Monatsarchiv: April 2012

Der Schamane: Lass dir von den Geistern helfen, wenn du nicht mehr weiter weißt. Der große Blues- und Rockkünstler Dr. John geht wieder auf Tournee – endlich

Als Dr. John Anfang April in New York sein neues Album vorstellte, machte er die Brooklyn Academy of Music zum Voodoo-Tempel. Mit Ketten aus Federn, Knochen und sonstigem Kram aus der Medizinmannkiste behangen, schlurfte der 71-Jährige auf die Bühne und ließ sich zwischen Totenschädel und Votivkerzen nieder, um, ansatzlos und nur von seiner Orgel begleitet, diesen unnachahmlichen Schmirgelgesang zu erheben. Da wusste man wieder, warum ein Kritiker sich einst an »einen riesigen Ochsenfrosch mit Mandelentzündung« erinnert gefühlt hatte.

»New Orleans«, sagt der Doktor heute, »ist voller Geister. Sie haben uns immer Kraft geschenkt, um zu überleben. Sie bedeuteten mir: Zeit für einen Richtungswechsel.« Auch im Gespräch rumpelt seine Stimme wie eine defekte Bassbox. Erst auf der Bühne aber jagt einem dieses autoritäre Knurren Schauer über den Rücken. Es muss damit zu tun haben, dass er zwischen düster-peitschenden Neukompositionen wieder die Songs seiner Anfangstage spielt: Mama Roux, Black John The Conqueror oder den Swamp-Blues-Klassiker Walk on Guilded Splitters.

Zeiten waren das, damals in den späten Sechzigern: In seinen Shows biss ein Chicken Man lebenden Hühnern den Kopf ab. Nackte Mädchen tanzten mit Schlangen. Das Debütalbum Gris Gris elektrisierte das Amerika der Hippie-Zeit, Mick Jagger, Van Morrison und James Taylor lagen dem Night Tripper zu Füßen. Doch Mitte der siebziger Jahre verließ Dr. John den Voodoo-Zirkus und rang mit seinen persönlichen Dämonen. Zwei Jahrzehnte lang setzten Heroin und Gefängnisaufenthalte dem Mann, der bürgerlich Malcolm Mac Rebennack heißt, auf allen Ebenen zu. Bis zum Entzug 1989: Seitdem gab er den honorigen Kulturbotschafter, spielte Tribut-Alben für Legenden wie Duke Ellington ein – und rollte auf altbekannten Gleisen dahin. Nun aber ist der Night Tripper zurück, wiederentdeckt von einer jungen Generation von Hipstern.

Es war der alte Dr. John, der Dan Auerbach, Kopf der Grammy-gekrönten Retro-Rockband The Black Keys und Produzent des neuem Albums, immer fasziniert hatte. »Warum sollten wir nicht wieder die Ahnen und Geister durch Dr. Johns Musik sprechen lassen? Die bewährten Zutaten mit dem Feingefühl des 21. Jahrhunderts neu aufkochen?« Mit Locked Down hat Dan Auerbach der Legende nicht nur das wagemutigste Album seit Jahrzehnten auf den Leib geschneidert, er verleiht dem Doktor vermittels einer jungen Band auch live eine unerhörte Intensität: »Dan«, sagt Dr. John, »hat mich gestoßen und gezerrt, bis alles anders klang.« Eklektische Zutaten von beiden Seiten des Atlantiks würzen den Gumbo: dunkel vibrierende Bläser und verspukte Chöre, verzerrte Gitarren und Second-Line-Funk, sumpfige Orgel und Afrobeats. Dan Auerbach wollte die Nachtseite, den Schamanen zum Klingen bringen. Und der Doktor spielte mit.

Auf den ersten Blick erinnert Locked Down an die vielen Versuche, amerikanische Klassiker neu zu beleben, allein: Dr. John war nie wirklich weg. Auerbach traf er erstmals beim Bonnaroo-Festival in New Orleans – und erkannte im Blueshipster aus Ohio eine verwandte Seele. Auerbach sei ein »Spieler derselben Tricknology«, wie Dr. John in seinem ureigenen Slang erklärt. »Wir suchen beide die Schleichpfade – und nicht den Highway. Wer das Alte liebt, muss gleichzeitig neu geboren werden.« Eine Disziplin, die Mac Rebennack beherrscht: Früh spielte er als Sessionmusiker – und wechselte, nachdem ihm bei einer Schlägerei der Daumen angeschossen wurde, von der Gitarre zum Klavier. Den Rest lernte er auf der Straße: als Zuhälter, Dealer, Handlanger illegaler Abtreibungspraxen. Stoff, aus dem er nach seinem Umzug nach Kalifornien die Figur des Night Tripper wob.

Dr. Johns Exzentrik, seine schlurfende Funkyness schienen mit der Blüte eines exotischen Feuchtgebiets des Rock‚n‚Roll im tiefsten Süden Amerikas zusammenzuhängen. Auch Locked Down ankert in New Orleans. Doch Dan Auerbachs junge Band blickt weit über die lokale Folklore hinaus. Sie adaptiert fiebernde Grooves von beiden Seiten des schwarzen Atlantiks. Eine Weiterführung der afrokaribischen Funk-Synthese, die Dr. John vor vier Jahrzehnten einfädelte und deretwegen heute Indierocker und Technoproduzenten nach Afrika pilgern. Neben Bläser-Arrangeur Leon Michels erwies sich vor allem Max Weissenfeldt, einst Schlagzeuger bei Embryo und den Münchner Poets of Rhythm, als Glücksgriff. »Dieser deutsche Drummer«, schwärmt Dr. John, »brachte die unglaublichsten afrikanischen Rhythmen an. Es war, als käme ich nach Hause.«

Wenn Dr. John, begleitet von den gospelnden McCrary Sisters, auf der Bühne den Trickster-Gott »Eleggua« anruft, dann ist es nur ein Riff vom Voodoo-Chant zur Funk-Hymne. Schon immer war seine Musik in der Lage, verschiedenste Einflüsse zu adaptieren. Nun erinnern die Live-Jams mit Dan Auerbachs Combo an einen Voodoo-Altar, auf dem Plastikspielzeug, Heiligenstatuen, Dolche und Zigarren sich gegenseitig mit Bedeutung aufladen. Vor diesem Hintergrund wirkt Dr. Johns Wut noch schärfer: Nach Katrina war er wie ein Rachegeist aus den Fluten aufgetaucht, hatte Alben wie City That Care Forgot eingespielt. Ein Thema, das seine Bühnenshow durchzieht: die Zerstörung von New Orleans.

Er wechselt zwischen aufmunterndem Jive und bösem Gesellschaftskommentar, und in seinen Songs mischen sich Durchhalteappelle und Verschwörungstheorien. Beim Doktor reimt sich KKK auf CIA, und wenn er – »the price of death is too low« – die Verantwortlichen für die Ölpest geißelt, ist er in seinem Element. Der späte Dr. John ist aber auch ein Volkspädagoge, der auf My Children My Angels die Kinderlein um Vergebung bittet. Nie den leichten Weg wählen, mahnt er, lieber »die Geister richten lassen, was wir selber nicht schaffen«. Dass in seinem spirituellen Einzugsgebiet alles zum Tanz wird, beweisen seine Auftritte schon jetzt.
JONATHAN FISCHER
Die Zeit, 26.4.2012

Afro statt retro: Afrikanische Pop-Fusionen von Amadou & Mariam, Mark Ernestus und Analogik

Seit Jahren nützen westliche Pop-Musiker Musik aus Afrika als Sound- und Inspirationsquelle. In den neuen Afro-Fusionen von Amadou & Mariam, Mark Ernestus und Analogik begegnen sich Musiker verschiedener Kontinente auf Augenhöhe.

Jonathan Fischer

Mag der Schwarze Kontinent in den Nachrichten eine Negativschlagzeile nach der anderen liefern. Popmusikalisch steht er höher im Kurs als je zuvor. Ein Strom von Musikern aus dem Westen pilgert nach Afrika, seit es hip geworden ist, in Lagos, Nairobi oder Kinshasa lokale Flavors aufzugabeln und in Kooperation mit heimischen Künstlern die eigenen Schablonen aufzubohren, altgewohnte Beats zu modifizieren oder durch neue, unerhörte Klangfusionen zu ersetzen. Nachdem es lange so ausgesehen hat, als sei das Ende der Rockgeschichte gekommen und würden selbst junge Bands nur noch mit der Wiederaufbereitung bekannter Pop-Moden punkten, scheint jemand den Vorhang vor dem Horizont weggezogen zu haben. Er reicht plötzlich viel weiter als nur bis nach Manchester, Memphis oder Seattle – und auf dem Himmel darüber steht gar nicht retro – sondern vielmehr: afro.
Afrikanische Musik von No-Names

Damon Albarn machte 2002 den Anfang: Er reiste nach Mali und gründete drei Jahre später die Initiative «Africa Express» als Zusammenschluss befreundeter Musiker, Musikindustrie-Insider und Enthusiasten, die den Austausch mit afrikanischen Musikern verschiedener Genres, Kulturen und Generationen fördern wollen. Westliche Indie-Rocker von Animal Collective bis Björk jammten mit kongolesischen Likembe-Orchestern. Englische Dubstep-Produzenten nahmen letztes Jahr zusammen mit Albarn in Kongo-Kinshasa auf (BRC Music), während Techno-Musiker aus Berlin in Nairobi ein tolles Hip-Hop-Crossover-Album produzierten («BLNRB»). Die Stars kamen aus dem Westen. Die No-Names vor Ort profitierten von deren Verbindungen.

Geht es aber darum, afrikanischen Pop-Stars auf Augenhöhe zu begegnen, gibt es immer noch wenige Musiker, die so anschlussfähig sind wie Amadou & Mariam. Das blinde Sängerpaar aus Mali hatte für seine letzten Alben Produktionshilfe unter anderem von Manu Chao und – natürlich – von Damon Albarn erhalten. Sein Bluesrock schien per se schon den halben Weg über den Atlantik zu Howlin‘ Wolf und Jimi Hendrix zurückgelegt zu haben. Nun aber wagen die Malier das Rendez-vous mit den amerikanischen Hipster-Figuren von heute.

Für ihr neues Album «Folila» reisten sie nach New York, luden unter anderem TV on the Radio, Santigold, Theophilus London und Musiker der Yeah Yeah Yeahs und der Scissor Sisters ins Studio. Doch das war nur der erste Teil. Danach nahmen sie alle Songs noch einmal mit afrikanischen Musikern und traditionellen Instrumenten auf. Die Produzenten sollten am Ende Bamako und Brooklyn zusammenbringen. Klingt nach mildem Exotismus für einen maximalen Markt. Und doch ist kein Afro-Rock-Kitsch herausgekommen, sondern ebenso komplexe wie eingängige Songs, die selbst Skeptiker begeistern dürften.

Etwa «Wily Kataso». Da bringen TV on the Radio ihren Funk so selbstverständlich ein, als hätten sie schon immer zur Band der Malier gehört. Oder «Dougou Badia» mit Santigolds Gast-Gesang. Nick Zinner von den Yeah Yeah Yeahs legt seine ausgehaltenen Gitarrentöne über Amadous Stakkato. Und auch das bisschen Disco-Glitter von Jake Shears (Scissor Sisters) auf «Metemya» zeigt, wie weit die Pop-Hemisphären bereits zusammengewachsen sind. Beziehungsweise: wie universal aufnahmefähig der malische Groove ist.

Amadous dreckig-bluesiger Gitarrenstil und Mariams Klagegesänge bleiben stets Zentrum der Aufnahmen. Sie wirken unangreifbar. Entsprechend respektvoll fügen ihre Gäste und Produzenten ihre Beiträge ein. Diese Herangehensweise ist nicht selbstverständlich. Denn lange lief es umgekehrt: Westliche Musiker pickten sich kleine afrikanische Klangschnipsel heraus, rissen sie aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang und behandelten sie wie Fundstücke ohne Ort und Geschichte. Im Zeitalter des Samples ist das legitim. Doch vielen Afro-Enthusiasten reicht diese Vorgehensweise nicht mehr. Zu ihnen gehört etwa der Berliner Dub-Produzent Mark Ernestus: Früher re-mixte er Tracks des Afrobeat-Pioniers Tony Allen, südafrikanischen Shangaan-Folk oder Konono No 1 aus Kinshasa, nun landete er während einer Feldforschungs-Reise durch Senegal mit 20 der besten Sabar-Trommler des Landes in einem Studio in Dakar. Ihr gemeinsames Projekt: Jeri-Jeri. Wer den Minimal-Techno-Sound von Ernestus‘ Basic-Channel-Label kennt, wird erstaunt sein, wie wenig der Berliner in die Sessions der Trommler, Sänger und ihrer senegalesischen Gastmusiker eingreift. Stattdessen lässt er ihren Trance-Groove ungebremst laufen. Und als Fan und Bewunderer steuert er nur minimale Studio-Effekte bei.
Respekt

Ähnlich respektvoll geht das dänische Musikerkollektiv Analogik mit den Klängen Afrikas um. Beziehungsweise seiner neu entdeckten Liebe zum äthiopischen Jazz. Früher einmal spielte man Elektro-Swing, Ska und Gypsy-Musik. Nun eifern die Dänen ostafrikanischen Vorbildern nach: etwa Mulatu Astatke, der in den sechziger Jahren Jazz- und Latin-Klänge aus New York nach Addis Abeba exportierte und dessen pentatonischer Funk – von Dr. John bis zu Kanye West – gerade zum beliebtesten Afro-Accessoire westlicher Pop-Erneuerer avanciert. Allerdings hört man Analogik durchaus noch Hip-Hop- und Elektro-Bezüge an. Sie rüsten die ursprünglich auf der Farfisa gespielten Orgel-Riffs mit Bässen und Synthies so weit auf, dass wohl auch westliche Raver sie intuitiv verstehen. Das Prinzip ist afrikanisch: anreichern, umrühren, panschen. Und den dabei anfallenden Dreck nicht wegputzen, sondern als produktives neues Element in den Groove einbetten.

So verfahren auch Amadou und Mariam auf «Folila». Die ursprünglich geplante, «saubere» Lösung wären zwei Alben gewesen. Eine westliche Pop-Platte. Und ein Album, auf dem die Malier um Ngoni-Spieler Bassekou Kouyaté und die Perkussionisten Vieux et Boubacar Dembélé unter sich geblieben wären. Am Ende folgten sie dem Weg aller afrikanischen Pop-Musik. Dem Gebot der Entgrenzung und Vermischung. Die Afro-Fusion-Küche läuft weltweit gerade auf Hochbetrieb. Wir dürfen uns diesen Sommer auf weitere Mix-Abenteuer freuen.
JONATHAN FISCHER
NZZ 20.4.2012

Mister Funk von der Isar: Um den Tubaspieler Wolfi Schlick und die Express Brass Band hat sich eine weltweit beachtete Fusion-Szene gebildet

Als die Dap-Kings, einstige Begleitband von Amy Winehouse, vor kurzem in München gastierten, löcherte Bandleader Neil Sugarman die Journalisten: „Wo ist Wolfi Schlick? Wer hat seine Handynummer?“ Der Münchner Allround-Bläser hatte vor Jahren in Zuckermans Studio in Brooklyn Querflöte und Tuba gespielt, Songs für den New Yorker Rapper Mr. Lif, die Dap-Kings und die Whitefield Brothers geschrieben – und somit den Ruf der Isarmetropole als heiße Suppenküche für Funk-Fusionen aller Art gefestigt. Nun sollte er special guest von Sharon Jones und den Dap-Kings sein. Wolfi Schlick aber hatte für diesen Abend schon einen anderen Auftrag angenommen: Mit seiner Express Brass Band spielte er im Westend bei der Eröffnung eines sozialen Wohnbauprojekts. Aus „Verpflichtung der guten Sache gegenüber“. Und – wie so oft – für lau. Tatsächlich hört man das mächtige Gebläse der Express Brass Band überall dort in München, wo es um Nachbarschaftshilfe und Solidarität geht. Etwa auf der St. Martinsfeier einer Kinderinitiative, einer Studenten-Demo oder einem Asylanten-Benefiz. Dann wird selbst in München auf der Straße getanzt.

„Für mich“ erklärt Schlick, „gehört es zum Ethos einer Brassband, nicht nur auf Hochzeiten und Partys zu spielen. Sondern auch denen Gehör zu verschaffen, die sonst nicht gehört würden.“ Der Bandleader entkorkt einen Rotwein. In Schlicks Schwabinger Altbauwohnung – ein Labyrinth aus Antiquitäten und einem Haufen alter Instrumente – laufen die Fäden der Münchner Funk-Szene zusammen. Das Handy klingelt alle paar Minuten: 15 Musiker der Express Brass Band müssen zusammengetrommelt werden. „Das übliche Chaos“, sagt Schlick und lächelt. Es ist beinahe unmöglich, sich in der Münchner Livemusik-Szene zu bewegen, ohne diesem freundlichen Schwärmer mit der James-Last-Frisur und der Vorliebe für 70er-Jahre-Spitzhemdkrägen zu begegnen. Stellt Schlick doch das Bindeglied zwischen einem Dutzend renommierter Münchner Bands, bläst er von Embryo bis zu Radio Citizen, von den Malcouns bis zum La Brass Banda-Ableger Monobo Son wahlweise in Saxophon, Tuba oder Querflöte; wenn in der Bandbeschreibung das Wörtchen Funk vorkommt, ist er jedenfalls der richtige Mann. Ein Diplomat, Stil-Jongleur, Alleskönner.

„Nachdem ich 1991 ein Jahr lang in England in einer Brassband auf Demos und Tanzveranstaltungen mitspielte, dachte ich mir: Warum gibt es so etwas nicht in München?“ Zusammen mit dem Trompeter Zsolt Tokay trommelte Schlick Freunde und Freunde von Freunden zusammen. Fertig war das, wie Schlick nicht ohne eine gewisse Ironie vermerkt, „superbasisdemokratische Anarcho-Ensemble“. Manchmal stünden ein halbes Dutzend Meinungen gegeneinander. Und die Besetzung? Nie vorhersehbar. Da fangen Konzerte mit einem Quintett an, während der Rest der Musiker nach und nach per Fahrrad und Straßenbahn eintrudelt, um schließlich in einer gewaltigen Big Band das Finale zu blasen. Schlick hält die Express Brass Band für ein musikalisches wie soziales Experiment: „Niemand kann hier viel Geld oder Karriere machen. Nur der kollektive Spaß zählt.“

Diesen Spaß aber hört man der Wucht der Bläser an: Wenn der Bandleader aus dem Trichter seines Helikons einen synkopierten Basslauf hinausdrückt, der Perkussionist losfeuert, Posaunen, Saxophone und Trompeten im schrägen Unisono einfallen – dann rückt München plötzlich ein ganzes Stück näher an Lagos, Marrakesch oder New Orleans.

Dass Schlicks Konterfei noch nicht auf Plakaten klebt, hat einen Grund: Er fühlt sich im Hintergrund am wohlsten. Stellt den musikalischen Anspruch über die Karriere. Eine neue Platte der Express Brass Band? Eine Anfrage der Plattenfirma gebe es seit Jahren, „aber irgendwie bin ich nie richtig zufrieden mit unseren Aufnahmen“. Über so viel Selbstbescheidung kann man den Kopf schütteln. Oder sie als konsequente Haltung der Münchner Funk-Szene verorten: Underground bleiben. Als Geheimtipp ungestört vor sich hin experimentieren. Fragt man etwa den kalifornischen Hip-Hop-Produzenten Madlib, den Londoner DJ-Propheten Gilles Peterson oder auch Will Holland von der englischen Funk-Formation Quantic, dann kocht in der Isarmetropole gerade eine der weltweit interessantesten Funk-Fusion-Süppchen vor sich hin, gilt „made in Munich“ als untrügliches Gütesiegel. Ein amerikanisches Webzine fand in unserer Stadt gar „uralte tribalistische Rituale, wieder belebt von Männern, deren eigene Götter staubige alte Vinylscheiben darstellen“. Schlick gehört zu diesen Männern.

Er blies vor zwei Jahrzehnten bereits mit den Poets of Rhythm: Die Band arbeitete schwer konspirativ, veröffentlichte meist nur auf Vinyl oder Single. Und erhielt wohl gerade deswegen den Segen der weltweiten Hipster-Gemeinde. Das erste Album der Poets of Rhythm jedenfalls löste 1992 eine weltweite Rückbesinnung auf die schwarze Musik der sechziger und siebziger Jahre aus. Jan Weissenfeldt, sein Bruder Max, Boris Geiger, Thomas Wieland und Wolfi Schlick bildeten den Kern einer Truppe, die mit Instrumenten und Verstärkern aus der damaligen Zeit den verrauschten, schmutzigen Groove von James Brown oder den Meters nachempfinden wollten. Und vom Epigonentum zum Experiment fortschritten. Als der Westcoast-Rapper Lyrics Born in einem Second-Hand-Laden eine ihrer Singles fand, glaubte er, die „tighteste Funkband der Welt“ gefunden zu haben und lud sie zu sich ins Studio. Später saugten Schlick und die Gebrüder Weissenfeldt auch Afrobeat und Ethno-Jazz-Klänge auf: Der Funk von der Isar ist heute der Vorreiter der Globalisierung – zumindest was die Vielfalt der Grooves und Rhythmen betrifft.

Daran ist nicht zuletzt der Einfluss einer anderen Münchner Band-Institution schuld: Embryo. Die Krautrock-Pioniere nahmen Nachwuchsmusiker wie Wolfi Schlick und Max Weissenfeldt mit auf ihre weltweiten Tourneen. Diese Begegnung, erinnert sich Schlick, habe den zündenden Funken gebracht: „Ich war nicht nur von der Virtuosität der Truppe erschüttert. Sondern vor allem von ihrer Offenheit: Sie suchten ständig nach dem Neuen, Unerhörten – und ließen dabei Greenhorns neben Weltklasse-Musikern spielen.“ Schlick selbst wurde diese Einstellung zum Ansporn, keinem Wagnis aus dem Weg zu gehen. „Als wir einmal ein paar Abende hintereinander ein ähnliches Set spielten, frotzelte Embryo-Boss Burchard etwas von ‚Polizeikapelle‘“. Schlick lacht. „Das hat gesessen.“

Im Moment experimentiert er zusammen mit Bläserkollege Niko Schabl in Radio Citizen, einer Fusionband, deren düstere Grooves in der amerikanischen Serie „Californication“ liefen und die weltweite DJ-Avantgarde entzückten. „Irgendwann“, daran glaubt Wolfi Schlick ganz fest, „wird das Echo aus Berlin, New York oder San Francisco zum Alpenrand zurückschallen.“ Bis dahin aber wird er weiterhin mit der Express Brass Band durch Uni-Feste, Benefiz-Partys und Lesungen tingeln. Und jeden Sonntag Nachmittag am Monopteros proben. Unter freiem Himmel. Mit jedem, der sein Instrument dabei hat. Und „den Funk versteht“.
JONATHAN FISCHER
SZ, 11.4.2012

Paul Weller über Väter

Süddeutsche Zeitung: Mister Weller, Sie sind 53 und haben vor ein paar Wochen mit Ihrer jungen Ehefrau Hannah Andrews noch mal Zwillinge bekommen. Glückwunsch!

Paul Weller: Danke.

Das heißt – Sie, die stets untadelige Stil- und Popikone der Neunziger, haben jetzt sieben Kinder um sich rumspringen?

Wenn alle mal gleichzeitig zu Besuch sind, ja. Aber das kommt bei Patchwork-Familien wie meiner eher selten vor.

Ihre Musik darf man heute wahrscheinlich trotzdem auf keinen Fall ,Dad-Rock‘ nennen?

Dad-Rock? So was Idiotisches! Ich habe mich dran gewöhnt, Beleidigungen einzustecken. Aber der Journalist, der mir vor ein paar Jahren den Ausdruck Dad-Rock anhängen wollte, war denkfaul . . .

. . . weil die jungen Rockbands von heute sich sowieso alle von der Musik ihrer Väter inspirieren lassen?

Jeder, der nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, ist zwangsläufig mit Rock ’n’ Roll aufgewachsen. So hören Eltern und Kinder heute den gleichen Sound. In meiner Jugend war das anders; die Großeltern-Generation begeisterte sich für Musik von Langweilern wie Vera Lynn. Mom und Dad dagegen rockten: Bei uns zu Hause liefen jedenfalls Little Richard, Chuck Berry und Elvis.

Hatten Sie nie das Bedürfnis, sich vonder Musik Ihrer Eltern abzugrenzen?

Warum sollte ich? Nein, ich liebte meine Mom dafür, dass sie mich in Elvis-Filme mitnahm. Meine Mutter war bei meiner Geburt erst 18 Jahre alt. Ich habe Kindheitserinnerungen an sie als junge Frau, die mit den neuesten Singles nach Hause kommt und laute Musik auflegt.

Und Ihr Vater, John Weller, hat Sie jahrzehntelang als Manager betreut.

Ja. Rock ’n’ Roll hat den Umgang von Eltern und Kindern verändert. Und wenn du so drauf bist wie mein Dad, kannst du dir sogar mit 60 Jahren immer noch einen Joint bauen und dazu Pink Floyd aufdrehen.

Was wäre wohl ohne Rock ’n’ Roll aus Ihnen geworden?

Gute Frage. Nachdem ich das erste Mal die Beatles gehört hatte, wusste ich jedenfalls: Das Leben wird nie wieder so sein, wie es mal war. Unsere kleine, arme Vorstadtsiedlung in Wokey, 30 Kilometer außerhalb Londons, leuchtete plötzlich in Technicolor. Vorher sah die Perspektive so aus: Du suchst dir einen Job, heiratest, bekommst Kinder, und das war’s. Ein Scheißleben.

Sie haben noch auf dem Bau gearbeitet, bevor Sie mit Musik Ihr Geld verdienten.

Korrekt.

Ihre Kinder gehen heute auf teure Privatschulen und haben so zumindest die Chance auf höhere Bildung. Wenn Sie als junger Mann hätten wählen dürfen. . .

. . . auf eine Uni zu gehen? Nein, niemals, Fuck it! Mein Vater war Bauarbeiter, meine Mutter Putzfrau, und als ich sagte, ich werde Rockmusiker, meinten sie nur: Great. Sie waren cool, stärkten mir den Rücken, egal was ich vorhatte. Mein Dad lieferte mir ein so großartiges Rollenmodell fürs Vatersein. Er war mein bester Freund. So möchte ich es mit meinen Kindern auch halten. Natürlich muss ich sie erziehen, fordern, ermahnen – trotzdem finde ich die Freundschaft zwischen uns am wichtigsten.

Dabei können Sie ganz schön harsch sein. Facebook beispielsweise bezeichnen Sie als Schwachsinn. Kaum vorstellbar, dass Ihre Kinder das genauso sehen. Oder?

Meine Kinder schreiben den halben Tag auf ihren iPhones Facebook-Nachrichten. Na gut, sie kennen es nicht anders. Aber in meinem Alter sollte man doch über so etwas hinweg sein. Wenn mir ein Erwachsener erzählt, er hätte jetzt 300 Facebook-Freunde, muss ich laut lachen. Wie viele von ihnen hat er schon getroffen, und wann zum letzten Mal? Da habe ich doch lieber fünf Freunde, mit denen ich mich anständig unterhalten kann.

Diskutieren Sie denn darüber mit Ihren Kindern?

Ich würde diesen Social-Media-Quatsch am liebsten aus meinen vier Wänden verbannen. Andererseits: Wer will seine Kinder schon zu Außenseitern machen?

Sind Sie sich denn wenigstens in punkto Musik einig?

Na ja.

Ihr 23-jähriger Sohn Natt stand immerhin schon mit Ihnen auf der Bühne. Und Ihre 20-jährige Tochter Leah singt auf einem Song Ihres neuen Albums ,Sonik Kicks‘ mit.

Das schon. Aber von sich aus hören die beiden wirklich ziemlich merkwürdige japanische Popmusik.

Vielleicht der einzige Sound, mit dem sie ihrem Vater ein Schnippchen schlagen können?

Wahrscheinlich. Ich kann dieses Zeug nicht ausstehen, klingt wie verdammt schlechte Oper, der man Rockmusik untergejubelt hat. Trotzdem respektiere ich meine Kinder dafür, dass sie da selbst draufgekommen sind – und auch dafür, dass sie Rihanna und die Beatles hören. Sie sind so viel offener als ich in meiner Jugend; da waren nämlich nur ganz bestimmte Bands erlaubt.

Ihre Coolness-Regeln waren ziemlich streng, damals in den achtziger, neunziger Jahren, oder?

Es hatte schon seinen Vorteil, mit Scheuklappen durch die Welt zu laufen und alles links und rechts als Müll zu markieren. Sonst wäre ich nie so fokussiert an meine Musik rangegangen.

Hatten Sie nicht vor, als letztes Album Ihrer Band ,Style Council‘ eine Houseplatte zu veröffentlichen?

Die Plattenfirma hat nicht mitgespielt. Möglicherweise fürchtete sie, dass unsere Fans musikalisch noch engstirniger wären als wir.

Was die Kleiderordnung betrifft, sind Sie jedenfalls als ziemlich gnadenlos bekannt . . .

Gnadenlos? Das hat eher was mit Haltung zu tun, mit Selbstrespekt. Wenn du in einer Arbeiterstadt wie Wokey aufgewachsen bist, kam es darauf an, am Wochenende im Club gut geschnittene Hosen und die richtigen Schuhe zu tragen.

Waren das diese Mod-Bowling-Schuhe, die Sie mit ,The Jam‘ populär machten, oder später Ihre Loafers aus der Style- Council-Zeit?

Welche auch immer, es ging darum, selbst die Spielregeln zu bestimmen, anzusagen, wer Stil hatte und wer nicht.

Ging mit dieser Einstellung manchmal nicht auch eine gewisse künstlerische und menschliche Rücksichtslosigkeit einher?

Inwiefern?

In Ihrer Biographie ,Changing Man‘ werden Sie als ,gutherziger Mensch‘ beschrieben, der aber ,auch aggressiv, übergriffig, selbstsüchtig und höchst intolerant sein kann‘.

Manchmal muss man einfach arrogant sein. Ohne diese Leidenschaft, diesen Glauben an dich selbst kommst du nirgendwo hin.

Von Demut halten Sie nicht viel?

Doch, doch, die kommt mit dem Alter ja auch unweigerlich. Aber sie ist bestimmt nicht die Kraft, die dich als jungen Musiker nach oben bringt. Ich komme aus einer anderen Zeit, aus der alten Arbeiterklasse. Und da hieß es: Wenn du etwas im Leben erreichen willst, musst du hart dafür arbeiten. Das ist die Ethik, mit der ich groß geworden bin. Da musst du einfach Fans oder frühere Kollegen enttäuschen – weil du ohne sie weitergehst. Irgendjemandem trittst du auch immer auf die Füße. Aber was ist ehrlicher? Aus falscher Rücksicht auf der Stelle zu treten oder sich fortzuentwickeln? Wer ein Anführer sein will, hat gar keine Wahl.

Sind Sie nicht auch jemand, der es genießt, andere vor den Kopf zu stoßen? Einmal haben Sie sich einer Musikzeitschrift gegenüber sogar als Tory-Anhänger verkauft.

Das war in der Zeit bei ,Style Council‘. Sei mal wie Bob Dylan, dachte ich damals, der geht auch auf die Bühne und spielt eine Version von ,The Times They Are a-Changing‘, die beim besten Willen niemand verstehen kann. Mir ging es damals ums Image. Mittlerweile frage ich mich: Was hat man von derlei Spielchen?

Musikalisch provozieren Sie immer noch. Dabei hätten Sie sich doch längst, wie andere erfolgreiche Künstler Ihres Alters, ins Landhaus zurückziehen können, um alle paar Jahre ein schön nostalgisches Comeback-Album vorzulegen.

Nein, ich brauche den Druck, die Herausforderung, um mich zu spüren. Für andere mag Nichtstun paradiesisch sein. Für mich bedeutet Stillstand die Hölle. Du wirst einen Arbeitersohn wie mich nie so weit bekommen, dass er zufrieden die Hände in den Schoß legt.

Sie waren schon immer ein politischer Künstler. Auf Ihrem neuen Album kritisieren Sie die britische Beteiligung an den Kriegen in Irak und Afghanistan. Glauben Sie immer noch, dass Musik die Gesellschaft ändern kann?

Früher habe ich tatsächlich an die politische Kraft der Musik geglaubt. Das könnte man rückblickend naiv nennen. Andererseits: Wenn meine Musik nur ein paar Individuen verändert hat, hat sie doch auch die ganze Welt verändert, oder?

Zumindest Premierminister David Cameron haben Sie als Fan gewonnen. Er schwärmte mal öffentlich von Ihrem alten Hit ,Eton Rifles‘.

Das habe ich auch nie kapiert.

Darin machen Sie sich über die Schnösel aus Elite-Universitäten wie Eton lustig, die auch Cameron besuchte.

Er muss den Text irgendwie komplett missverstanden haben.

Auch haben Sie nie ein Hehl aus Ihrer Ablehnung von Camerons Politik gemacht. Was würden Sie ihm sagen, wenn Sie ihm begegneten?

Tatsächlich hatte ich unlängst das Vergnügen. Als ich meine beiden jüngeren Kinder zu einem Skatepark brachte und mit ihnen die Ausrüstungsläden inspizierte, schlenderte David Cameron mit seinem kleinen Sohn herein.

Und?

Wir schauten uns kurz in die Augen und murmelten dann so was in der Art von ,Mmmhdoing?‘ Verdammt bizarr. Vielleicht wäre unser Zusammentreffen anders verlaufen, wenn wir nicht gerade beide mit unseren Kindern unterwegs gewesen wären.

Sie beschäftigen sich musikalisch immer mehr mit dem Thema Familie.Auf Ihrer neuen Single ,Be Happy Children‘ lassen Sie Ihren sechsjährigen Sohn Max singen. Von was handelt der Song?

Von meinem 2009 verstorbenen Vater. Was würde Dad heute wohl sagen? So etwas wie: ,Nicht weinen, ich lebe doch noch in dir . . .‘ Sein Tod hat meinen Glauben gestärkt. Wahrscheinlich sitzt er da oben an der Bar und wartet auf mich, so wie er es auch zu Lebzeiten gemacht hat.

Ihr Vater war nicht nur Bauarbeiter, sondern auch Boxer. Ein Mann also, der physischen Kontakt nicht scheute. Hat das auf Sie abgefärbt?

Er hat mich einmal als Fünfjährigen zum Training in seinen Boxclub mitgenommen. Da fragte mich einer von den größeren Jungs, ob ich nicht mal in den Ring steigen wolle; nur ein bisschen zum Sparring. Dann schlug er mich so fest in den Magen, dass ich mich auf dem Boden hin und her wand. Das war’s dann. Vor ein paar Jahren habe ich dann doch wieder mit dem Boxen angefangen und erkannt: Trainieren, bis es schmerzt, das liebe ich. Müssen die Gene meines Vaters sein.

Was haben Sie denn sonst noch von ihm geerbt?

Zähigkeit. Arbeitseifer. Den Hang zur Sauferei.

Probleme unter den Tisch zu trinken?

Nein. Der Alkohol ist dort, wo ich herkomme, eher eine gesellschaftliche Gepflogenheit. England lebt durch die Flasche. Seitdem ich 14 Jahre alt bin, habe mit meinem Dad in der Eckkneipe getrunken und Snooker gespielt. Was auf seine Weise großartig war.

Andererseits haben Sie wegen Ihrer Kinder mit dem Trinken aufgehört.

Das war der Durchhalte-Grund. Aber vor allem sehe ich heute, dass der Entzug auch meine physische, mentale und spirituelle Erscheinung zum Positiven verändert hat.

Dafür, dass Sie eine Stilikone des Cool sind, klingen Sie auf Ihrem neuen Album oft herzzerreißend zugänglich und einfach; etwa im Duett mit Ihrer Ehefrau.

Was gibt es Einfacheres als die Liebe? Hemdenmarken, Schuhe, Musikreferenzen: All die komplizierten Sachen zählen dann nicht mehr, es zählt nur noch, was gerade ist. Die Liebe vereinfacht das Leben. Alles ist plötzlich möglich.

Selbst Ausdruckstänze in der Öffentlichkeit?

Liebhaber und Väter dürfen auch uncoole Sachen tun.

Paul Weller, geboren am 25. Mai 1958, gilt seit Jahrzehnten als Leitfigur des britischen Pop. Dabei durchlief er zahlreiche Brüche: vom Punk-Bengel zum Modfather, vom Soul-Dandy zum Indie-Rocker. 1972 gründete der gerade mal 14-jährige Arbeitersohn die erste Inkarnation von „The Jam“. Sein Vater John Weller übernahm damals das Management: Zunächst buchte er das Quartett in Arbeiter-Clubs, wo es eine Mischung aus Beatles-Songs und Wellers Eigenkompositionen darbot. 1977 kam der Durchbruch. In den folgenden Jahren eroberten The Jams sozialkritische Songs wie „Eton Rifles“ und „Going Underground“ die britischen Charts. 1982 löste Paul Weller die Band auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs auf. Mit seiner neuen Band „Style Council“ lehnte er sich stilistisch eher am Soul an. Dabei war er ein wesentlicher Auslöser des Mod-Revivals der 80er Jahre. Seit 1990 verfolgt Weller eine Solokarriere. Er trug indirekt zum Erfolg von Britpop-Bands wie „Blur“ und „Oasis“ bei. 2009 wurde er für sein Album „22 Dreams“ mit dem Brit Award als „Bester männlicher Solomusiker“ ausgezeichnet. Weller, der bereits fünf Kinder aus drei Beziehungen hat, heiratete 2010 die Sängerin Hannah Andrews, die auf „22 Dreams“ mitgewirkt hatte. Im Januar 2012 bekam das Paar Zwillinge: John Paul und Bowie Weller.

„Ich respektiere, dass
meine Kinder Beatles
und Rihanna hören.“

„Wahrscheinlich wartet
mein verstorbener Dad
da oben an der Bar. . .“

„Komplizierte Sachen
wie Hemdenmarken
werden bei Liebe egal.“

Paul Weller, Stilpapst und Leitwolf des Britpop, empfängt im Hotel am Hackeschen Markt. Gerade hat er mit einer Journalistin Mode-Quiz gespielt: Outfit, in dem er sich nicht erwischen lässt? Trainingsanzug. Übelste Schuhsünde? Cowboystiefel. . . Jetzt lehnt er mit einer Tasse Tee im Sessel. Redet er über

seine Kinder oder seinen Dad, wird die Stimme weich, und er ringt, vielen „fucking“-Interpunktionen zum Trotz, um die richtigen Worte.
JONATHAN FISCHER
SZ 7.4.2012

Der feine Unterschied: Dr. John über Blues-Hipster, Schießereien und sein neues Album „Locked Down“

Der aus New Orleans stammende Blues-Pianist Dr. John ist eine der Legenden der Popmusik, denen der ganz große Publikumserfolg immer verwehrt geblieben ist. Dafür gehörten zu seinen bekennenden Fans immer die Größten der Großen, darunter Frank Zappa, die Rolling Stones , Phil Spector, Aretha Franklin oder Eric Clapton. Mit seinem soeben erschienen neuen Album „Locked Down“ (Nonesuch/Warner) ist dem 71-Jährigen jetzt mit Hilfe des Gitarristen und Sängers Dan Auerbach von den Black Keys ein furioses Alterswerk gelungen. Derzeit ist er auch Gast der Brooklyn Academy of Music, die drei Wochen lang seinen Beitrag zur amerikanischen Musik feiert.

SZ : Mr. John, 40 Jahre nachdem Sie von Eric Clapton und den Rolling Stones gefeiert wurden, hat Sie jetzt eine neue Generation von Blues-Hipstern entdeckt. Wie kam es zur Zusammenarbeit?

Dr. John : Dan Auerbach kam im vergangenen Jahr nach New Orleans, um mich zu treffen. Am Ende standen wir bei einer Jam-Session zusammen auf der Bühne. Ich kannte ihn nicht, bis mir meine Enkelin eine Platte der Black Keys vorspielte.

SZ: Ich finde, dass „Locked Down“ die beste Dr.-John-Platte der vergangenen drei Jahrzehnte ist. Wie sah die Arbeitsteilung im Studio aus?

Dr. John: Ich habe die Texte geschrieben und dann habe ich mit Dan und der Band an den Sons gearbeitet. Der erste Take, der sich gut anfühlte, landete dann auf dem Album!

SZ: Ihr bluesiger New Orleans Groove passt erstaunlich gut zu verzerrten Gitarren und afrikanischen Bläsern. Haben Sie das erwartet?

Dr. John: Dan Auerbachs Leute waren einfach großartig. Er hatte diesen jungen deutschen Schlagzeuger dabei . . .

SZ: Sie meinen den Münchner Max Weissenfeldt von den Poets of Rhythm?

Dr. John: Ja, und der hatte diese ganzen afrikanischen Rhythmen drauf. Das fühlte sich richtig gut an. Wir saßen im Studio, aßen äthiopisch und hörten uns die ganze Zeit äthiopischen Jazz an.

SZ: Sie spielen auf dem Album diese wunderbar verspukten Grooves auf der Farfisa-Orgel. Haben Sie eine besondere Beziehung zu diesem Instrument?

Dr. John: Ja, ich habe die Farfisa immer gehasst. Das letzte mal habe ich sie 1969 für Doug Sahm gespielt. Aber diesmal klang sie genau richtig. Dan wollte mich nicht Klavier spielen lassen, nur Orgel, Farfisa und Fender-Rhodes.

SZ: Sie haben als Gitarrist angefangen, wurden dann aber Pianist. Warum?

Dr. John: Das war schon 1960. Die Clubs, in denen wir spielten, waren keine familienfreundlichen Orte. Mir wurde in den Finger geschossen, als ich den Kerl aufhalten wollte, der unseren Sänger Ronnie Baron verprügelte.

SZ: Ihr Debüt „Gris-Gris“, das Sie 1968 veröffentlichten, ist eines der einflussreichen Alben der Popgeschichte. Sie verbanden darauf indianische Spiritualität, New Orleans Folklore und psychedelischen Rock. Wie kam es dazu?

Dr. John: Ich habe „Gris Gris“ aufgenommen, um die Kultur meiner Stadt am Leben zu erhalten. Die Melodien auf der Platte hatte ich in den Voodoo-Tempeln gehört. Ich habe nur die Texte verändert.

SZ: Wollte Dan Auerbach den Dr. John von damals wieder aufleben lassen, der sich „The Night Tripper“ nannte?

Dr. John: New Orleans ist ein wunderbar spiritueller Ort, an dem sich afrikanische, christliche, spanische und indianische Einflüsse eine ganz eigene Kultur hervorgebracht haben.

SZ: Sie singen auch auf Ihrem neuen Song „Eleggua“ einen Voodoo-Chant. Was bedeutet Ihnen Voodoo?

Dr. John: Wir sind seit 1970 vom Staat Louisiana offiziell als Kirche anerkannt. Ich habe lange in einem Tempel in Elysian Fields, New Orleans praktiziert.

SZ: In letzter Zeit gehen Sie wieder mit Federschmuck und Regalia als „Night Tripper“ auf die Bühne. So wie in den siebziger Jahren, als Sie mit Ihrer Band wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet wurden.

Dr. John: Das war in St. Louis. Wir hatten einen Mann namens Chickenman mit auf der Bühne. Er opferte ein Huhn. Biss ihm also den Kopf ab, trank das Blut und warf es dann einer Schlange zum Fraß vor. Ein nacktes Mädchen tanzte anschließend mit der Schlange. Für eine Show war das alles doch ziemlich real.

SZ: David Simon, in dessen New-Orleans-Fernsehserie „Treme“ Sie auftreten, bezeichnet Sie als Bibliothek der Kultur, Religion und Musik Ih rer Heimatstadt. Sind Sie damit einverstanden?

Dr. John: Zum Glück bin ich nicht allein: Monk Boudreaux und die ganzen Mardi Gras Indians bewahren unser Erbe. In New Orleans ist alles miteinander verbunden.

SZ: Sie haben sich seit Katrina häufiger politisch geäußert. Soll auch Ihre Musik politischer verstanden werden?

Dr. John: Songs wie „Revolution“ oder „Ice Age“ handeln von einer Realität, über die Politiker nicht gerne reden: Ganze Nachbarschaften wie der Ninth Ward sind zerstört worden. Die Häuser, die Brad Pitt dort bauen lässt, können sich die alten Einwohner sicher nicht leisten. Und unsere Küste leidet immer noch unter der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko. Es gab schon früher Hunderte Lecks, trotzdem bohrten die Öl-Konzerne immer weiter. Es ist nun Aufgabe der Musiker, die Wahrheit in die Welt zu tragen.

SZ: Immerhin sind Brassbands und Mardi Gras Indians aus New Orleans heute fast präsenter als je zuvor.

Dr. John: Unsere Bastard-Kultur ist ein Segen. Man findet den Einfluss von Voodoo überall. In den Trommelrhythmen, dem karibischen Beats, der Spiritualität, selbst im frühen Rock ’n’ Roll.

SZ: Was enthalten eigentlich die Säckchen, die Sie immer um Ihren Hals

tragen?

Dr. John: Da ist 95 Prozent gute Medizin drin. Und 5 Prozent schlechte. Damit du noch den Unterschied merkst.
Interview: Jonathan Fischer
SZ, 3.4.2012

«Amerika führt Krieg gegen sich selbst» – Gesellschafts-Romancier, Ghetto-Chronist, Grossstadt-Anwalt: ein Treffen mit David Simon

Mit der Serie «The Wire» schrieb David Simon Fernsehgeschichte: Die auf seinen Erfahrungen als Polizeireporter fussenden Drehbücher sind Milieustudien, die auch den Zerfall des amerikanischen Gemeinwesens reflektieren. Gegen die Tendenz, diese Phänomene einfach zu verdrängen, kämpft Simon heute noch an.

Es ist zehn Uhr morgens an einem milden Februartag im Lower Garden District: Die Sonne bringt die rosa, hellblau und gelb gestrichenen Holzfassaden der Villen zum Leuchten, Vögel zwitschern, und der Duft blühender Magnolienbäume mischt sich in die Kaffee-Aromen aus den Schwingtüren der Coffee-Shops. An so einem Tag wirkt New Orleans wie ein Versprechen für alle Sinne. Aus der Ferne schwebt der gedämpfte Strahl einer Trompete heran: Gut möglich, dass gleich eine Brassband um die Ecke marschiert, eskortiert von Sonnenschirme schwenkenden Tänzern.

Nur ein halbes Dutzend blinkender Polizeiautos stört das Idyll. Staffage für einen Dreh von David Simons halbdokumentarischer Fernsehserie «Treme» – und eine Erinnerung an die andere, düstere Seite der Grossstadt. Für «Treme» mag die Hafenstadt am Mississippi mit ihrer Küche, ihren Musikern, wilden Bläser-Jams und ausgelassenen Paraden vor allem das sinnliche Herz Amerikas darstellen, ein Beispiel für den Reichtum, den der amerikanische

melting pot

und sein Mix unterschiedlichster Immigranten-Kulturen hervorbringen können. Gleichzeitig aber leidet New Orleans unter denselben Krisensymptomen wie so viele amerikanische Grossstädte: Auch hier drohen Vernachlässigung, Korruption und der «War on Drugs» die Gesellschaft zu spalten, wirkt die Polizei oft genauso kriminell wie die von ihr verfolgten Drogendealer, wird eine wirtschaftlich bedeutungslos gewordene Unterschicht von den Institutionen im Stich gelassen. Das ist David Simons Thema.

Der freie Wille und der freie Markt

Der Schriftsteller, Fernsehautor und Produzent von Fernsehserien wie «Homicide: Life on the Street» und «The Wire» empfängt in seinem Produktionsbüro im dritten Stock eines Flachbaus gleich um die Ecke. «Wir haben eine Stunde.» Simons weicher, offener Gesichtsausdruck scheint so gar nicht zu seiner zwölfjährigen Tätigkeit als Polizeireporter in Baltimore – und den Hunderten von Mordfällen, über die er berichtete – zu passen. Das ist also der Mann, den Kritiker schon den «Balzac unserer Zeit» genannt haben: ein Glatzkopf in Jeans und formlosem Sweatshirt, der sich mit sanfter Stimme von Satz zu Satz tastet, Argumente gegeneinander abwägt. Dass aus der versprochenen Stunde am Ende fast zweieinhalb werden, liegt an der Gründlichkeit, mit der der 51-Jährige jede Frage hin und her dreht – er muss alles zu Ende denken.

Ob er noch an die gesellschaftliche Kraft des Journalismus glaube? «Als junger Journalist, ja! Aber dann lernte ich bei der <Baltimore Sun>, dass nur billige Empörungs-Geschichten gedruckt werden. Oder Storys von Individuen, die sich über alle Widrigkeiten hinwegsetzen. Amerika ist süchtig danach. Ich aber sah eine Tragödie: wie wenig der freie Wille gegen die Kräfte des freien Marktes ausrichten kann.» 1988 zog Simon die Konsequenz. Er nahm sich eine Auszeit, um «Homicide: Life on the Street» zu schreiben, einen Insider-Bericht aus dem Morddezernat der Polizei von Baltimore. Fünf Jahre darauf wechselte er die Seiten. Für «The Corner» beobachtete er ein Jahr lang einen Drogenumschlagplatz im schwarzen Ghetto von West Baltimore, protokollierte die Lebensgeschichten der Anwohner. Nach der deutschen Ausgabe von «Homicide» ist nun auch die Übersetzung von «The Corner» im Kunstmann-Verlag erschienen. Untertitel: «Bericht aus dem dunklen Herzen der amerikanischen Grossstadt».

«Ich wollte endlich die richtigen Fragen stellen: Was bedeutet der <War on Drugs>, was passiert strukturell mit Amerika, warum sind wir zum Land mit der weltweit höchsten Rate von Inhaftierten geworden?» «The Corner» wurde später nicht nur zur Vorlage für eine gleichnamige Fernseh-Miniserie, sondern auch für «The Wire». Simons Mischung aus Sozialreportage und Gesellschaftsroman (vom Bezahlsender HBO zwischen 2002 und 2007 ausgestrahlt) gilt zu Recht als beste TV-Serie aller Zeiten. Weil sie nicht in den Schwarz-Weiss-Klischees von gerechten Cops und bösartigen Drogendealern verharrt, sondern als Milieustudie verschiedene Facetten einer Realität zeigt: von Armut und Drogensucht zerrissene Familien, zynisch gewordene Ordnungshüter, Schulen ohne Perspektive, ignorante Medienmacher und Stadträte, die nur an den eigenen Profit glauben. – Noch desillusionierter als die Serie wirkt das ihr zugrundeliegende Buch. Für «The Corner» wählte Simon zusammen mit seinem Co-Autor, dem Ex-Polizisten Ed Burns, den Ansatz, der sich bei seinen Reportagen bewährt hatte: den Alltag seiner Subjekte zu teilen, ihr Vertrauen zu gewinnen und aus dem Hintergrund zu beobachten. Auf diese Weise entstand ein detailgetreues Bild des «War on Drugs» und seiner Effekte auf ein Quartier in West Baltimore.

Im Zentrum des Berichts steht die Familie McCullough. Der Grossvater hatte eine Anstellung bei der Fabrik, sein ältestes Kind ging zum College. Der amerikanische Traum funktionierte. Noch. Die jüngeren Geschwister aber verloren schon bald ihre Jobs. Der Enkel DeAndre geht kaum noch zur Schule – warum auch, ohne jede Aussicht auf eine Arbeitsstelle? Lieber hängt er mit seinen Kumpels an der Strassenecke ab, um Kokain für zehn Dollar das Röhrchen zu verkaufen. Seine geschiedenen Eltern sind selbst drogenabhängig, die Aufstiegsträume der hart arbeitenden Grosseltern längst beerdigt. Simon hält sich als Autor mit Wertungen zurück. Aus seiner Frustration über die Farce der freien Marktwirtschaft aber macht er kein Hehl: «Ökonomisch gesehen haben wir keine Verwendung mehr für diese Menschen, weil Fabriken und Manufakturen längst nach Asien verlagert wurden. Die Menschen aus West Baltimore braucht niemand. Sie sind Überschuss-Amerikaner.»

Wer wirft den ersten Stein?

Bei der Lektüre wirkt «The Corner» – wie «Homicide» – zuweilen redundant: Die Fülle der Beobachtungen kann erschlagen. Und doch entwickeln Simons Reportagen einen organischen Sog, von den Details hin zur grösseren Perspektive. Der Leser erkennt die Helden des Buchs immer mehr als Opfer einer jahrzehntelangen, systematischen politischen Vernachlässigung. Nur noch Justiz und Polizei interessieren sich für sie – während jede politische Vision, jeder Wille für einen Sozialvertrag mit den Bürgern der Unterschicht zu fehlen scheint. So ist es nur folgerichtig, dass auch das offizielle Wertesystem seine Gültigkeit verliert. Wie soll man denjenigen Moral predigen, die keine Wahl haben? «Nur die Drogenindustrie», erklärt Simon, «stellt noch Arbeitskräfte ein. Da ist es doch ein rationaler Akt, dort anzuheuern. Vor allem aber: Die Jugendlichen bekommen hier einen Wert zugesprochen. Sie sind Teil eines Teams, haben endlich eine Funktion in der Welt.» Hier mit der Illegalität des Tuns zu argumentieren, hält Simon für ähnlich fehlgeleitet wie den Ratschlag an einen Jugendlichen aus einer Bergbaustadt, bloss nicht in den Minen zu arbeiten: «Erzähle ihm, das sei schmutzig, gefährlich und bringe nur einen frühen Tod. Er wird dich anschauen und zur Mine gehen: Sein Vater hat bereits dort gearbeitet, und es ist der einzige verfügbare Job.»

Simon, Kind einer jüdischen Mittelstandsfamilie aus den wohlhabenden Suburbs von Washington, D. C., bezeichnet sich selbst als Produkt des amerikanischen Einwanderer-Traums: Seine osteuropäischen Grosseltern hatten sich aus der Armut und der Kriminalität hochgearbeitet, die die Immigrantenviertel New Yorks einst prägten. Sweat-Shops und Fabriken öffneten der hart arbeitenden Mehrheit eine Tür in die Gesellschaft. Simons Eltern glaubten folglich an ein pluralistisches Amerika: «Es war ein grosser Triumph ihrer Generation, dass sie dem Anderen furchtloser begegnen konnten. Sie brachten mir von klein auf bei: Man muss auch Menschen respektieren, die ungebildeter, ärmer oder von einer anderen Hautfarbe sind als man selbst.» Schwarze Binnenmigranten, die innerhalb Amerikas in die Fabrikstädte zogen, mussten zwar mit weniger Lohn und schlechteren Wohnungen als jüdische, irische oder italienische Einwanderer auskommen. Und doch hegten auch sie berechtigte Hoffnungen: Die schwarze Mittelschicht von heute ist das Produkt der Fabrikarbeit und der hart verdienten Pensionen ihrer Eltern oder Grosseltern.

Im postindustriellen Zeitalter aber bleibt der Aufstieg eine Illusion. Die Inner Cities verkommen zu Abschiebelagern. Wie sollen ihre Bewohner sich noch als Teil eines Amerika fühlen, das sich ihnen als

gated community

entgegenstellt? Simon sieht in der «Verteufelung» ärmerer Einwanderer-Klassen ein Kontinuum der amerikanischen Geschichte: Erst ging es gegen die Chinesen mit ihrem Opium, dann gegen Haschisch rauchende Mexikaner. Aus derselben Logik heraus sei Anfang der 1980er Jahre für den Handel mit Crack-Kokain das hundertfache Strafmass eingeführt worden wie für den Verkauf chemisch gleichwertigen Kokainpulvers. Einziger Unterschied: Crack wird im Ghetto gespritzt, Kokain geschnupft wird in den wohlhabenden Suburbs.

Zweierlei Mass

«Man kann sich», erklärt David Simon, «als Kokain-Konsument und -Dealer aus der gehobenen, für die Service-Industrie wertvollen Vorstadt-Bevölkerung vieles leisten, ohne dass einem die Tür eingetreten wird. Schlimmstenfalls muss man einen Bruchteil der Haftstrafen absitzen, die routinemässig gegen gewaltlose Junkies und Jugendliche aus der Inner City verhängt werden.» Würde der «War on Drugs» wirklich auf den Drogenmarkt zielen, müsste er längst wegen verheerender Bilanzen eingestellt werden: Weder die Zahl der Abhängigen noch diejenige der Dealer sei zurückgegangen, die drakonischen Strafen hätten lediglich bewirkt, dass immer jüngere Kinder als Boten, Händler, Gunmen eingesetzt würden. «In Wirklichkeit ist der <War on Drugs> ein Krieg gegen die Unterschicht.» Simon nennt auch die Profiteure: mit milliardenschweren Steuergeldern alimentierte Strafverfolgungs-Apparate wie auch eine zunehmend privatisierte Gefängnisindustrie.

Ob er nicht auf Reformen von Präsident Obama gehofft habe? Bei dessen Amtsantritt habe er vor Rührung geweint, sagt Simon. Amerika mache als multiethnische Gesellschaft Fortschritte. Nur: Die Armen bleiben dabei unberücksichtigt. Die Regierung gebe immer noch Milliarden für das Wegsperren aus – und kaum etwas für Therapie. Wenn auch Schwarze dieses Prozedere unterstützten, fühle sich der Feldzug moralisch sogar noch besser an: «Die verdammten Armen sollen doch erst mal arbeiten gehen.» Letztlich werde wohl nur ein erzkonservativer Republikaner den «War on Drugs» beenden können. Weil er nicht wie die Liberalen den Kardinalvorwurf amerikanischer Populisten fürchten muss: «soft on crime» zu sein.

Simon hat viele Fernseh- und Literaturpreise gewonnen, sein Gesicht erschien auf den Titelseiten der grössten amerikanischen Zeitungen, seine Landsleute aber, sagt er, seien weitgehend immun gegen Kritik: Als Moralist arbeite er wohl im falschen Medium. Ständig müsse er sich gegen die Fernseh-Logik wehren, dass mehr Blut, mehr Busen und mehr Action ihm bessere Quoten bringen würden. Konservative haben ihn den «wütendsten Mann des US-Fernsehens» getauft. Oder ihn gleich zum Kommunisten und Amerika-Hasser gestempelt – was Simon, einen überzeugten New-Deal-Demokraten, besonders fassungslos macht. «Als ob es unpatriotisch sei, daran zu erinnern, dass wir eine Gefängnis-Nation sind und die Ermordung Hunderttausender diesseits und jenseits der mexikanischen Grenze als Begleiterscheinung des <War on Drugs> in Kauf nehmen.»

Liebe, trotz allem

Ab welcher Opferzahl man das Ganze denn endlich beim Namen nennen dürfe? Als – ja, er kenne als Jude die Monstrosität des Wortes – «schleichender Holocaust»? Simon hebt nicht einmal die Stimme. Nein, Provokation sei nicht seine Absicht. Vielmehr treibe ihn eine grosse Liebe an: «Ich erinnere mich, wie ich, als meine Eltern mit mir aus dem Vorort in die Stadt fuhren, mein Gesicht an die Autoscheibe presste und dachte: Mein Gott, wie viel mehr Leben an diesem Ort ist!» Durch das offene Fenster dringt ein Bläserriff. David Simon legt den Kopf schief. Seufzt. «Jazz, Amerikas grösstes Geschenk an die Welt. In New Orleans kannst du jeden Tag erleben, wie eine Gemeinschaft auf der Strasse, in ihrem Essen, ihrem Gesang und Tanz Neues erschafft. Unsere Grossstädte, die eine Kultur von solch unfassbarer Schönheit hervorgebracht haben: Wollen wir sie wirklich zugrunde gehen lassen?»
NZZ 2.4.2012
JONATHAN FISCHER

David Simon: Homicide. Ein Jahr auf mörderischen Strassen. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel, Barbara Steckhan, Thomas Wollermann. Kunstmann-Verlag, München 2011. 832 S., Fr. 35.50.

David Simon und Ed Burns: The Corner. Bericht aus dem dunklen Herzen der amerikanischen Stadt. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel, Barbara Steckhan, Thomas Wollermann. Kunstmann-Verlag, München 2012. 800 S., Fr. 35.50.