Monatsarchiv: Dezember 2020

Musa Mansa, reichster Mann aller Zeiten

Jeff Bezos, Bill Gates? Nein, der reichste Mann der Weltgeschichte war ein König von Mali, der im 14. Jahrhundert zu einer einzigartigen Pilgerreise aufbrach.

Von Jonathan Fischer

Glaubt man der Forbes-Milliardärsliste von 2020, dann ist Amazon-Gründer Jeff Bezos der reichste Mann der Welt, gefolgt von Microsoft-Mogul Bill Gates. Mit einem geschätzten Vermögen von 113 beziehungsweise 98 Milliarden US-Dollar können beide als Krösusse unserer Zeit gelten. Doch sind Bezos und Gates auch die reichsten Männer aller Zeiten?

Nein, dieser Titel gebührt wohl einem Afrikaner: Mansa Musa, König von Mali, der zwischen 1312 und 1337 regierte. Einer der mächtigsten Herrscher seiner Zeit.

Ironie der Geschichte, dass Mali knapp 700 Jahre später zu den ärmsten Ländern der Welt gehört und nur wenige historisch interessierte Menschen im Westen von Mansa Musa und der goldenen Vergangenheit seines westafrikanischen Reiches gehört haben. Das könnte sich demnächst ändern: Gerade feierte der Kinofilm „Sun Of The Soil“ Premiere, eine semidokumentarische Spurensuche, in der sich die Lebenslinien eines jungen malischen Künstlers und des Mansa Musa miteinander verweben.

Es ist auch ein offenes Geheimnis, dass der legendäre malische König den Blockbuster „Black Panther“ inspirierte: Im fiktiven Universum von Marvel Comics ist ihm die Figur von T’Challa alias Black Panther, superreicher König von Wakanda, nachempfunden. Und hört man den Namen Mansa Musa – neben Malcolm X oder Nelson Mandela – nicht immer wieder in Hip-Hop-Lyrics? Als Statthalter für die Kombination „reich und schwarz“?

„Man stelle sich alles Gold vor, das ein Mensch besitzen kann, und verdoppele es dann.“

Mansa Musa soll, umgerechnet, mehr als doppelt so vermögend gewesen sein wie Bezos und Gates zusammen. Auf, kaufkraftbereinigt, gut 400 Milliarden Dollar hat die amerikanische Website Celebrity Net Worth Mansa Musas sagenumwobenes Vermögen geschätzt. Genau verifizieren lässt sich das heute zwar nicht mehr, die Quellenlage ist schwierig. Zeitgenössische arabische Historiker und Gelehrte wie al-Umari, Ibn Khaldun und Ibn Battuta waren sich jedoch einig: Mansa Musas Reichtum sei „atemberaubend“ und „unbezifferbar“ gewesen. „Man stelle sich alles Gold vor, das ein Mensch besitzen kann und verdoppele es dann“, sagt der amerikanische Geschichtsprofessor Rudolph Ware von der University of Michigan: „Das ist der Kern aller Berichte über ihn.“

1312 besteigt Mansa Musa den Thron. Er ist der zehnte Mansa oder König des Mali-Reiches. Seine Vorgänger aus der Ethnie der Malinke hatten ein Imperium aufgebaut, das von der bewaldeten Atlantikküste bis zum Nigerbogen und den Ausläufern der Sahara reicht.

In der Region des heuten Südmali fanden sich gewaltige Vorräte an Gold und Kupfer. Aber auch die Kontrolle der Handelswege zwischen Nord- und Westafrika und hier vor allem der Handel mit Salz und Sklaven trugen zum Reichtum des Imperiums bei. Dennoch war das Königreich Mali lange kaum bekannt – bis es Mansa Musa auf die Landkarten setzte. Und zwar wortwörtlich.

Der 1375 von Abraham Cresques verfasste Katalanische Atlas zeigt oberhalb der Stadt Timbuktu einen schwarzen König mit Krone, ein Zepter in der einen und eine Goldkugel in der anderen Hand. Die Darstellung war für europäische Königshäuser gemacht. Hatten Afrikaner in Europa und in Arabien bisher meist als Sklaven gegolten, wurde dieses Vorurteil nun revidiert: Es gibt in Afrika einen mächtigen König. Einen Herrscher über ein Land voller Reichtum und Prosperität. Und das zur selben Zeit, als in Europa die Pest, Hungersnöte und Kriege wüteten.

Eine Flotte aus Mali suchte die Ränder des Ozeans

In seinem Buch „A Fistful of Shells“ zeichnet der britische Historiker Toby Green ein Bild von der Blütezeit des Malinke-Imperiums. Lange bevor die Europäer Handelsstationen errichteten, um die Eingeborenen zu „zivilisieren“, gab es hier ein kulturell und politisch ausgefeiltes Staatswesen, das global vernetzt war.

Spekulationen ranken sich sogar um die Entdeckung Südamerikas durch die Malinke – und zwar lange vor der Landung des Christoph Kolumbus 1492.

Mansa Musas Bruder und Vorgänger Abubakari Keita II., so berichtet der ägyptische Historiker al-Umari, sei 1311 mit angeblich 2000 Schiffen von der Mündung des Senegal-Flusses aufgebrochen, um an den Rand des Atlantiks zu segeln. Die Flotte wurde nie wieder gesehen.

Kankan Musa, besser als Mansa Musa bekannt, bestieg in der Folge den verwaisten Thron. Unter seiner Herrschaft sollte das Reich nach Osten hin expandieren und Teile des heutigen Burkina Faso und Niger sowie die Handelsstädte Gao und Timbuktu erobern.

Die Gefolgschaft trug persische Seide und Brokat

Seinen Ruf aber verdankt der König einer Pilgerfahrt. Der Hadsch gilt als eine der fünf Säulen des Islam. Mansa Musa, ein gläubiger Muslim, übergab 1324 seinem Sohn die Regierungsgeschäfte in der Hauptstadt Niani und brach zu einer zweijährigen Expedition nach Mekka auf.

Um die Motive dieser Reise ranken sich Spekulationen: War es ein raffinierter machtpolitischer Schachzug, um Kairo, das damalige Weltzentrum des Goldhandels, in seine Abhängigkeit zu bringen? Immerhin hatte Mali damals bereits Handelsbeziehungen bis nach Marokko und Ägypten, lieferte das malische Gold die Grundlage der Finanzwirtschaft vieler Reiche.

Eine andere Theorie besagt, dass König Musa seinen Hadsch als persönliche Buße betrachtete. Hinweise darauf gibt die „Tarik al-Fattash“, eine Chronik, die ein westafrikanischer Gelehrter im 16. Jahrhundert verfasste. Ihr zufolge soll Mansa Musa durch ein Missgeschick seine eigene Mutter getötet haben.

Er befragte daraufhin die Weisen seines Reiches, wie er diese Untat wieder gutmachen könne und bekam folgenden Ratschlag: Suche Zuflucht beim Propheten. Noch am selben Tag soll er die Vorbereitungen für die Pilgerfahrt nach Mekka begonnen haben.

Wie auch immer: Der König reiste nicht allein. Eine Entourage von Tausenden Angehörigen, Soldaten, Dienern, Boten und Griots genannten Hofmusikern begleitete ihn, dazu Sklaven und Kurtisanen. Auch seine politischen Rivalen verpflichtete Mansa Musa zum Mitkommen – so konnten sie ihm in seiner Abwesenheit nicht in den Rücken fallen.

Die Karawane erstreckte sich so lang, schrieb ein Chronist, dass sie einen ganzen Tag zum Passieren eines Ortes gebraucht habe. Sie führte Herden von Schafen und Ziegen mit sich, Maulesel, Pferde und Kamele – die Historiker berichten von einer Reisekasse, die viele Kisten voller Gold umfasste.

Bereits Jahre zuvor hatte der malische König befohlen, die Goldförderung zu intensivieren. Dort, wo heute amerikanische, russische und südafrikanische Firmen die drittgrößten Goldvorräte Afrikas schürfen, gruben sich damals die Menschen in Handarbeit durch die roterdigen Hügel im Süden Malis.

Was ihnen beim Ausschaufeln, Sieben und Waschen der Goldkörner zugutekam: Hier liegen die Adern des Edelmetalls relativ nahe an der Oberfläche. So hatten sie fast unbegrenzten Zugang zu diesem Bodenschatz. Nach Angaben des British Museum gehörte dem malischen König beinahe die Hälfte der Goldvorräte der alten Welt.

Mansa Musa war nicht der erste malische König, der nach Mekka pilgerte. Aber er sollte – das hatte es noch nie gegeben – seine Expedition quer durch die Sahara nach Mekka zu einem Schaulauf seines Reichtums machen: Jeden Freitag soll er eine Moschee entlang seiner Reiseroute errichtet haben.

Armen Bewohnern gab er reichlich Almosen aus. Der Anblick seiner Pilgerkarawane jedenfalls muss atemberaubend gewesen sein. Musas Gefolgschaft war in feinste persische Seide und Goldbrokat gekleidet.

Der ägyptische Historiker Ibn Fadl al-Umari, der 1342, also zwanzig Jahre nach Mansa Musa in Kairo ankam, notierte, dass die Einwohner immer noch von nichts anderem als dem Einzug des malischen Königs sprachen: Seine Schönheit, seine Frömmigkeit wie auch seine Gelehrtheit suchten ihresgleichen.

Untergebene durften ihm nicht in die Augen sehen

Selbst diplomatische Krisen ließen sich mit dem Edelmetall lösen. Als Kairos Sultan al-Malik al-Nasir den malischen König zu sich lud, hatte dieser ein Treffen zunächst ausgeschlagen.

Er wollte dem Herrscher des ägyptischen Mamelucken-Reiches nicht wie im Protokoll vorgesehen die Füße küssen – ein Unterwerfungsakt, der dem Selbstverständnis Mansa Musas zuwiderlief. Daheim in Mali durften ihm seine Untergebenen nicht einmal in die Augen sehen.

Als Musa dann doch zur Audienz erschien, erklärte er, sein Kniefall gelte nicht dem Sultan, sondern allein Allah. Ein raffinierter Schachzug, der ihn das Gesicht wahren ließ und zugleich als strenggläubigen Muslim auswies. Anschließend waren sich die beiden Männer schnell handelseinig.

Der Sultan überließ dem malischen König und seinem Gefolge für die Monate bis zur nächsten Pilgersaison einen seiner Paläste – während dieser sich mit Goldbarren im Gewicht von 180 Kilo revanchierte.

Bald schon merkten die Kairoer Bürger, dass sie für ihre Waren von den Maliern das bis zu Fünffache des normalen Preises verlangen konnten. Gold war in Ägypten rar – und die Händlerschaft ob der Kauffreudigkeit der Gäste in Feierstimmung.

Laut einem Bericht von Ibn al-Dawadari „kauften die Getreuen (Mansa Musas) alle Arten von Waren (…) Sie glaubten, ihr Geld sei unerschöpflich.“ Womit sie aber nicht gerechnet hatten: Die Unmengen des Edelmetalls, die Kairos Märkte überschwemmten, verursachten eine Inflation. Musa selbst bekam auf seiner Rückreise aus Mekka die Folgen zu spüren.

Seine Vorräte waren aufgebraucht, räuberische Beduinen hatten seinen Tross, der sich immer wieder in den Bergen der arabischen Halbinsel verlief, überfallen. Als er nun wieder in Kairo ankam, musste er für die Heimreise nach Mali bei örtlichen Kaufleuten Kredit nehmen.

Die ägyptische Wirtschaft litt noch lange unter der Krise: Ganze zwölf Jahre brauchten die Goldpreise, um sich von der Inflation zu erholen. Mansa Musa aber hatte die Handelsbeziehungen seines Reiches gestärkt: Denn nun mussten die Kairoer Kaufleute nach Mali kommen, um sich ihre Schulden samt Zinsen zurückzuholen.

Mansa Musas Hadsch sollte seinem Reich kulturell einen gewaltigen Schub bringen: Während seiner Abwesenheit erreichte ihn die Nachricht, dass seine Generäle die wichtigen Handelsstädte Timbuktu und Gao eingenommen hatten.

Für Mansa Musa ein Zeichen Gottes. Er war fest entschlossen, diese Orte zu Zentren der Gelehrsamkeit zu machen.

Nun ließ der König in Gao und Timbuktu nicht nur einige der imposantesten Lehmbau-Moscheen Westafrikas errichten, sondern auch Bibliotheken und Schulen. Zu diesem Zweck hatte er in Kairo, Mekka und Medina einige Hundert Architekten, Wissenschaftler und Islam-Gelehrte angeheuert, darunter angeblich direkte Nachfahren des Propheten Mohammed.

Ein Islam mit Schulen und weltlicher Bildung

Was Mansa Musa wohl von den radikalen Islamisten gehalten hätte, die 2012 Timbuktu und den Norden Malis besetzten, drakonische Scharia-Gesetze einführten und im Namen des Dschihad einige der uralten Manuskripte verbrannten?

Der berühmte malische König jedenfalls stand für einen weltoffenen Islam. In seinem Reich spielten Schulen und weltliche Bildung eine wichtige Rolle. Auch die Regierungsform der Malinke-Könige war weniger diktatorisch, als es die höfischen Unterwerfungszeremonien vermuten lassen.

Der König musste vielmehr vor jeder Entscheidung den Rat der Weisen, der die militärischen, zivilen und religiösen Führer einschloss, konsultieren. Sie stellten dem Herrscher einen Minister zur Regierungsführung zur Seite.

Das malische Imperium allerdings sollte wenige Jahrzehnte nach der Rückkehr des Königs aus Mekka zerbröckeln. Als Mansa Musa 1337 starb, trat sein Sohn die Thronnachfolge an. Bald darauf fielen immer mehr der kleinen Staaten des Riesenreiches ab.

Die Ankunft der Europäer an den Küsten Westafrikas beschleunigte dessen Machtverfall. Hätte Mansa Musa ahnen können, dass gerade seine Großzügigkeit und sein Goldruhm die europäischen Kolonisatoren anlocken und letztlich zum Untergang so vieler afrikanischer Reiche führen sollten?

Die Kolonisatoren manipulierten und überfluteten bestehende Märkte mit ihren Waren. Der Wert einstiger Zahlungsmittel wie Goldstaub oder Kaurimuscheln zerfiel. An ihre Stelle traten Importgüter wie Eisenbarren und Stoffballen. Je mehr die westafrikanischen Länder mit den Europäern handelten, umso ärmer wurden sie.

Denkt man die Geschichte zu Ende, liegt hier auch eine der Wurzeln des heutigen Dschihadismus. Das behauptet jedenfalls der britische Historiker Toby Green: Die politische Auslegung des Islam, schreibt er in „A Fistful Of Shells“, rekrutiere seit dem 19. Jahrhundert die Abgehängten „im Kampf gegen die Ungleichheit und die aufstrebende Macht des (westlich geprägten) Kapitalismus“.

Höchste Zeit also, um an Mansa Musa nicht nur als den Goldkönig zu erinnern. Sondern auch als denjenigen, der damals ein gänzlich neues und selbstbewusstes Bild von Afrika – jenseits aller Klischees von Armut und Geschichtslosigkeit – in die Welt trug.

Timbuktu und sein mythischer Ruf

Bis ins 19. Jahrhundert hinein strahlte der mythische Ruf Timbuktus – der Stadt, die Mansa Musas Erbe wie keine zweite verkörperte. Berühmt war sie für ihre Bibliotheken und die Sankoré-Universität, an der zeitweise bis zu 25 000 Schüler unterrichtet wurden.

Neben Koranauslegungen standen Medizin, Astrologie, Erdkunde und Rechtswissenschaften auf dem Lehrplan. Immer wieder machten sich später Abenteurer auf den Weg, die Stadt der Gelehrten mit ihren „Dächern aus Gold“ zu erreichen.

Der Schotte Alexander Laing sollte 1826 als erster Europäer die sagenumwobene Oase erreichen. Seine Aufzeichnungen jedoch gingen nach einem tödlichen Überfall im Norden Timbuktus verloren. Erst der Hamburger Heinrich Barth erkannte 1853, dass die auf die Zeit Mansa Musas zurückgehenden Universitäten einen Reichtum wissenschaftlicher und geistiger Schätze hinterlassen hatten.

JONATHAN FISCHER

SZ 22.12.2ß2ß

AFRIKA ALS TREIBER DER POP-AVANTGARDE – Ein eigenes Fach namens „Kuduro“ im Techno-Plattenladen. Südafrikanische und nigerianische Gastkünstler auf westlichen Rhythm‘n Blues-Produktionen. Afrobeats-Parties in Zürich und Berlin. Zum ersten mal erreicht das Clubleben aus Subsahara-Afrika die Großstädte des Nordens. Zum ersten mal gelten Beats aus Luanda, Johannesburg oder Lagos als Erneuerung eines schon zu lange in der eigenen Suppe kochenden Genres.

„Noch vor sieben Jahren“, sagt der Kulturjournalist Florian Sievers, zusammen mit Johannes Hossfeld vom Goethe-Institut und der kenianischen Autorin Joyce Nyairo einer der Kuratoren des Projektes „Ten Cities“ , „war in den meisten afrikanischen Großstädten wenig elektronische Musik zu hören. Und wenn, dann kannten wir ihre Geschichte nicht. Eine Hierarchie der Narrative entlang der Achse Detroit-Chicago-New York hat diese Orte lange ausgeblendet“. Um das zu ändern, die Mainstream-Geschichte zu kontern, hat sich „Ten Cities“ mit den Szenen an der vermeintlichen Peripherie beschäftigt. Ausgewählt wurden zehn Städte Europas und Afrikas: Neapel, Kiew, Lissabon, Luanda, Nairobi, Johannesburg, Lagos, Kairo, Bristol, Berlin. Bis auf die beiden letzteren galten sie als weiße Flecken der Clubgeschichte.Weil niemand nach einer durchfeierten Nacht sich die Mühe machte, das Geschehene festzuhalten und zu deuten. Aber auch weil die Medien dafür fehlten.

Das ändert sich nun schlagartig: Aus zwei Jahren des Austauschs, der gegenseitigen DJ- und Produzentenbesuche ist bereits 2014 die CD-Compilation „Ten Cities“ (Soundway) entstanden. Nun folgt ein gleichnamiger Bibel-dicker englisch-sprachiger Reader: 560 Seiten im Großformat, Playlists, Fotos von Innenstädten, Clubs, Künstlern, Plakaten und Platten. Den Kern des „Ten Cities“-Buches aber bilden zwei Sets von jeweils zehn Essays: Der erste Teil versucht die Geschichte des Clublebens und der dazugehörigen Subkulturen in der jeweiligen Stadt zwischen 1960 und 2020 nachzuerzählen. „Lange,“ erklärt Joyce Nyairo, „hat der Westen Afrika romantisiert und zeitgemäße afrikanische Musik und Mode ignoriert.“ Diese falsche Vorstellung von „Authentizität“ werde gerade korrigiert. Umgekehrt würden etwa die Clubs in Nairobi, anstatt der früheren Überhöhung alles Westlichen nun „aggressiv lokale Stoffe, Moden, Sprachen und Kunst umarmen“. Der zweite Teil des Readers dreht sich um den Club als politischen Ort. „Clubkulturen lassen sich, schreibt Hossfeld, als „Prismen und Laboratorien der Gesellschaft“ lesen. Auch wenn man sich nicht durch hunderte Fußnoten von Achille Mbembe bis Paul Gilroy arbeiten mag – es hat etwas intellektuell äußerst Reizvolles, hier etwa Habermas „öffentliche Sphäre“ ins Spiel zu bringen, und die Brücke vom Ekstatischen zum politischen Aktivismus zu schlagen.

Wenn der US-amerikanische Superstar Drake oder deutsche HipHop-Produzenten wie Kitschkrieg ganz selbstverständlich mit Afrobeats hantieren, ugandische DJs im Techno-Tempel Berghain auflegen und ein Berliner Produzent wie Daniel Haaksmann Kuduro-Rhythmen adaptiert, dann kann man das durchaus als Zirkelschluss deuten: Bezogen denn House und HipHop, Tanzrituale und Raves ihre Energie nicht schon immer aus einem kollektiven schwarzen Erbe? „Viele der elementaren Komponenten zeitgenössischer Clubkultur“, heißt es in „Ten Cities“, „wurden zuerst in Afrika praktiziert“. Wenn nun zehn Städte ihre Narrative miteinander kommunizieren, sich hier eine Szene der anderen auf Augenhöhe erklärt, dann kommt das einem emanzipatorischen Anliegen nahe: Besonders spannend wird es immer dann, wenn musikalischer Fortschritt aus produktiven Missverständnissen resultiert.„Man muss einen stabilen ökonomischen Rahmen haben, damit man abgefuckt in einem Kellerlokal, wo das Wasser von der Decke tropft, ausgehen will.“ hat Florian Sievers vor seinem eigenen Berliner Background beobachtet. „Wer aber schon aus schwierigen Verhältnissen kommt, will es verständlicherweise eher schick und schön haben: mit rotem Teppich und Klimaanlage“. Auf der anderen Seite zeitigt gerade der materielle Mangel – oft unfreiwillig – revolutionäre Ansätze. So kommen die rauhen Ecken und Kanten mancher afrikanischer Elektro-Produktionen zustande, die gerade ihrer Sperrigkeit wegen im Westen gefeiert werden. Etwa beim angolanischen Kuduro oder dem aus Durban, Südafrika, stammenden Gqom: Das klang so angenehm anders, unsauberer, rhythmisch diverser als der in den 2010er Jahren vorherrschende Minimal-Techno, dass die Hipstergemeinde anfing, sich ernsthaft mit den Club-Sounds des schwarzen Kontinents zu beschäftigen. „Inzwischen“, konstatiert Sievers, „ist aus solchen zunächst vereinzelten Hipster-Phänomenen ein organischer Austausch geworden, das sind einfach gute Beats, die kannst du in jedem Club auflegen“.

Ist das Clubleben Afrikas endlich im westlichen Mainstream angekommen? Fest steht jedenfalls: Elektronische afrikanische Sounds haben das bemüht-wohlwollende „Weltmusik“-Etikett längst nicht mehr nötig.Wer sich durch „Ten Cities“ blättert, wird vergeblich nach einem Afrika der Zebras und Masken suchen. Ganz im Gegenteil: Schon die Fotos aus den 60er Jahren zeigen eine afrikanische Hipster-Szene, wo Männer in Mod-Anzügen und eigenwilligen Hüten auf junge Frauen mit ebenso extravaganten Kleiderschnitten treffen. Das mag eine kleine urbane Minderheit darstellen. Und doch wird klar: Was Mode und Originalität betrifft brauchen diese Menschen keine Entwicklungshilfe. Im Gegenteil: Der Westen hat ästhetisch immer von Afrika gelernt. Und tut es auch heute wieder.

Darüber hinaus zeigt „Ten Cities“, die gesellschaftliche Signifikanz von Genres, Szenen und Club-Lokalitäten. „Clubbing war immer ein Ort, um dem Konservatismus der Religion zu entkommen“, sagt Joyce Nyairo. Vor allem im Umgang mit Schwulen, Lesben und Transgender-People seien Clubs wie das „Strictly Silk“ in Nairobi Inseln der Toleranz „Sich mit Bekannten und Unbekannten zu umgeben, um mit Musik, Tanz und berauschenden Getränken zu feiern, war schon immer eine Akt der Befreiung“. Es ist die bekannte Dynamik der Nacht: Der Club erlaubt einem, sich selbst zu inszenieren, stereotype Muster zu überschreiten, auch mal eine andere Rolle auszuprobieren – Freiräume, die wiederum auf Musikstile, Mode und Markt abstrahlen. Im besten Falle sind Clubs auf diese Weise nicht nur Treiber der Pop-Avantgarde. Sondern auch Laboratorien mitmenschlicher Toleranz.

Einen Medienvorteil haben die afrikanischen Großstädte auf jeden Fall: Ohne die Gefahr, dass sich jemand wegen Ruhestörung echauffiert, werden die neuesten Beats oft durch Minibusse und ihre Soundsystems in den Straßen-Alltag hínausgetragen. Etwa auf 230 bpm hochgepitchte Beats des „Singeli“ in Daressalaam, oder die fiebernden Trommelsalven des „Balani Show“ in Bamako. Sounds, die vielleicht morgen auch in europäischen Clubs ankommen.

JONATHAN FISCHER

NZZ 19.12.2020

DJ Invizable

„Es fehlt eine Normalisierung“

Der britische Autor Johny Pitts über sein Buch „Afropäisch“ , den übersehenen schwarzen Einfluss auf die europäische Kultur und das Gefühl, auf einer Berliner Antifa-Demo mitzulaufen

Johny Pitts wuchs in Sheffield als Sohn eines afroamerikanischen Soulsängers und einer weißen englischen Mutter auf. Er arbeitet für MTV, den Discovery Channel und die BBC als Autor, Fotograf, Journalist und Moderator. Mit seinen Büchern und Aufsätzen zum Thema Multikulturalität hat Pitts mehrere Literaturpreise gewonnen, seine Fotografien wurden unter anderem im Lens Blog der New York Timesgezeigt. 2010 war er einer der Gründer des Online-Magazins Afropean – Adventures in Black Europe, das er als Teil des Afrika-Netzwerkes des britischen Guardiankuratiert. In seinem neuen Buch „Afropäisch“ schreibt er über seine Reisen durch die europäischen Metropolen auf der Suche nach ihrer schwarzen Vergangenheit und ihrer gelebten afropäischen Kultur.

SZ: Mr. Pitts, Sie haben mit Ihrem Blog und Reisebuch das Wort afropäisch popularisiert. Gilt es denn immer noch als Gegensatz, schwarz und Europäerin oder Europäer zu sein?

Johny Pitts: Ich und viele andere bezeichnen uns als „Afropäer“, um aus unserer Vereinzelung herauszukommen, uns als Teil einer größeren europäischen Geschichte zu begreifen, anstatt auf der Suche nach Antworten immer nach Afroamerika zu schielen.

So wie in Ihrer Jugend, als Sie sich als Rapper an amerikanischen Hip-Hop-Vorbildern orientierten?

Ich hatte damals noch keine Ahnung, wie sehr europäische Kultur historisch durch Schwarze beeinflusst wurde. Das fängt bei so namhaften Schriftstellern an wie Alexandre Dumas, der eine schwarze Mutter hatte, oder Alexander Puschkin, der einen schwarzen Urgroßvater hatte, und reicht von der Malerei über den Tanz bis zum Jazz. Umgekehrt hat Europa durch seine Kolonialgeschichte schwarze Identitäten geformt. Afropäisch bedeutet auch eine neue Art, Europa zu sehen.

Überall begegnen uns inzwischen schwarze Gesichter: im Fernsehen, in der Mode und der Werbung. Trotzdem behaupten Sie, dass das Bild von schwarzen Menschen in Europa negativ geprägt sei. Wie meinen Sie das?

Es fehlt eine Normalisierung. Wie Mos Def es mal in einem Hip-Hop-Text ausdrückte: „Either bitches or queens“. Potenzieller Krimineller oder Hipster-Ikone. Auf der einen Seite gibt es also die Sportstars, die reichen und berühmten Musikerinnen und Musiker wie Kanye West, und auf der anderen die Geschichten von Ghettos und illegaler Migration. Mir haben da immer die Grautöne gefehlt. Deshalb habe ich in mein Buch auch keine Party- oder Ghetto-Bilder aufgenommen. Ich zeige den Alltag schwarzer Menschen, die zur Arbeit pendeln oder ihre Kinder zur Schule bringen.

Stimmt es, dass Ihre Ursprungsidee eigentlich war, einen prächtigen Fotoband mit Bildern erfolgreicher junger Schwarzer in Europa zu machen?

Ja, ich war eine Art Mode-Opfer: So wie in der Werbung und in Hipster-Magazinen wollte ich ein superstilisiertes und irgendwie einheitliches Bild davon schaffen, was es bedeutet, schwarz und europäisch zu sein. Der Begriff „afropäisch“ stammt ja ursprünglich aus der Musik- und Modeszene. Marie Daulne von Zap Mamahat ihn zusammen mit ihrem Produzenten David Byrne geprägt. Ich habe ihn auf den schwarzen Alltag ausgeweitet.

Was hat Sie zum Umdenken gebracht?

Ich komme selbst aus einem Arbeiterviertel in Sheffield. Auf meinen Reisen durch Europa traf ich Wachleute mit nigerianischem Hintergrund, Putzmänner mit senegalesischem Hintergrund, Türsteher mit ghanaischem Erbe – auch diese Leute sind Afropäer.

Sie sprechen mit James Baldwin vom „Gewicht der Repräsentation“. Belastet Sie das Gefühl, eine bestimmte schwarze Erfahrung repräsentieren zu müssen?

Ich habe immer mehrere Identitäten ausgefüllt, eine davon war etwa, durch mein Verhalten all die Vorurteile der Rechten zu entkräften. Aber jetzt bin ich von meiner persönlichen Geschichte zu Universalerem gelangt, ich möchte etwas zum Wissensstand meiner Gemeinschaft und zum Wissen Europas beitragen. Ich konnte bisher kein Buch zur schwarzen europäischen Geschichte finden – deshalb musste ich selbst diese Lücke füllen.

Sie sind als schwarzer Jugendlicher in einer englischen Arbeiterstadt aufgewachsen, die der Niedergang der Schwerindustrie Ende des 20. Jahrhunderts schwer traf. Wann wurde Ihre Hautfarbe zum Thema für Sie?

In meinem Viertel, Firth Park, mischten sich jemenitische, somalische und jamaikanische Kids mit den Jugendlichen aus der weißen englischen Arbeiterklasse. Das war kein Nebeneinander, sondern ein Miteinander. Ich habe ähnliche Energien wie in Firth Park im Berliner Wedding, in Rinkeby in Stockholm, oder Bijlmer in Amsterdam gespürt – und mir vorgestellt, dass diese Viertel miteinander sprechen und ihr multikulturelles Wissen austauschen könnten, dass sie eine Art Solidarität miteinander pflegen könnten. Dass der multikulturelle Zusammenhalt, den ich erlebte, nach der Schulzeit auseinanderfiel, hat auch mit dem Kapitalismus zu tun, der uns bestimmte Identitäten zuschrieb, und etwa Blackness zu einer Art Ware machte.

In Sheffield waren Sie zusammen mit ihrem weißen Rap-Partner Teil der lokalen Hip-Hop-Community, kamen mit jamaikanischen Reggae-Soundsystems und Northern-Soul-Partys in Berührung. Das klingt nach einer vielseitigen schwarzen Kulturszene. Trotzdem sagen Sie, hätten Sie sich lange nicht einordnen können. Warum nicht?

Mein afroamerikanischer Vater und meine weiße englische Mutter wuchsen beide inmitten der örtlichen jamaikanischen Community auf. Ich könnte mich also mit berühmten afrobritischen Akademikern wie etwa den Soziologen und Anthropologen Paul Gilroy, Stuart Hall oder Bernardine Evaristo, die 2019 den Booker-Preis gewonnen hat, identifizieren. Aber anders als sie komme ich nicht aus der Karibik, ich spreche auch kein Patois. Bei der letzten Volkszählung haben sich erstmals mehr schwarze Briten als afrikanisch denn als karibisch identifiziert. Es ist also an der Zeit, den Begriff schwarz und britisch zu erweitern, sodass auch Menschen wie ich sich dazugehörig fühlen.

Schwarze Kultur hat über Mode und Musik längst Eingang in den europäischen Alltag gefunden, ist sogar oft Ausweis einer gewissen Modernität. Haben Sie das Gefühl, dass sich das auch auf das politische Bewusstsein Ihrer weißen Mitmenschen auswirkt?

Mein Vater kam während der Blütezeit der Northern-Soul-Szene in den Sechzigern und Siebzigern als Sänger einer New Yorker Soul-Band namens The Fantasticsund blieb. Vor fünf Jahren hat er mich zu einem dieser immer noch florierenden Soul-Festivals mitgenommen. In der Halle waren mehr als 2000 Menschen. Aber ich sah gerade mal eine Handvoll schwarze Gesichter, und die meisten davon waren auf der Bühne. Absurder noch: So wie ich die Besucher dort einschätze, waren das zum Großteil dieselben Arbeiterklasse-Typen, die früher zuverlässig Labour wählten, aber spätestens seit Tony Blair desillusioniert nach rechts geschwenkt sind und den Brexit unterstützen. Einerseits ist es ja wunderbar, dass sie, wie meine weiße Mom, Soul so lieben. Aber dass sie zu schwarzer Musik tanzen, heißt eben leider noch nicht, dass sie keine Rassisten sein können. Schwarze Kultur auf Platte zu lieben ist leicht. Mir wäre es lieber, sie wären im Alltag mit schwarzen Menschen solidarisch.

Sie haben auf Ihren Reisen beobachtet, dass schwarze Immigranten, die gerade aus Afrika nach Europa gekommen sind, sich oft neue Identitäten suchen. Warum sollte man als Schwarzer seine Herkunft verschleiern?

Die Erkenntnis kam mir bei den Armbandverkäufern am Eiffelturm und den Reggae-Partys von Ghanaern in Berlin: Afrikanische Einwanderer ahmen um des Überlebens willen erst mal in Europa sozial für akzeptabel erklärte Vorbilder nach. Bob Marley etwa oder Tupac. Popkultur-Idole, die für die Überwindung von Kolonialismus und Sklaverei stehen. Das hat auch mit zwei Klassen schwarzer Emigranten zu tun: Afroamerikanische Intellektuelle wie James Baldwin und Musiker wie Nina Simone, die in den Sechzigern nach Frankreich emigrierten, wurden als exotisch und glamourös begrüßt. Genauso erging es meinem Vater in der Northern-Soul-Szene. Heute helfen Reggae und die Rastafari-Philosophie geflüchteten Afrikanern oft, eine globalere schwarze Identität zu finden.

Sind Sie mit dem Begriff Afropäer bei Schwarzen in Europa auch auf Widerstände gestoßen?

Mir fiel auf, dass viele der Einwanderer selbst in der zweiten Generation noch kaum ein Bewusstsein für das Gemeinsame entwickelt haben: In Stockholm traf ich Tunesier, die Somalier verachten. Und in Lissabon Angolaner, die ihre Nachbarn von den Kapverden gering schätzten. Dabei haben all diese Gruppen ganz ähnliche Erfahrungen gemacht. Letztlich hat der Begriff etwas afrofuturistisches: Es geht darum, dass alle, auch weiße Menschen begreifen, wie viel ihr Kontinent afrikanischen Einflüssen und Importen verdankt.

Sie haben auch einige Tage in Clichy-sous-Bous, einer der verarmten Banlieue-Siedlungen von Paris, verbracht. Können Sie die Desillusionierung und Wut der schwarzen Jugendlichen dort verstehen?

Natürlich kann niemand die Gewalt, die dazu führt, dass etwa ein Lehrer enthauptet wird, entschuldigen. Aber diese Jugendlichen haben oft nichts mehr zu verlieren: Sarkozy hat sie mal pauschal Verbrecher genannt. Tatsache ist, dass es nicht die vermeintlich fremde, sondern die französische Kultur ist, die diese Terroristen produziert.

Konservative halten diesen Vorwurf für völlig übertrieben. Was antworten sie denen?

Dass die Ressentiments ganz offensichtlich aus der Vernachlässigung entstehen. Clichy-sous-Bois ist zwar nominell eine Vorstadt von Paris, aber sie kam mir wie eine Kriegszone vor – infrastrukturell vollkommen abgehängt und trister als jede Sozialsiedlung, die ich aus England kenne. Es ist ein Beispiel dafür, was passiert, wenn die Reichen im Zentrum einer Stadt ihre Augen verschließen, weil diese Peripherien, die Ankunftshäfen für Zuwanderer, in ihrer Wahrnehmung nicht zu Europa gehören.

Sie erinnern in diesem Zusammenhang an Revolutionäre wie Frantz Fanon. Der aus Martinique stammende Theoretiker des Postkolonialismus und Anti-Rassismus hatte sich anfangs für Frankreich und seine Kultur begeistert.

Er radikalisierte sich erst, nachdem er im Zweiten Weltkrieg als Freiwilliger der französischen Armee gedient hatte. Zwar machten die Schwarzen aus den Überseegebieten zwei Drittel der Truppen aus, von der Siegesparade in Paris aber wurden sie ausgeschlossen und stattdessen in ihre Heimatgegenden deportiert.

Gehen die Probleme, die Europa heute mit schwarzen Menschen hat, tatsächlich auf die koloniale Vergangenheit zurück?

Europa holte sich immer wieder billige schwarze Arbeitskräfte, wollte sie aber weder integrieren noch fair entlohnen. Und das, nachdem die Kolonialmächte durch Ausbeutung der Afrikaner schon riesige Gewinne eingefahren hatten. Wer weiß schon, wie viel die Sixtinische Kapelle der Sklaverei verdankt, welche afrikanischen Bodenschätze die Prachtalleen in Paris finanziert haben? Wenn man etwa durch Amsterdam läuft, dann sieht man noch Abbildungen schwarzer Menschen, die Zuckerrohr ernten – ein Hinweis darauf, woher der Reichtum dieser Stadt stammt. Oder haben Sie schon mal über den Zusammenhang von kongolesischen Kakaoplantagen und der berühmten belgischen Schokolade nachgedacht?

In Moskau erlebten Sie unverhohlene Ablehnung und eine Atmosphäre latenter Gewalt gegenüber Schwarzen. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von „postkolonialer Melancholie“. Was genau meinen Sie damit?

Ich glaube, dass die aktuelle Fremdenfeindlichkeit in Ländern wie Russland mit der unbewussten Kränkung durch den Zerfall des Sowjetreiches und das Schwinden seines internationalen Einflusses zu tun hat. Moskau war einst eine Stadt, in der afroamerikanische Denker wie Langston Hughes eine Gastfreundschaft erlebten, die sie von weißen Amerikanern nicht kannten. Heute lehnen die Russen schwarze Menschen auch deshalb ab, weil sie sich nicht an ihre Geschichte erinnern wollen. Aus ähnlicher Wehmut speist sich auch die Abwehr vieler Briten gegen die Bewohner ihrer ehemaligen Kolonien.

Sie sind in Berlin eher zufällig in eine Antifa-Demonstration geraten. Wie haben Sie sich da als schwarzer Mitläufer gefühlt?

Sie sahen bedrohlich aus, und ich hielt sie anfangs für Nazis. Dann sagte mir jemand, dass sie gegen Rassismus kämpfen. Also habe ich mich angeschlossen, mit ambivalenten Gefühlen: Viele waren betrunken, schlugen Sachen kaputt und tobten wie auf einem Karnevalsumzug. Andererseits protestierten sie aber doch gegen Rassismus. Sie konnten sich das in dieser Form nur erlauben, weil sie weiß sind. Für mich aber kann unser Kampf kein Karneval sein. Wir repräsentieren, ob wir wollen oder nicht, unsere Community. Mich wunderte dann auch nicht, dass ich unter 4000 Teilnehmern bestenfalls eine Handvoll Schwarze sah. Trotzdem sind mir diese Menschen natürlich lieber als die Rechten.

Ist der Afropäer als Erzähler hybrider Geschichten eigentlich der natürliche Gegenspieler aller Dogmatiker und Nationalisten?

Audre Lorde sagte einmal, wir könnten des Haus des Herrn nicht mit den Methoden des Herrn zu Fall bringen. Deshalb passt ethnischer Absolutismus nicht zum afropäischen Gedanken. Ich habe in meiner Jugend in Sheffield und später in Marseille erlebt, welche Schönheit komplizierte kulturelle Allianzen entwickeln können.

Marseille erscheint Ihnen als Musterbeispiel eines geglückten Miteinanders. Was hat diese südfranzösische Hafenstadt all den anderen von ihnen besuchten Metropolen voraus?

In Marseille habe ich weniger Hipster getroffen als irgendwo anders in Europa. Und gleichzeitig strahlte diese Stadt eine unwahrscheinliche multikulturelle Energie aus. Auch wenn die Reichen im Süden wohnen und die Ärmeren im Norden, ist die schwarze Arbeiterklasse nicht aus dem Leben der Stadtmitte ausgeschlossen wie in Paris. Marseille ist zwar französisch, aber es repräsentiert auch Nordafrika und alle anderen Hafenstädte entlang des schwarzen Atlantik. Ich spüre dort ein Wissen, eine verflüssigte Kultur jenseits aller Nationalismen.

Das Gegenteil der nationalistischen Atmosphäre, die Sie in Ihrer Heimat kritisieren.

Ja, und ich habe die Konsequenzen gezogen. Vor einem Jahr bin ich mit meiner Frau und unserer Tochter aus Brexit-Großbritannien nach Marseille gezogen, unsere Nachbarn dort sind Araber, Afrikaner und Franzosen. Hier fühle ich mich als Afropäer zu Hause.

JONATHAN FISCHER

SZ 17.12.2020

Eine Reise zu den Helden der eigenen Plattensammlung

Im Jahr 2019 nahm das Berliner Omniversal Earkestra in Mali mit Legenden wie Salif Keïta deren alte Songs neu auf. Nun kann man sie hören.

Der Bahnhof von Bamako gleicht einem Geisterschloss. Hier fahren schon seit Jahren keine Züge mehr ab nach Dakar, die Uhr an dem imposanten Kolonialbau steht still, nur noch Tauben und Obdachlose nutzen den Wartesaal. Auch das angeschlossene „Buffet de la Gare“-Restaurant dämmert im ewigen Mittagsschlaf. Auf wen auch immer der alte Mann am Empfangstresen aus Mahagoni noch warten mag: Die Zeit dieses mythischen Ortes der malischen Popmusik ist lange vorbei.

Nur noch ein paar alte Schwarzweißbilder sind geblieben von den Partys im Garten des einst angesagtesten Hauptstadt-Clubs, damals in den späten Sechzigerjahren, als die Rail Band hier fünf Tage die Woche die Jugend der Stadt zum Tanzen brachte; als Musiker wie Salif Keïta in schicken Banduniformen uralte Folk-Chants, Afrobeat, Bigband-Bläser und kubanische Rhythmen zusammenkochten. Ihre Fusion atmete Soul. Sie spiegelte die Aufbruchstimmung eines ganzen Landes, das in den Jahren nach der Unabhängigkeit noch von einer großen Zukunft träumte. Malick Sidibés Fotografien haben die jungen Tänzerinnen mit den modischen Sonnenbrillen und ihre Begleiter in westlichen Mod-Anzügen verewigt.

Ein halbes Jahrhundert später kehrt die Musik ins „Buffet de la Gare“ zurück. Zumindest für einen Abend. Auf den Betonpfeilern um die Bühne im Garten blitzen bunte Lichterketten, Instrumente werden gestimmt, die Klänge von Trompeten, Posaunen und Saxophone steigen auf in den Nachthimmel.

Ungewohnte Töne sind das für das Bamako des Jahres 2019. Acht junge Blasmusiker sind aus Deutschland angereist: ein Teil des deutschen Omniversal Earkestra auf Mali-Trip. Normalerweise treffen sich die Jazz- und Klassikmusiker jeden Montag in wechselnden Berliner Underground-Clubs (zuletzt im Rauchhaus), um Sun Ra, Thelonious Monk, Fela Kuti oder Sorry Bamba zu interpretieren – alles auf Basis nicht-hierarchischer Improvisation.

Die Überlebenden der legendären Nachkolonial-Orchester

„Als Big Band mit zwölf Bläsern plus Bass und Schlagzeug“, sagt Oliver Fox, Saxophonist und musikalischer Direktor, „verdienen wir weder Geld, noch können wir groß auf Tournee gehen.“ Ein Treffen mit den afrikanischen Helden ihrer Plattensammlungen? Oder gar Aufnahmen in deren Heimat? Undenkbar. Bis im vergangenen Jahr eine Förderung der Kulturstiftung des Bundes eine Tür öffnete.

Le Mali 70 prangt nun auf dem Album, das das Münchner Trikont-Label sowohl auf CD als auch Vinyl gerade veröffentlicht hat, knapp ein Jahr nach den Aufnahmen in Mali. Genre-Kurzbeschreibung: Afrolatin-Brassband-Funk mit betörenden Mandinke-, Dogon-, oder Sonray-Melodien. Die Berliner haben dafür mit Salif Keïta, Sorry Bamba, Abdoulaye Diabaté und weiteren Legenden des malischen Pop deren Hits aus den Siebzigerjahren in neuen Arrangements eingespielt. Im kommenden Frühjahr soll dann auch ein Film über den Roadtrip quer durch das Sahel-Land in die Kinos kommen: Berlin-Bamako Allstars .

Markus Schmidt, Filmemacher und künstlerischer Leiter des Projekts, hat den Le-Mali-70 -Aufnahmen starke Bilder zur Seite gestellt: Da ziehen die Berliner auf den Fersen ihrer Helden radebrechend durch Märkte und Busbahnhöfe, landen unverhofft in staubigen Hinterhöfen und Clubs, sichten alte Filmrollen in den Archiven des malischen Rundfunks, spielen in Salif Keïtas Moffou Studios Badiala Male ein, der dessen erster Hit als 19-Jähriger mit der Rail Band war. Oder müssen sich wegen eines vermeintlich falschen Rhythmus streiten. Ja, die Malier können auch bemerkenswert stur auftreten. Klar ist nur: Diese Musik vibriert in einem kollektiven Körper. Etwa, wenn auf einer mit Gepäck und Vieh überladenen Niger-Piroge nördlich von Mopti, Musiker und Passagiere spontan in eine Jamsession einfallen.

Im „Buffet de la Gare“ sind auch zwei der Rail-Band-Veteranen dabei. Darunter Cheikh Tidiane Seck, ein fülliger Typ im weißen Kaftan, der schon für Quincy Jones und Randy Weston gespielt hat. Ganz Elder Statesman, schüttelt er den deutschen Mitmusikern feierlich die Hand, bevor er sein Keyboard im Garten des „Buffet de la Gare“ einstöpselt. Und die ältere Frau in Batikkleid und Kopftuch am Schlagzeug? Mouneissa Tandina hat viele der großen Orchester Malis von der Rail Band bis zu den Super Biton de Ségou und Salif Keïta begleitet. Jetzt trommelt sie einen dieser schwer greifbaren, doch leichtfüßig nach vorne schiebenden Beats von irgendwo zwischen Havanna und Ségou.

Die Bläser schmettern dazu einen mehrstimmigen Chant, die Melodie eines uralten Folksongs, den Kinder beim Spielen und Soldaten beim Exerzieren singen: „Gebe niemals vor, jemanden zu kennen, wenn du nicht mit ihm gearbeitet hast.“ Eine Warnung vor Schürzenjägern. Eigentlich. Oder steckt da doch eine Anspielung auf die kleinen Missverständnisse mit den deutschen Gästen drin? Der Song jedenfalls schaukelt sich hypnotisch in Richtung Drogenküche.

Und dann ist da noch Boubacar Ousman Touré, ein alter Mann mit weißem Bart und Turban. Der Sänger verzieht keine Miene. Dafür brechen die Worte in nasalen Kraftschüben aus ihm heraus, als ob ein Boxer tief aus seinem motorischen Gedächtnis Kombinationen abrufen würde. Der Gitarrist El Hadj Mahamadalne, auch er ein Veteran des Le Mystère Jazz de Tombouctou, beugt sich weit zurück, mischt spielend eine Note Jimi Hendrix in seine pentatonischen Riffs. Heißt es nicht, der Blues sei einst mit den Sklavenschiffen aus Mali gekommen? Jetzt klingt es wie eine Ahnenanrufung über den schwarzen Atlantik hinweg.

Das Omniversal Earkestra hatte bereits jahrelang Afrobeat gespielt, als die Deutschen über den Trompeter Tidiane Koné die malische Connection in Felas Band entdeckte. „Wir folgten seiner Spur“, sagt Oliver Fox, „und landeten so zwangsläufig bei den experimentellen Orchestern aus Mali.“ Bei Sorry Bamba, den Super Biton de Ségou, Mystère Jazz de Tomboctou, dem Orchestre Kanaga de Mopti oder eben der Rail Band. Markus Schmidt hatte sich bei einem früheren Dreh in Bamako Hunderte von Vinyl-Originalplatten in einem Laden, der auf das Kopieren alter Musik spezialisiert ist, auf einen USB-Stick ziehen lassen – und die Mitglieder des Omniveral Earkestra damit im Handumdrehen infiziert. Schon die Herkunftsorte der Orchester weckten mythische Assoziationen: an blühende Märkte am Rande der Sahara, Hauptstädte alter Königsreiche, Heimat von Griot-Familien, deren Ahnenlinien Dutzende von Generationen zurückreichen. Würde man hier noch die Überlebenden der legendären Nachkolonial-Orchester finden?

Traditionspflege aber war nie das Ziel der Berliner: „Wir wären ja als Brassband gar nicht in der Lage, die Originale einfach nur nachzuspielen“, sagt Fox. „Die Malier liegen leicht neben dem Beat, ihre Musik kommt einfach von einem anderen Planeten. Was wir von ihnen lernen können, ist Phrasieren.“

Le Mali 70 – das steht für einen Remix mit neuen Zutaten. So haben die Berliner begleitende Gitarrenlinien für ein Saxophon übersetzt, die ursprünglichen Unisono-Bläsersätze zu mehrstimmigen Akkorden aufgerüstet, kubanisch-malische Traditionen dem anarchischen Geist des Omniversal Earkestra unterworfen. Dank dieser Rotzigkeit fällt die Musik von Le Mali 70 nie in das Wohlfühlkissen namens Weltmusik und schrubbt die Funkyness der Berliner jeder Patina hinweg. „Diese Deutschen“, schwärmt Sorry Bamba, „haben die Klassiker genauso weiterentwickelt, wie wir das früher selbst gemacht haben. Du spielst einen Song nie zweimal auf dieselbe Art.“

Fast nebenbei kondensiert die Musik auf Le Mali 70 eine ganze weltpolitische Ära. Hatte Mali nicht in den Jahren nach der Unabhängigkeit unter dem sozialistischen Präsidenten Modibo Keïta – ebenso wie Sékou Tourés Guinea oder Thomas Sankaras Burkina Faso – die Hoffnung genährt, jenseits der Rolle als Hilfeempfänger und Mündel der ehemaligen Kolonialmächte, einen eigenen afrikanischen Weg zu gehen?

Die Reise in die Vergangenheit, das Durchforsten der Archive, führte zu einer verschütteten Utopie: „Mali ging es damals, nach zehn Jahren Sozialismus, offensichtlich besser als heute“, sagt der deutsche Filmemacher Schmidt. „Diese Aufbruchstimmung spiegelte sich auch in der Musik.“ Die Orchester waren staatlich finanziert, die Gewinner jährlicher nationaler Bandwettbewerbe durften ihre Kompositionen auf Platte aufnehmen. Die Folge war nicht nur eine relative Absicherung der Musiker, sondern auch ein Wettbewerb um künstlerische Innovation. Kuba spielte dabei eine wichtige Rolle, die spezifische Verbindung zu Mali. „In Timbuktu kamen damals kubanische Ärtze, Basketballtrainer und Musiklehrer an“, erinnert sich El Hadj Mahalmadane. „Und wir lernten viele von ihren Rhythmen. In allen Songs, die wir in Mali spielen, wirst du ein Stück Kuba finden.“ Wobei die Malier sich sicher sind: Es war nur ein Re-Import eigener, ganz ähnlicher Ideen.

Die Hoffnung auf eine bessere Welt

Nach dem Militärputsch gegen Modibo Keïta im Jahre 1968 verließen viele Musiker und Musikerinnen das Land. Einige versuchten ihr Glück in Cotonou und Abidjan, andere gingen wie Sorry Bamba als Illegale nach Paris. Von den Kubanern aber blieb mehr als Musik. Der Besuch des damaligen kubanischen Industrieministers (aber nun wahrlich auf revolutionär andere Weise berühmt gewordenen Argentiniers) Che Guevara in Bamako hat 1964 einen tiefen Eindruck hinterlassen: Bis heute leuchtet Ches Konterfei – neben Koransuren und der Nationalflagge – auf scheinbar jedem zweiten malischen Bus, Taxi oder Moped. „Guevara“, sagt Cheikh Tidiane Seck, der auf alten Fotos stets das Revolutions-Beret seines Idols trägt, „steht in Mali für die Hoffnung auf eine bessere Welt.“ Und eine bessere Welt: Das heiße eben auch die Überwindung von Korruption, Arbeitslosigkeit, Misswirtschaft, die Mali zu einem der ärmsten Land der Erde gemacht haben.

Zur Corona-Krise kam dieses Jahr auch noch ein Militärputsch. Vom Gros der Bevölkerung durchaus begrüßt, war der Coup auch eine Reaktion auf die Unfähigkeit der Regierung, mit den Dschihadisten fertig zu werden, die bereits 2012 über die Hälfte Malis überrannt hatten und heute wieder weite Teile im Norden und der Landesmitte beherrschen.

Hoffnung gibt da allein die malische Kultur. Und eine Musik, die dem Vielvölkerstaat schon immer als Kitt diente. „Seit Jahrhunderten „, sagt Seck, „haben sich die verschiedenen Ethnien ausgetauscht, miteinander Handel getrieben, gegenseitig Melodien und Rhythmen abgeguckt.“ Nirgends in Afrika reichten die Wurzeln tiefer. Ihn jedenfalls wundert es nicht, dass trotz Reisewarnung und Terrorismusgefahr immer noch westliche Musiker wie Damon Albarn – oder eben das Ominversal Earkestra – an den Niger reisen. Politisch mag Mali ein failed state sein. Doch im Gegensatz zu den korrupten Staatsvertretern genießen Musiker hier den allergrößten Respekt. „Die Menschen sehen sie als Verkörperung von Weisheit“, hat Schmidt beobachtet. „Selbst Taxifahrer begannen ehrfürchtig die alten Hits der Veteranen zu singen, wenn sie nur deren Namen hörten.“

Im November folgten einige der Malier einer Gegeneinladung nach Berlin: Da standen die Sängerin Mariam Koné, Cheikh Tidiane Seck und Aly Keïta zur Release-Party von Le Mali 70 zusammen mit dem Omniversal Earkestra auf der Bühne eines Gartenlokals in Treptow und animierten eine – der Kälte und Corona-Beschränkungen zum Trotz – durch Zaunlücken hinein geströmte Zuhörerschaft zum Tanzen. Als ob das alte „Buffet de la Gare“ ein paar Tausend Kilometer nördlich wieder auferstanden wäre.

Es sollte nur ein Anfang sein. Der Saxophonist Georg Pfister arrangiert gerade neue Songs von El Hadj Mahalmadane aus Timbuktu, Oliver Fox nimmt mit Miriam Koné auf und Cheick Tidiane Seck schickt Keyboardriffs – alles per Computerfiles, versteht sich. Für den Sommer ist eine Europatournee geplant. Inschallah, so die Pandemie es zulässt. Wenn es sein muss, sogar ohne Gage. Als die Berliner 2019 ihren ersten Mali-Trip unternahmen, war das noch undenkbar: „Dass der deutsche Staat“, sagt Schmidt, „einen Kulturaustausch mit prekär lebenden Berliner Jazzern ermöglicht, das erschien manchen Veteranen so unwahrscheinlich, wie eine Rückkehr der kubanischen Musiker der Siebzigerjahre“. Doch war da nicht auch dieses Sprichwort, verpackt in einen unwiderstehlich kreiselnden Beat? „Gebe niemals vor, jemanden zu kennen, wenn du nicht mit ihm gearbeitet hast.“

JONATHAN FISCHER

Zeit Online 9.12.2020