Monatsarchiv: Mai 2014

BERICHTE AUS DER VORHÖLLE: Das südafrikanische Hip-Hop-Trio Ill Skillz kombiniert klassische Beats mit Township-Realismus

 

«Notes From The Native Yards» heisst das neue Album von Ill Skillz. Unterstützt von DJ Intelligent Design, thematisieren die südafrikanischen Rapper Jimmy Flexx und Uno July das Ghetto Guguletu, wo sie aufgewachsen sind.

Kneift man die Augen zusammen, kann Guguletu tatsächlich ein wenig an South Central Los Angeles erinnern: Staubige Strassen ziehen sich durch scheinbar endlose Gittermuster symmetrischer Flachbauten. Die Mauern sind mit Gang-Graffiti beschmiert. Arbeitslose Männer sitzen auf den Stufen ihrer Häuser, grosse Bierflaschen in der Hand. Und an jeder Strassenecke lungern Jugendliche in überweiten Hip-Hop-Uniformen. «Alle Ghettos in der Welt sind doch irgendwie miteinander verbunden», sagt Sitole alias Jimmy Flexx, der hier in der schwarzen «Vorhölle von Kapstadt» aufgewachsen ist. «Wir schwarzen Südafrikaner haben uns von Anfang an mit Hip-Hop identifiziert», sagt sein Rap-Partner Uno July. «Wir haben die CD und Platten verschlungen, die uns Verwandte aus Amerika mitbrachten. Weil sie das Leben, die Gedanken und Hoffnungen von Menschen im Abseits spiegelten.»

Erschreckende Armut

Abseits: Bei näherem Hinsehen verkörpert Guguletu dieses Wort noch besser als jedes amerikanische Ghetto. Hierher wurden im Rahmen der Rassentrennung nach der «Group Act» des Apartheidregimes in den fünfziger Jahren Tausende Schwarze zwangsumgesiedelt. Die Armut ist erschreckend. Zwischendrin aus Sperrholz, Blech und Plasticplanen gebaute Squattersiedlungen. Eine aufgegebene Stadt, deren Grenzen oft noch die alten Strassenschilder aus den Zeiten der Apartheid markieren: NY, dann eine Nummer. Das hat nichts mit New York zu tun – es bedeutet «Native Yards». Einheimischen-Reservate.

«Notes From The Native Yards»: So haben Jimmy Flexx und Uno, zusammen als Rap-Duo Ill Skillz unterwegs, ihr neues Album genannt. Schon immer haben die Südafrikaner – angefangen beim Jazz der dreissiger Jahre über den Soul der sechziger bis zur House-Music der achtziger Jahre – die Musik ihrer afroamerikanischen Leidensgenossen imitiert, auch weil Schwarze in Cape Town und Teilen Amerikas ähnliche kulturelle und politische Marginalisierungen und Kolonisations-Prozesse durchlebt haben. Und stellt Hip-Hop nicht wie alle afroamerikanische Musik einen universellen Akt des Widerstands dar? So sehen es zumindest die beiden Rapper von Ill Skillz. Ihr klassischer Beat holt sich Afrika aus New York zurück. KRS-One, Rakim, Nas – man kann die Helden der Südafrikaner sehr deutlich aus ihrer Musik heraushören. Die Single «To The Beat Y’All» sampelt gar den Chicagoer Common.

Trotzdem konnte ein Album wie «Notes From The Native Yards» nur in Südafrika entstehen. Das fängt schon beim Cover an: Zwei in naiver Façon gemalte Rapper mit Mikro, Reimbuch, Kassettenrekorder stecken bis zur Brust im Boden. Die Kleidung mag Hip-Hop-Standard sein. Ihre Gesichter aber haben die beiden hinter bunten Masken verborgen. Traditionelle Holzmasken, wie sie ihre Ethnie, die Xhosa, seit Jahrhunderten zu rituellen Tänzen trägt. Für die vom US-Mainstream infizierte südafrikanische Hip-Hop-Szene eine Provokation. «Die Menschen hier», sagt Uno, «werden mit Videos aus Amerika bombardiert. Nigger this, nigger that . . . Lächerlich, wenn Südafrikaner jeden Hip-Hop-Modetrend aufgreifen! Wir glauben, dass Künstler einen Ankerpunkt brauchen, von dem aus sie mit Autorität sprechen können.»

Ill Skillz‘ Ankerpunkt ist Guguletu. Der Ort, wo sie aufwuchsen, ihre Freunde haben, tanzen und sich durchzubeissen lernten und wohin Uno nach einem Zwischenspiel in der City zurückgekehrt ist. Es ist acht Jahre her, dass Jimmy Flexx und Uno ihre erste EP, «Another Day Another Rhyme», herausbrachten. Die Beats hatten sie da noch selbst produziert. Und für die sozialkritischen Lyrics fanden sie Vorbilder bei den Pionieren der örtlichen Rap-Szene wie Prophets Of Da City. Dass sie auf Englisch rappen würden – das war für sie von Anfang an keine Frage. Sie wollen nicht nur von Xhosa, sondern auch von Zulus, San oder Weissen verstanden werden. Politik fängt in Südafrika mit der Sprachwahl an. Uno hatte auf der weiterführenden Schule seine Hip-Hop-Begeisterung mit weissen Kumpels geteilt und beschlossen, dem Rest der Welt vom Leben in den Cape Flats zu berichten. Selbst viele Südafrikaner würden Paris und London besser kennen als ihre eigenen Townships.

«Unser Song ‹7750 Bottle Kop›», sagt Uno, «erinnert an die Gangsterkriege, die sich hier vor 15 Jahren abspielten. Einige identifizierten sich mit der Ostküste und Biggie. Andere mit Tupac und der Westküste. Am Ende haben sie tatsächlich aufeinander geschossen. Ich war damals erst zehn Jahre alt. Aber mein 17-jähriger Onkel wurde regelrecht hingerichtet.»

Studenten und Kleinkriminelle

Während sein Partner Sitole mit den Kleinkriminellen in der Township abhing, zog es Uno in die Studenten-Klubs von Kapstadt. Dort lernte er das zukünftige dritte Bandmitglied kennen: den aus den Vereinigten Staaten kommenden weissen DJ Intelligent Design. Er perfektionierte den Sound von Ill Skillz. Verbaute den südafrikanischen Jazz, den die beiden Rapper bisweilen mit Live-Musikern auf die Bühne brachten, so geschickt in die Beats, wie man es sonst nur von US-Avantgardisten wie Madlib kennt. Ill Skillz‘ Ruf reichte bald weit über die Townships hinaus: Die Band trat auf dem renommierten Cape Town International Jazz Festival auf, gab Gastspiele in Johannesburg und London und trat im Vorprogramm amerikanischer Acts wie Mos Def auf.

Ihre Kreativität beschränkte sich nicht auf Musik: Mit minimalen Mitteln produzierten sie herausragende Videos. Und machten nebenbei als Botschafter für die lokale Urban Wear von Head Honcho von sich reden. Doch lokaler Hip-Hop tat sich erst einmal schwer. Nach der Unabhängigkeit dominierte Kwaito den Markt. Gangster-Klone und Party-Einpeitscher lieferten zu verlangsamten House-Beats die Parolen des jungen optimistischen Südafrika. Hauptsache laut, Hauptsache tanzbar. Klassische Hip-Hopper galten dagegen lange als Nerds. Erst als sich die Party legte, der Enthusiasmus über die Rainbow-Nation den nach wie vor bitteren Alltagsrealitäten wich, wuchs Hip-Hop zur Massenbewegung, wurden die Stimmen der Rapper gehört: als diejenigen, die – um mit dem Soziologen George Lipsitz zu sprechen – «die wirklichen und vorgestellten Beziehungen zwischen Menschen in der postindustriellen Wirklichkeit von Entfremdung, Desillusionierung und Verzweiflung kartieren».

Rückbesinnung

Zeit für eine Rückbesinnung: Ill Skillz haben einige ihrer alten Partner aus Guguletu für ihr neues Album geholt. Und erinnern sich an die Apartheid-Zeiten: «It’s kinda hard to be a black man in Cape Town / racing against the racist regime and not just playground / I’m just on a hustle to make my mama proud?» Im dazugehörigen Video spazieren die Rapper über Strassen und Basketballplätze von Guguletu, besuchen Orte, wo sie einst ihre ersten Hip-Hop-Jams gaben. Persönliche Erinnerungen, ja. Aber das Persönliche ist bei Ill Skillz immer auch politisch. Und in die Ghetto-Nostalgie mischen sich ganz unromantische Beobachtungen. Etwa über Flaschenköpfe. «Die Menschen benutzen sie entweder als Waffen oder um Mandrax zu rauchen», sagt Sitole. Mandrax, synthetisches Rauschgift, sei heute eines der grössten Probleme der Cape Flats. Und verantwortlich für die höchste Mordrate Südafrikas. Armut, Drogen, Alkohol und Gewalt hingen zusammen. Aber wen könne man dafür verantwortlich machen? «Wir haben erst seit 20 Jahren eine Demokratie und müssen mit den wirtschaftlichen und psychologischen Folgen von 300 Jahren Apartheid zurande kommen: Die Regierung kann nicht alles lösen. Deshalb erinnern wir die Menschen daran, dass sie jeden Tag selber die Wahl haben – unsere Botschaft ist grösser als Hip-Hop.»

JONATHAN FISCHER

NZZ 25.5.2014

BAMAKO BLUES Tagsüber wirkt Malis Hauptstadt eher träge. Nachts dreht sie mit schmutzigem, scharfem Sound auf

Krokodil-Tümpel. Das bedeutet Bamako in der lokalen Sprache Bambara. Das Wappentier passt auch metaphorisch – zumindest was die täuschende Trägheit der Niger-Metropole angeht. Als der berühmte schottische Afrika-Forscher Mungo Park die Ufersiedlung 1806 erstmals kartografierte, war sie noch ein kleines Fischerdorf. Ein gutes Jahrhundert später machten die französischen Kolonialherren Bamako zur Hauptstadt Malis. Heute ist die Zwei-Millionen-Stadt die am schnellsten wachsende Metropole Afrikas. Nur: Als Besucher merkt man kaum etwas davon. Denn tagsüber umgibt sich Bamako – ganz wie die am Niger-Ufer dösenden Krokodile – mit einer Aura von Schläfrigkeit.
Alles läuft hier etwas gemächlicher: In bunte Tücher gehüllte Frauen schlurfen aufreizend langsam ihren Besorgungen entgegen. Moped-Trauben gleiten schlafwandlerisch sicher über ungeregelte Kreuzungen. Eselgespanne zuckeln durch den roten Staub. Ja, selbst die Händler auf den Freiluft-Märkten scheinen hier gerade so viel zu schreien wie nötig. Zeichen der wirtschaftlichen Depression nach eineinhalb Jahren Krieg im Norden? Nein, Bamako hatte schon immer seinen eigenen Rhythmus. Der Tag ist hier ein langer, friedlicher Fluss. Man braucht die Kraft noch für die Abendstunden. Erst wenn der Mond über dem Niger leuchtet, wacht das Krokodil auf, beginnt in der Stadt das eigentliche Leben.
„Das musikalische Herz dieser Stadt“, sagt Bourama Sidibe, „hat niemals aufgehört zu schlagen. Ganz im Gegenteil: Wir haben heute mehr Live-Clubs als vor dem Bürgerkrieg.“ Sidibe, dessen massive Oberarme noch den einstigen malischen Meister im Nationalsport Armdrücken verraten, hat sich heute darauf spezialisiert, Besucher durch die tönende Schatzkammer seiner Stadt zu führen. Denn auch wenn von Reisen in den Norden abgeraten wird: Der Süden Malis und besonders Bamako bleibt für Touristen unbedenklich.
Allein die Musik lohnt den Weg: Damon Albarn, Taj Mahal und Manu Chao sind nur einige der Popstars, die zuletzt in diese Stadt kamen, in der jahrhundertealte afrikanische Traditionen ein selbstverständliches Eigenleben führen. Nirgendwo in Afrika trifft man eine aufregendere Fusion lokaler Fula-, Wassulu-, Bambara-, oder Tuareg-Kulturen mit westlichem Pop. Um zehn Uhr abends steht Sidibe mit einem verbeulten Mercedes-Taxi vor der Hoteltür. „Wir können noch etwas essen gehen. Die Shows fangen erst spät an“. Gegen Mitternacht rollen wir mit offenen Fenstern die Koulikoro Road entlang. Links und rechts der vierspurigen Ausfallstraße haben in den vergangenen Monaten viele neue Clubs eröffnet, Fetzen von flirrenden Gitarren, Ngoni-Lauten, Trommeln, Raps und Bluesgesänge dringen an die Ohren. Wer den Klangfäden folgt, gelangt selten zu einem Club mit Eingangsbeleuchtung und Getränkekarte. Aber fast immer zu einer musikalischen Offenbarung.
Vor dem Eingang des Club 33 reihen sich Hunderte Mopeds. Der Eintritt kostet umgerechnet einen Euro. Keine Lightshow, kein Video, nur: Musik. Ein Sound, so schmutzig und scharfzahnig wie ein Niger-Krokodil. Unter einem Blechdach wird Bier serviert, die Bühne und die Plastiktische und Stühle aber befinden sich unter freiem Himmel. Nur zwei, drei Neonröhren erhellen den Innenhof. Die Schwüle ist erdrückend. Es riecht nach billigem Parfüm und Benzin. Anderswo würde man so einen Ort nicht mal mit Taschenlampe und Leibwächter besuchen. In Bamako ist das anders. Sidibe sperrt sogar sein Auto nicht ab. „Hier wird kaum geklaut. Die Menschen vor und in den Clubs passen aufeinander auf.“ Nach dem ersten kalten Castel-Bier fällt jede Spannung ab: überall lächelnde Gesichter. Freundlich erwiderte Bambara-Begrüßungen. Sobald Issa Bambas Band den ersten Blues-Akkord anschlägt, lassen die Gäste – Herren im Anzug und Damen in festlichen afrikanischen Stoffen – ihre Bierflaschen stehen, drehen sich immer mehr selbstvergessene Paare über den Lehmboden. Die bluesigen E-Gitarren und der lose, kreiselnde Groove strahlen eine sehr malische Lässigkeit aus. Darüber die Melismen von Sänger Issa Bamba. Melodien, wie sie zwischen Sahara und Niger schon gesungen wurden, als Pop noch ein Fremdwort war. Eine süchtig machende Mischung aus Wehmut und Stolz.
Gegenüber der Pforte des Duplex Clubs kann man dem Kommen und Gehen der Nachtschwärmer zusehen. Frauen und Männer, die in bunten wallenden Gewändern von ihren Mofas steigen, sich ein letztes Mal Frisur und Kleider richten, bevor sie auf die Bühne des Nachtlebens treten. Doch erst um ein Uhr nachts füllen sich all die Polstersesselecken in dem niedrigen, violett erleuchteten Kellerklub. Eine junge Sängerin im weißen Abendkleid übernimmt das Mikrofon. Eine von Hunderten, die den großen malischen Bluesdiven Oumou Sangare oder Nahawa Doumbia nacheifert. Ihre Besonderheit ist die Tanztruppe mit einem kleinwüchsigen, akrobatischen Breakdancer. Mindestens genauso wichtig: Die Selbstdarstellung der Gäste. Dafür sorgen die vielen ambulanten Fotografen. Malick Sidibes’ weltberühmte Schwarz-Weiß-Bilder aus dem Klubleben Bamakos der 1960er Jahre fingen damals den Optimismus einer Jugend ein, die sich mit den westlichen Pop-Insignien aufrüstete. Heute wirkt die Kleidermode der Klub-Besucher sehr viel traditionell afrikanischer. Auf der Treppe in den Keller posieren sie für den Fotografen. Eine Hand um den Partner gelegt, in der anderen das teure Handy. Auch im benachbarten Club Obama Balafon trifft man eine ähnliche Mischung aus buntem Stoff, afrikanischer Nonchalance und Global Chic. Zwei Rapper ballern unter dem Konterfei des amerikanischen Präsidenten ihre Bamana-Sprechgesänge, während Gruppen von Jugendlichen Shishas rauchen und sich über ihre iPhones beugen. Ein Klub, den man sich auch gut in Istanbul oder Berlin vorstellen könnte. Bis man wieder vor der Tür steht und einem die schlafenden Ziegenherden am Straßenrand ins Auge fallen.
Sidibe lenkt seinen Mercedes durch das nächtliche Bamako Richtung Süden, passiert die Brücke über das schwarze breite Band des Niger. Schlafende Bettelkinder und unbeleuchtete Laster säumen die Straße. Aus dem Radio dringt quirliges Balafon-Geklöppel: „Ben Zabo“, erklärt der Guide, „ist der junge Rockstar Malis.“ Wir wollen zu seinem wöchentlichen Auftritt in Niamakoro nahe des Flughafens, im Klub Radio Libre. Vor der Tür hocken Wachmänner und Taxifahrer um ein Stövchen mit glühenden Kohlen – Teil der malischen Teezeremonie. Bon soir Monsieur! Ein Glas gefällig? Warum auch nicht? Der stark gesüßte, schäumende Grüntee hält wach. Und die Nacht in Bamako ist lang. Der aus der Elfenbeinküste stammende Reggae-Sänger Tiken Jah Fakoly begrüßt die Gäste persönlich in seinem Laden, in dessen Obergeschoss er ein eigenes Tonstudio betreibt. Jeden Freitag und Samstag stehen Fakoly selbst oder Nachwuchs-Musiker auf der Bühne des in den Reggae-Farben grün-gelb-rot gestrichenen Hauses. Das polyrhythmische Stakkato von Ben Zabos Band heißt uns hämmernd willkommen. In grüner Armeejacke und umgehängter E-Gitarre steht der schmale Sänger auf der Bühne, seine Truppe jagt eine schweißtreibende Mischung aus uralten Balafon-Melodien, Fela Kuti und James Brown durch die Boxen. Jeder kennt hier Hits wie „Wari Vo“ oder „Cinquentennaire“. Und auch wenn sie in der Sprache des kleinen Volkes der Bo gehalten sind, kommt ihre politische Botschaft an: „Die Reichen feiern mit Champagner, während die jungen Malier keine Arbeit finden.“
Die Reichen: Man trifft sie in westlich designten und klimatisierten Klubs wie dem Bla Bla an der Rue Princesse, wo sie ihre teuren Uhren, Handys und Freundinnen vorführen. „Hier kannst du erfolgreiche Geschäftsleute kennenlernen“, witzelt Sidibe. „Oder malische Frauen, die diese gerne heiraten würden.“ In den Discos auf der anderen Straßenseite dröhnt ein Mix aus Jennifer Lopez, Bruno Mars und Salif Keita. Wer angelockt von der Longdrink-Karte zur strohgedeckten, offenen Bar La Terrasse im Obergeschoss aufsteigt, passiert dort erst einmal ein paar Tische mit offenherzigen jungen Damen auf der Suche nach Begleitung. Das kann verwirren: Ist Mali nicht ein zutiefst islamisch geprägtes Land, wo sich Frauen tagsüber keusch bedecken und beim Ruf des Muezzin am Straßenrand die Gebetsmatten entrollt werden? Einerseits. Andererseits stört sich hier kaum jemand an Prostitution, Alkoholkonsum und Nachtklubs mit angehängtem Bordell. „Wir Malier pflegen eine Kultur des Leben-und-leben-Lassens“, erklärt Sidibe. Nur ein paar hundert Meter von den Luxus-Enklaven der Rue Princesse trifft sich der ärmere Teil Bamakos zum nächtlichen Rendezvous. Sidibe zögert ein wenig, bevor er den mit auffälligen „Bavaria-Beer“-Reklame bemalten Schuppen namens Club Africaine betritt: „Zu billig für Touristen.“ Zu billig. Das bedeutet abgerissene junge Männer, die sich vor wackelnden Fernsehbildern an ihren Bierflaschen festhalten. Das bedeutet Selbstgebranntes an der Bar. Einen aufblasbaren Schwan als einzige Dekoration. Und nigerianische Prostituierte, die ihre Dienste für umgerechnet drei Euro anbieten. „Hier bekommst du alles, was ein Muslim meiden sollte“, sagt Sidibe und lässt seinen Freund, den Barmann, einen großen Karton mit ausgekochten Schweineköpfen unter der Theke hervorzerren. Es riecht streng an diesem Ufer des Krokodil-Tümpels.
Draußen aber ist die Tropenluft elektrisch geladen. Vollgesogen mit Musik, die sie nun bis zum Sonnenaufgang auf die Stadt niederregnen lässt. Am Club Maquis gleich um die Ecke ist ein weltbekannter Kora-Spieler angekündigt: Toumani Diabaté. Doch die Tische und Stühle sind bei unserer Ankunft leer, der Meister sei leider wegen einer Europatournee verhindert. Wir entscheiden uns, stattdessen den Bluesklängen zu folgen, die aus einer ungeteerten Seitenstraße kommen. Allein die Scheinwerfer der an- und abfahrenden Autos erleuchten den Club Baobab. Es duftet nach gegrilltem Capitaine-Fisch. Und die Band pluckert  im Dunkeln. Der Sound von sechs Ngoni-Lauten lässt an einen Juke Joint im Mississippi Delta der dreißiger Jahre denken. War der Blues nicht sowieso einst aus der Subsahara gekommen? Zur fülligen Sängerin mit dem Turban und den Goldkreolen hat sich eine Gruppe von Frauen in traditionellen Damast-Tüchern gesellt, alle schreiten mit synchronem Hüftschwung im Kreis. Eine Endlosschleife. Ein Song ohne Anfang und Ende. Doch das ist es ja gerade: Diese euphorische, tranceartige Selbstvergessenheit. In Mali schafft eine Akustikband, wozu man in Europa Techno-Raves benötigt. Leben im Krokodilbecken! Am Ende sind alle auf den Beinen.
„Unsere Kultur hat ein unermessliches Reservoir an Rhythmen und Melodien“, erklärt Bandleader Madou Kouyate, Nachfahre eines bekannten Griots. „Aber ich spiele die alten Songs nicht wie mein Vater oder mein Großvater. Sondern bringe moderne Ideen hinein.“ Es ist weit nach Mitternacht. Doch die Musiker werden kaum Rast finden. Sonntagmittag, am traditionellen Hochzeitstag in Bamako, wartet schon der nächste Auftritt. Das Fest findet auf einer abgesperrten Straße statt. „Alle Passanten sind willkommen“, sagt Kouyate, bis morgen, „a demain.“

JONATHAN FISCHER

SZ 15.5.2014

«Hoffnung – darum dreht sich doch alles» Der senegalesische Hip-Hop-Star Gunman Xuman über Migration, die wirtschaftliche Ausbeutung und die Zugkraft des Islam

 

Gunman Xuman gilt als einer der einflussreichsten Rapper Westafrikas. In den 1990er Jahren gehörte er mit seiner Band Pee Froiss zu den Pionieren des senegalesischen Hip-Hop. Seine letzten Alben hat der engagierte Musiker unter eigenem Namen eingespielt.

Wir hören in Europa Woche für Woche Nachrichten über ertrunkene oder aus der Seenot gerettete afrikanische Migranten. Sie leben in Yoff, einem Viertel von Dakar, aus dem sich in den letzten Jahren Tausende als Bootsflüchtlinge Richtung Europa aufgemacht haben.

Ja, hier kennt jeder einen in seiner Familie oder bei den Nachbarn, der auf der Überfahrt gestorben ist. In den letzten zehn Jahren haben über 60 000 Afrikaner versucht, mit Pirogen nach Europa zu gelangen. Jeder Zehnte ist bei dem Versuch ertrunken.

Wie stehen Sie zu dieser Massenflucht?

Wir Rapper haben versucht, die Leute von der Überfahrt abzuhalten und sie dafür zu gewinnen, vor Ort für Veränderungen zu kämpfen. In meinen Raps habe ich gefragt: Willst du als Illegaler oder Kleinkrimineller in Europa enden? Ist das wirklich deine letzte Chance? Heute ist mir bewusst, dass das reichlich naiv war.

Erklären Sie das bitte genauer!

Wie will man jemanden zum Hierbleiben überreden, wenn er tagtäglich miterlebt, wie korrupte Politiker sich die grössten Paläste bauen, ihm aber nicht einmal die Hoffnung bleibt, genug Geld zu verdienen, um jemals eine Heirat oder gar eine eigene Familie zu finanzieren? Hoffnung – darum dreht sich doch alles. Selbst mit einem Universitätsstudium hat man in Dakar kaum Chancen auf einen vernünftigen Job. Viele Migranten sind tatsächlich gut ausgebildete Akademiker. Und haben Sie all die Gymnastik treibenden Jugendlichen am Strand gesehen? Sie trainieren, um einmal Profi-Ringer zu werden, das ist für sie das einzig sichtbare Erfolgsmodell. Immerhin verdienen Ringer in Senegal ein paar tausend Euro pro Kampf.

Und die Rapper? Immerhin gelten senegalesische Hip-Hop-Stars wie Sie als Wortführer der heimischen Jugend.

Wir werden nicht reich, aber wir haben politisches Gewicht. Unser Einfluss und unsere Art zu rappen strahlen inzwischen auf ganz Afrika ab. Überall, wo um demokratische Errungenschaften gekämpft wird – ob in Mali, Ghana, Burkina Faso –, stehen Rapper an vorderster Front. Als im Juni 2011 Hunderttausende gegen die verfassungswidrige Kandidatur unseres Ex-Präsidenten Wade auf die Strasse gingen, reagierte die Polizei, indem sie eine Gruppe bekannter Rapper auf der Strasse zusammenschlug und inhaftierte. Das zeigt, wie viel Angst sie vor uns haben. Am Ende aber haben sie die Rapper so nur noch populärer gemacht.

Im Westen werden afrikanische Rapper oft zu Nachfahren der Griots stilisiert, der traditionellen Geschichtenerzähler Westafrikas.

Was für ein Unfug! Die Griots werden von den Mächtigen bezahlt, um Loblieder auf sie zu singen. Dafür würde sich kein Rapper hergeben. Unsere einzige Gemeinsamkeit mit den Griots liegt in der Schiedsrichterrolle. Sie haben früher in den Dörfern bei Streitigkeiten zwischen verschiedenen Familien geschlichtet. Wir Rapper verstehen uns als Beobachter der politischen Prozesse.

Sie kritisieren in Ihren Raps immer wieder den Einfluss des Westens. Aber profitieren westafrikanische Jugendliche nicht von westlichen Investitionen und dem wirtschaftlichen Austausch mit Europa?

Die Rückkehrer aus dem Westen, die sich hier mit bescheidenem Kapital eigene Unternehmen aufbauen, beflügeln unsere Wirtschaft. Aber hilft Europa uns? Die einfachen Afrikaner profitieren kaum vom Abbau von Öl, Diamanten, Gold durch westliche Gesellschaften. Vielmehr haben unsere Bauern wegen der von der Weltbank diktierten Aufhebung aller Handelsgrenzen keine Chance mehr. Der ganze Markt wird von Dumping-Ware aus Amerika, Europa und China überschwemmt. Besonders leiden die Fischer. Sie können mit ihren Erträgen kaum noch ihre Familien ernähren, weil ausländische Fangflotten unsere Küstengewässer leer fischen. Wen wundert es, wenn viele Jugendliche lieber das Risiko, auf der Flucht zu ertrinken, auf sich nehmen, als hier in Elend zu ersticken?

Zumindest versucht die neue Regierung Macky Sall neue, gerechtere Fischereiverträge auszuhandeln. Zudem erhält die senegalesische Regierung Millionen von EU-Geldern, um das Flüchtlingsproblem vor Ort in den Griff zu bekommen.

Das stimmt, aber das Geld ist in der Vergangenheit in den falschen Taschen gelandet. Zwanzig Euro Empfangsgeld für jeden zurückgeführten Flüchtling – viel mehr ist nicht passiert.

In Amerika wird Hip-Hop oft als Vehikel materialistischer Phantasien genutzt. Die senegalesischen Rapper scheinen immun dagegen?

Wir haben hier eine Kultur der Höflichkeit. Es gilt als Beleidigung der Zuhörer, damit anzugeben, was für ein Auto du hast und in welche teuren Klubs du gehst. Und dann hast du auch noch all deine Freunde und Verwandten auf dem Hals. Denn die Hälfte deines Reichtums musst du teilen. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz.

Welche Rolle spielt die Religion in Ihrer Musik?

Der Islam schreibt uns vor, bescheiden zu bleiben. Wie die meisten senegalesischen Rapper bin ich ein gläubiger Muslim – und respektiere die Werte meiner Religion. Ihr Einfluss in der Gesellschaft wächst. Mehr und mehr junge Leute wenden sich den sufistisch-muslimischen Bruderschaften wie etwa den Mouriden zu. Ihnen geht es nicht um den Jihad, sondern um die Suche nach sich selbst. Auch viele Rapper lassen sich von Marabouts, islamischen Gelehrten, initiieren – und verbreiten deren Lehren anschliessend in ihren Raps.

Sie sprechen von der Anziehungskraft der islamischen Religion für die Jugendlichen: Welche Alternative bietet sie?

Je mehr wir dem westlichen Lebensstil mit seiner sexuellen Freizügigkeit, Drogen und Materialismus ausgesetzt sind, umso mehr wird klar, was wir zu verlieren haben. Wir propagieren Werte der Gemeinschaft gegen Selbstsucht und Korruption. Ich halte den Islam für die toleranteste Religion der Welt. Alles dreht sich um Versöhnung. Es ist bezeichnend, dass Malcolm X seine Feindschaft gegen die Weissen aufgab, nachdem er in Mekka die Brüderlichkeit aller Rassen erlebt hatte.

Trotzdem wird in senegalesischen Raptexten oft gegen Schwule gehetzt.

Schwule waren früher gerne gesehene Tänzer auf den Sabar- oder Trommel-Partys. Heute haben viele Angst vor deren vermeintlich westlicher Dekadenz. Andererseits habe ich von südafrikanischen Moscheen gelesen, die Schwule explizit willkommen heissen. Unsere Gesellschaft in Senegal ist eben noch nicht so weit.

Sie fühlen sich als Panafrikaner, arbeiten mit Rappern in Mali, Burkina Faso und Côte d’Ivoire zusammen . . .

Ich rappe in einem Song namens «Bamako»: «Wenn das Haus unseres Nachbarn brennt / sind wir verpflichtet zu helfen.» Das heisst, wir dürfen nicht auf Hilfe aus Frankreich oder Amerika warten. Denn die städtische Jugend in ganz Afrika hat gemeinsame Anliegen: Mitsprache in der Politik, Kontrolle der korrupten Clans, Recht auf Arbeit. Wer keine Chance bekommt, träumt nur noch vom Visum nach Europa.

Welche Hilfe erwarten die jungen Menschen in Senegal und Westafrika von den Europäern?

Ich bete fünfmal am Tag – und bitte Gott um Weisheit und Mitgefühl für die europäischen Regierungen. Warum geben sie nach 9/11 selbst wohlhabenden und gebildeten Muslimen kaum noch Visa? Warum bezahlen sie Länder wie Marokko und Libyen dafür, dass sie Migranten in Gefängnisse stecken oder in der Wüste aussetzen? Welchen Anteil der Gewinne aus afrikanischen Bodenschätzen werden in die Menschen vor Ort investiert? Wenn sich an den politischen Rahmenbedingungen nichts ändert, werden weiterhin jeden Tag Hunderte Afrikaner in Nussschalen auf dem Meer Richtung Europa treiben.

Interview: JONATHAN FISCHER

NZZ 25.4.2014