tiefflug kreist, „haben kein Geld für Privatschulen. Und wer seine Kinder auf eine High School in ein anderes Viertel schickt, riskiert, dass sie von feindlichen Gangs angegriffen werden.“ Politische Rezepte liefert auch Tour-Guide Lomas nicht. Und doch liegt am Ende eine unausgesprochene Frage in der Luft: Warum nur zahlen die amerikanischen Steuerzahler jährlich mehrere Milliarden Dollar dafür, dass Polizei und Justiz gegen die Banden vorgehen, während Ghetto-Lehrer wie Scorpio oder Sozialarbeiter wie Lomas auf Spenden angewiesen sind?

En passant deutet Lomas auf Straßenschilder: Grape Street, Slauson Avenue, Compton. Straßenzüge, die von Gangster-Rappern gerne als Ausweis der eigenen Authentizität zitiert werden und heldenhafte Kulissen-Vorlagen für Computerspiele wie „Grand Theft Auto“ abgeben. Vor Ort dagegen verliert sich die Ghetto-Romantik schnell: Ab und zu kurbelt Lomas sein Fenster herunter, ruft ein paar Bekannten auf der Veranda ein „What’s up?“ zu. Erkundigt sich nach Neuigkeiten. Und bekommt ein paar Nachrufe in Steckbriefform. An einer Ampel nähern sich zwei junge schwarze Mädchen dem Beifahrerfenster. Jede trägt einen großen Korb mit dem Foto eines jungen Mannes dran. „Wie heißt er?“, fragt Lomas. „Wann ist er gestorben?“ Dann wirft er ein paar Dollarscheine in den Sammelbehälter – „für seine Beerdigung“.
JONATHAN FISCHER
SZ 13.10.2011

Ein gutes Leben zu führen, ist die beste Rache: Jeff Tweedy, Sänger und Songwriter der Band „Wilco“, über Kritiker, ein anderes Denken und „Scheiß-Songs“

Jeff Tweedy, der aus Chicago stammende 44-jährige Frontmann von Wilco , gilt als einer der einflussreichsten Sänger und Songwriter des amerikanischen Indierock. Ursprünglich von Punk und Country-Musik beeinflusst, schlug er später mit seiner Band experimentellere Wege ein. Wilcos neuntes Album „The Whole Love“ ist soeben auf dem bandeigenen Label dBpm Records erschienen.

SZ: Sie haben mit „Wilco“ Ihre Country-Fundamente immer wieder mit fremdartigen, experimentellen Sounds aufgebrochen. Darf man das auch als Statement gegen den fundamentalistischen, xenophoben, heimattümelnden Teil dieser Szene lesen?

Jeff Tweedy: Nein, Wilco funktioniert nicht auf diese Weise, das ist nicht unser Spielfeld. Natürlich gibt es schreckliche politische Strömungen in Amerika. Aber was kommen Sie mir hier eigentlich mit solchen Themen? Ich bin bestimmt nicht fremdenfeindlich. Und um ehrlich zu sein, halte ich das für eine merkwürdige Art, ein Interview zu eröffnen.

SZ: Dass Sie nicht fremdenfeindlich sind liegt auf der Hand. Ich dachte eher an die Einwanderungsgesetze in Arizona.

Tweedy: Als Deutscher sollten Sie sich, was Nationalismus betrifft, nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen. Sie sitzen da doch selbst im Glashaus.

SZ: Sie glauben nicht daran, dass sich mit Rockmusik eine politische Botschaft transportieren lässt?

Tweedy: Bekämpfen Sie in Deutschland etwa die Rechten mit intelligenter Popmusik? Ich glaube, dass jede Kunst politisch ist, indem sie sich auf die Seite der Schöpfung schlägt – als Gegensatz zu den Kräften der Zerstörung. Mehr werde ich dazu nicht sagen. Ich betreibe ja schließlich keine offene Politik; Kunst ist viel besser darin, die Menschen sich entfalten zu lassen, als ihnen irgendeine Form von Ideologie einzutrichtern.

SZ: Immerhin haben Sie auch zusammen mit Billy Bragg ein Album mit Songs von Woody Guthrie aufgenommen. Er hat doch mit seiner politischen Meinung nie hinter dem Berg gehalten.

Tweedy: Gut, seine politischen Songs waren vielleicht die populärsten. Aber das war nur die eine Seite: Guthrie hat auch viele großartige Liebeslieder geschrieben. Ich habe lange Zeit in den Archiven gewühlt und seine handschriftlichen Aufzeichnungen studiert. Und ich glaube, dass es Guthrie später im Leben wichtiger fand, unsere gemeinsame Menschlichkeit zu ehren und zu feiern.

SZ: Sie verstehen sich weniger als Aktivisten denn als humanistischen Poeten.

Tweedy: Lassen Sie mich es so ausdrücken: Ein gutes Leben zu führen, ist die beste Rache.

SZ: Sie singen auf „One Sunday Morning“ die Zeile „I said it’s your god, I don’t believe in/ No, your bible can’t be true“. Eine Auseinandersetzung mit dem christlichen Fundamentalismus, der die amerikanische Gesellschaft durchdringt?

Tweedy: Das ist eine Zeile, die ich aus der Sicht des Sohnes an einen strenggläubigen Vater richte. Das hat nichts mit einer Verdammung des Christentums als Ganzes zu tun.

SZ: Spiegelt sich diese Doppeldeutigkeit nicht auch in der Musik Ihres neuen Albums? Etwa wenn Sie mit der Krautrock-artigen Jam „The Art Of Almost“ eröffnen – um dann eingängige Country- und Folk-Melodien nachzuschieben.

Tweedy: Die Kritiker lesen in die Brüche bei Wilco immer so etwas abgehoben Künstlerisches rein. Ich kenne nicht sehr viele Menschen, die nur eine Sache oder nur einen Stil mögen. In der Rockmusik herrschte lange die Idee vor, dass du dein Territorium markieren musst: Wenn du eine Band magst, solltest du nicht auch die entgegengesetzte Musik mögen. Aber warum soll ich nicht Neil Young mögen, auch wenn ich die Sex Pistols höre?

SZ: Verehren Sie eigentlich die Traurigkeit oder was bedeuten melancholische Zeilen wie „sadness is my luxury“ auf dem neuen Album?

Tweedy: Ich denke, dass viele Menschen die Traurigkeit entwerten, sie zu einem minderwertigen Gefühl herabwürdigen. Manchmal wünsche ich mir, ihr ihren ehrenvollen Platz zurückzugeben.

SZ: Sie haben Obama einst im Wahlkampf unterstützt. Sind Sie enttäuscht darüber, wie sich seine Präsidentschaft entwickelt hat?

Tweedy: Nein, bin ich nicht! Und Sie?

SZ: Ich stelle nur fest, dass viele der einstigen Unterstützer aus der Rockszene sich wieder aus der Politarena verabschiedet haben. Stellt Indie-Rock so etwas wie einen Rückzugsraum für weiße liberale Bildungsbürger-Kids dar?

Tweedy: Wurde Rockmusik nicht schon immer in erster Linie für weiße gebildete Mittelstandskinder produziert? Und wenn Sie es problematisch finden, dass Musik eine zeitweilige Erlösung von den Kompliziertheiten des politischen Alltags bietet: Was ist denn falsch daran, in der Musik Trost zu suchen? Mir selbst haben Platten oft Trost gespendet.

SZ: Reden Sie von der nostalgischen Geborgenheit, die Country sich auf die Fahnen schreibt?

Tweedy: Nein, ich rede von so etwas wie einem poetischen Trost. Man verändert als Künstler die Welt nicht durch Aufrufe zu Protestmärschen, oder indem man irgendwelche marxistischen Thesen predigt, sondern indem man seine Umgebung auf eine neue poetische Weise wahrnimmt. Wenn Musik – ob Country oder Indie-Rock – Türen aufstößt, einem Kid klarmacht, dass es andere Möglichkeiten des Denkens und Wahrnehmens gibt, dann ist sie extrem mächtig.

SZ: Curtis Mayfield hat einmal gesagt, dass er ein paar Botschaften in seine Tanzmusik einbaut, damit die Leute sie singen, wenn sie von der Party nach Hause gehen.

Tweedy: Ja, bloß dass Curtis Mayfield Party-taugliche Musik gemacht hat und ich nicht. Gut ich könnte natürlich singen, dass eine Steuererhöhung für die Reichen Amerikas Probleme lösen würde. Aber mal ganz ehrlich: Das wäre doch künstlerisch gesehen ein Scheiß-Song.

SZ: Würde Sie selbst ein Projekt mit einem nichtwestlichen Musiker reizen?

Tweedy: Mit Seun Kuti, diesem Bandleader aus Nigeria, würde ich gerne mal zusammenspielen. Aber nicht, dass Sie dann wieder mit Ihren Verdächtigungen kommen: Musikalischer Neo-Kolonialismus, ein Weißer eignet sich exotische Kultur an . . . Man kann es den Journalisten doch einfach nicht recht machen.
Interview: Jonathan Fischer
SZ 6.10.2011