Monatsarchiv: Oktober 2020

Energielieferant für Krisengebiete

Torsten und Aida Schreiber versorgen mit ihrer Firma Africa Greentec Dörfer in der Sahelzone mit Strom. Das Ehepaar sieht darin auch ein Mittel, um Armut und Flucht zu bekämpfen.

Fernsehbilder von Africa Greentecs Arbeit zeigen schwer beladene Sattelschlepper über eine Lehmpiste rollen – rötliche Staubfahnen wirbeln auf, der rot-gelb-grün lackierte Container reflektiert die Sonne. Eine sogenannter „Solartainer“ auf dem Weg durch die Halbwüste Westafrikas. In der tonnenschweren Metallkiste befindet sich eine Menge deutscher Solar-Technik, die ein abgelegenes Dorf in der Sahelzone elektrifizieren wird. Auf den Weg geschickt hat sie Torsten Schreiber, dessen Unternehmen Africa Greentec in den letzten vier Jahren bereits mehr als 100 000 Menschen in der Sahelzone Licht und Strom gebracht hat.

Singende Frauen erwarten bereits den Konvoi. Die Dorfältesten haben Verträge mit Africa Greentec unterschrieben, auf dem örtlichen Markt werden zusätzliche Kunden angeworben. Etwa Händler, die mit einem Kühlschrank Lebensmittel oder Medikamente frisch halten wollen, ein Restaurant, das eine Nachtbeleuchtung braucht oder ein Schmied, der einen Dynamo betreiben will. Nur 24 Stunden später – nach Montage, Wartung und Ausklappen der Sonnenpaneele – kommt endlich der große Moment. Der örtliche Techniker legt den Sicherungsschalter um. Gleißendes Licht erhellt den gerade noch stockfinsteren Dorfplatz. Hunderte Dorfbewohner tanzen ausgelassen um das Ehepaar Torsten und Aida Schreiber, die Gründer von Africa Greentec. 

„Es sind diese Momente, die uns motivieren, weiterzumachen“. sagt Schreiber, bullige Figur, schulterlanges Haar, sauber gestutzter Bart.  Der hessische Unternehmer spricht per Videokonferenz aus seinem Büro in einer Fabrikhalle in Hainburg – gleich nebenan montieren Techniker von Africa Greentec Prototypen der Solaranlagen. Auf seinem schwarzen T-Shirt steht „Unfuck The World“. Tatsächlich versteht er sich weniger als Techniker denn Motivationsexperte. „Man darf angesichts des Klimawandels nicht nur jammern. Sondern muss etwas tun. Deshalb unser Hashtag Nixblabla#“. Verschmitztes Lächeln, Schreibers rundes Gesicht leuchtet.  Man ahnt, dass der 48-jährige andere Menschen mitzureißen vermag.

21 Dörfer hat Schreibers deutsch-malische Unternehmen im Niger und Mali bereits elektrifiziert. 50 weitere Solartainer sind bereits in Auftrag. Immerhin hat der Sahel Sonne im Überfluss. Dennoch ist Schreibers Solarstrom-Firma der einzige deutsche Investor in einem Gebiet von der Größe halb Europas. Zu arm die Region, zu instabil, zu gefährlich. Seit Jahren machen Ableger von Al Quaida und IS den Sahel unsicher, Sprengfallen und dschihadistische Attentate sind an der Tagesordnung. Ein No-Go-Gebiet für Unternehmer und Banken – eigentlich. Aber Schreiber denkt als Unternehmer nicht in konventionellen Risikomaßstäben. „Die Elektrifizierung ist für uns nur Mittel zum Zweck. Letztlich geht es darum, den Menschen Freiheit und Selbstbestimmung zu ermöglichen“. Große Worte. Denen der Unternehmer ein leidenschaftliches Plädoyer nachschiebt: Deutschland schicke 800 Soldaten der Bundeswehr zur Friedenssicherung nach Mali. Aber was nütze das schon, wenn gleichzeitig keine wirtschaftlichen Anreize für eine perspektivlose Jugend geschaffen würden? Wenn immer noch 99 Prozent der Dorfbewohner ohne Strom bleiben?

Die Probleme sind bekannt: Armut und Hoffnungslosigkeit treiben junge Männer in die Arme der Schlepper und Dschihadisten. Dürreperioden verschärfen die Konflikte zwischen Bauern und Hirten um das knappe Weideland. „Wir wollen mit Africa Greentec dazu beitragen, diesen Teufelskreis aufzubrechen“, sagt Schreiber, „und Fluchtursachen an der Wurzel bekämpfen“.

Das heißt vor allem: Die Stärkung örtlicher Märkte und Handwerksbetriebe – und damit den Anreiz, zu bleiben und in das eigene Dorf zu investieren. Deswegen will Schreiber zum Strom auch die Infrastruktur entwickeln. Zu seinem Service-Angebot gehören unter anderem die Trinkwasseraufbereitung, Kühlketten, Internetanschluss, energieeffiziente Endgeräte und Biogas-Herde. Zudem bildet Africa Greentec jeweils zwei Techniker vor Ort aus, die die Wartung der Anlagen garantieren. Schreibers Ziel für die nächsten 10 Jahre:  3 Millionen Menschen an seine mobilen Mini-Grids anzuschließen. 

Dazu braucht er vor allem Investoren. Investoren, die Schreibers Vision einer nachhaltigeren Form von Entwicklungshilfe teilen. Africa Greentec versteht sich zwar als Profit-orientiertes Unternehmen, ausschlaggebend aber sind nicht die Gewinnmargen sondern, wie Schreiber formuliert, „die Optimierung des gesellschaftlichen Nutzens“. Praktisch bedeutet das: Alle Gewinne werden reinvestiert. Für die bisherigen Anleihen von 6 Millionen Euro zahlt  Africa Greentec satte 6,5 Prozent Zinsen. Ein Dorf, das auf Kredit einen 150 000 Euro teuren Solartainer bekommt, muss genügend Abnehmer stellen, damit die Rechnung für das deutsche Unternehmen aufgeht: 30 Cent pro Kilowattstunde zahlen die Endverbraucher im Durchschnitt. In 15 Jahren, so der Plan, hat sich das Solarkraftwerk amortisiert. Um die Kosten so gering wie möglich zu halten, zahlen Torsten und Aida Schreiber sich und ihren Mitarbeitern lediglich so viel aus, wie sie zur eigenen Lebenssicherung brauchen: „Wir halten uns an den Gehaltsreport für Sozialunternehmer“, sagt Schreiber, „und verdienen damit ungefähr die Hälfte dessen, was Branchen-üblich ist“.

Nun rührt der Unternehmer die Trommel für Crowdfunding. An Überzeugungskraft fehlt es ihm nicht: Allein eine Million Menschen folgen der Facebook-Seite von Africa Greentec, fast 400 haben sich bisher als Privatinvestoren verpflichtet. Dabei ist die Unterstützung durch Nobelpreisträger und Mikrofinanz-Pionier Mohammad Yunus nicht ganz unwesentlich. Er steht dem Unternehmer-Ehepaar Schreiber als Mentor zur Seite, lädt sie regelmäßig zu Weltwirtschafts-Podien  – und bezeichnet ihre Arbeit als „persönliche Inspiration“. 

Dabei kam Torsten Schreiber, der von sich selbst sagt, sein „Erscheinungsbild sei für den  Politikbetrieb immer ein Hindernis gewesen“, einst aus der Modebranche. Als gelernter Verlagskaufmann wühlte er sich in die Welt des E-commerce und der sozialen Netzwerke. Schreiber baute die Piratenpartei mit auf. Gründete die Energieplattform „Bettervest“. Begeisterte sich für „Faktor Fünf“ von Ernst Ulrich von Weizsäcker, eine Öko-Bibel, die die Beibehaltung des gleichen Lebensstandards bei Einsparung von 80 Prozent der Energie für möglich erklärt.

Von der Schwarmpolitik über die Schwarmfinanzierung kam Schreiber so zum Schwarmstrom. „Hätte ich nicht meine Firma für Solarstrom gegründet, würde ich vermutlich für eine Klimarettungs-Initiative wie Extinction Rebellion arbeiten“. Heute sehe er sich als „sustainable entrepreneur“  oder Sozialunternehmer.  „Um die Welt strukturell besser zu machen, reicht es einfach nicht, ein paar Leuten eine Solarlampe in die Hütte zu bringen.“ 

Schreiber erläutert das am Beispiel einer seiner Kunden: Fode Diakite. Der Malier hatte seine Flucht nach Europa bereits geplant und vorbereitet. Als er davon erfuhr, dass ein Team von Africa Greentec anrücken wird, um sein Dorf Dakane zu elektrifizieren, hat er sich umentschieden. Er gründete einen Dorfladen, wo er alle Dinge des täglichen Bedarfs von Milch über Gemüse bis zu Waschpulver verkauft – und nebenbei eine Ladestation für Mobiltelefone betreibt.

Seine Erfolgsgeschichte ist durchaus typisch. Über 500 Mikrounternehmen haben in den bisher 20 elektrifizierten Dörfern in Mali Arbeitsplätze und wirtschaftliche Perspektiven geschaffen. Schulkinder müssen nicht mehr im Qualm von Kerosinlampen lernen. Elektrische Pumpen und Filteranlagen garantieren sauberes Wasser. Auch wenn das Aufstellen eines „Solartainer“ mitsamt seiner 67 KW Lithiumbatterien ein unternehmerisches Risiko darstellt: Die Zahlungsmoral der Kunden sei gut, die Nachfrage so groß, dass man mancherorts einen zweiten Solartainer ankoppeln müsse. Die KW-Stunde kostet dennoch nur die Hälfte des Stroms aus Dieselgeneratoren, Schreiber nennt sie „Dreckschleudern“.  Daneben gäbe es in Mali zwar ein paar mit Entwicklungshilfe subventionierte Solarkraftanlagen, aber deren Bleibatterien würden nur ein Jahr lang halten und Menschen sich immer wieder beim unsachgemäßen Recycling vergiften. 

„Anfangs begegnen uns viele Menschen mit Misstrauen, weil ihre Erwartungen schon zu oft enttäuscht wurden.“   Als Beispiel nennt er ein Programm der Weltbank: Um die Jahrtausendwende wollte sie einige hundert malische Dörfer elektrifizieren – mit Dieselgeneratoren. Bis die Stromnetze und Generatorenhäuschen gebaut waren, hatte sich der Dieselpreis verdoppelt. Einige der Dörfer wurden nach Ende der Subventionen sich selbst überlassen. In anderen wurden die nagelneuen Dieselgeneratoren erst gar nicht angeworfen. Die bereits gelegten Leitungsnetze aber kommen nun Africa Greentec zu Gute: Mit Billigung der malischen Regierung stellt sie Solartainer in diese Dörfer, die Renovierung des Netzes wird zur Hälfte von der Deutschen Entwicklungs Gesellschaft getragen. Ansonsten aber bekäme Africa Greentec keinen Cent von der staatlichen deutschen Entwicklungshilfe – als privatwirtschaftliches Unternehmen sei es de jure davon ausgeschlossen.  

Schreiber hat dafür einen unschätzbaren Heimvorteil: seine  Frau Aida Schreiber. „Ich bin Greentec, sie ist Afrika“ scherzt der Firmengründer. Die Arbeitsteilung zwischen beiden – auch ihre drei gemeinsamen Kinder nehmen sie oft nach Mali mit – beruht auf afrikanischen Prinzipien. Aida Schreiber erklärt es so: „Ich vermittle den Frauen in den malischen Dörfern unser Konzept, stelle sicher, dass sie gleichberechtigt vom Strom profitieren und organisiere zusätzliche Bildungsprogramme.“ Als Firmenschefs aber, versichert die Co-Chefin, träten sie immer gemeinsam vor den Ältestenrat. So viel weibliche Selbstermächtigung habe schon einige Irritationen ausgelöst. Einerseits. Andererseits gelte sie vielen malischen Dorffrauen als Rollenvorbild: „Frauen und Mütter können als Unternehmerinnen erfolgreich sein. Und warum nicht mit dem Geld, das man dank dem neuen Kühlschrank verdient, auch die Mädchen zur Schule schicken?“

Forscher der HTW Dresden, TU München und FU Berlin begleiten Africa Greentec und messen die ökonomischen und soziologischen Auswirkungen der Dorf-Elektrifizierung. Ihre Forschungsergebnisse bestärken den hessischen Unternehmer: „Unsere Arbeit spart nicht nur viele Tonnen CO2 ein. Sie wirkt nachweisbar positiv auf die meisten Nachhaltigkeitsziele, auf die sich die Vereinten Nationen in der Agenda 2030 geeinigt haben.“ Was Schreiber allerdings wütend macht: Dass Deutschland und die EU so wenig zur Bekämpfung der Fluchtursachen im Sahel beitragen, während sie bis zu 40 000 Euro für die Rückführung eines Flüchtlings bezahlen. Die von der Bundeswehr gestützten UN- und EU-Friedensmissionen in Mali kosten 1,2 Milliarden im Jahr – und dennoch habe sich die Sicherheitslage der Bevölkerung seitdem noch verschlechtert. Wäre es nicht sinnvoller, fragt Schreiber, dieses Geld stattdessen für mehr Beschäftigung und Nahrungsmittelsicherheit einsetzen? Mit dem Zwei-Jahres-Etat der Minusma könne man ganz Mali bis ins letzte Hirtendorf elektrifizieren: „Ich mache das für 100 Euro pro Kunde und das Geld ist nicht weg. Es ist investiert in Menschen, die etwas bewegen wollen“

Man mag das als Illusion eines unbeirrbaren Weltverbesserers abtun. Schreiber aber meint es ernst: Er expandiert mitten im Krisengebiet, auch wenn er Dorfbesuche nur noch mit militärischem Geleit unternimmt. Die Auftragslage unterfüttert seinen Optimismus. Das Unternehmen, das im Gründungsjahr 2016 nur aus Aida und Torsten Schreiber sowie einem malischen Techniker bestand, beschäftigt inzwischen 30 Angestellte in Deutschland und über 100 in Mali, Niger und Senegal. Die neuesten Anfragen kommen aus Togo, Äthiopien, Madagaskar und Namibia, Schreiber steht nach eigenen Angaben in direktem Kontakt mit deren Staatspräsidenten. Die Idee von Africa Greentec mit dem Strom auch sozialen Wandel anzustoßen, stößt dort auf offene Ohren: „Noch wichtiger als der Strom ist uns der Glauben der Menschen“ sagt der Sozialunternehmer, „der Glauben an die eigene Zukunft“.

JONATHAN FISCHER

in gekürzter Fassung am 20.10.2020 in der Süddeutschen Zeitung

Das Atelier der Idealisten

Am Rand der malischen Hauptstadt Bamako arbeitet das Künstler-Kollektiv Sanou’Arts. Es spürt der Seele seines Landes nach

Ein Künstleratelier ist vielleicht das Letzte, was man hier erwartet hätte: In einem Vorort der malischen Hauptstadt Bamako umfährt das Taxi mühsam Schlaglöcher und Maultiergespanne, um vor einem staubigen Fußballfeld anzuhalten. Dort wartet Ibrahim Bemba Kébé, ein schlaksiger Typ, Trainingshose, T-Shirt, Wollmütze. „Ganz schön ab vom Schuss hier“, sagt er und lacht. „So haben wir wenigstens unsere Ruhe zum Arbeiten.“

  Kébé ist Bildhauer, und das mit der Ruhe ist nicht wörtlich zu verstehen. Auf dem Fußballplatz wird gekickt, die Sportler schreien viel und das auf- und abbrandende Jubeln hallt als nachmittägliche Geräuschkulisse in den ersten Stock des schlichten Kastenbaus. Dort teilen sich 15 junge malische Künstler und Künstlerinnen dreieinhalb Räume. Man arbeite in Schichten, sagt Kébé, anders wäre die Miete von 100 000 Francs – umgerechnet ungefähr 180 Euro – nicht zu stemmen. Alle sind sie Abgänger oder Studenten des örtlichen Konservatoriums.

  Ein Drittel davon sind Frauen. Das ist in einem Land, in dem sich bestimmte Berufe, Stände und selbst die Künste immer noch als männliche Domäne verstehen, nicht selbstverständlich.

  Kébé hatte Sanou’Arts nach seinem Abschluss im Jahr 2017 gegründet. Am Konservatorium habe man in einer akademischen Blase gelebt. Doch jetzt bräuchten sie als Künstler materielle und ideelle Unterstützung, und die geben sie sich gegenseitig. „Nur als Gemeinschaft können wir abheben“, sagt er. Ein sehr malischer Gedanke: „La cohésion sociale“, der gesellschaftliche Zusammenhalt – trotz oder gerade wegen der Dauerkrise, in die Mali durch Korruption, fehlende staatliche Strukturen und dschihadistische Bedrohung geschlittert ist. Cohésion, das ist auch für Bamakos Kunstszene Überlebensgebot.

  In keiner anderen afrikanischen Hauptstadt organisieren sich Künstler verschiedener Metiers wie hier in unabhängigen Kollektiven. Neben Pionieren wie der Gruppe Atelier Badialan gehört Sanou’Arts zu den jüngsten und experimentierfreudigsten: „Jeder zieht hier den anderen mit“, sagt die Fotografin Mariam Niaré. „Egal ob wir Fotografen, Maler oder Bildhauer sind. Wir bemühen uns über das Internet gemeinsam um Kontakte zu Galeristen, Ausstellungen, Stipendien.“ Es gebe in Mali kaum Galerien und Kunstsammler, die nächsten Messen spielten in Dakar, Senegal, oder im ivorischen Abidjan. Unterstützung bei den laufenden Kosten erhalte man vor allem von „Donko Ni Maaya“, dem Kulturförderungsfonds der deutschen Entwicklungshilfe.

  Und der malische Staat? Die Frage nötigt Kébé ein schiefes Grinsen ab. „Es gibt ein Gesetz, wonach bei öffentlichen Bauprojekten ein Prozent der Bausumme für Kunst investiert werden muss. Aber das ist noch niemals zur Anwendung gekommen.“

  Für den auswärtigen Besucher haben die jungen Künstler ihre Werke im ausgeräumten Atelier aufgehängt. Einige sitzen auf Plastikstühlen um ein Tee-Stövchen im offenen Treppenhaus. Andere ordnen Stoffreste, mischen Farbe aus Erden an, denn das teure Acryl ist rar. Wie kamen sie dazu, in einem der ärmsten Länder der Welt ausgerechnet Kunst zu studieren? „Als ich ein Kind war“, sagt Kébé, „hat ein älterer Herr uns Jungen Pferde und Reiter aus Plastik geschnitzt. Damit haben wir Pferderennen gespielt. Das hat mich auf den Geschmack gebracht.“

  Die Malerin Habitatou Yaye Keita dagegen fing damit an, für ihre Schulklasse Afrikakarten zu entwerfen. Heute gehört Keita zu den vielversprechendsten jungen Künstlerinnen Westafrikas. Ihre Ikonen-artigen Frauengesichter sind von voluminösen Frisuren gerahmt, die sie aus Wollfäden geflochten hat. „Mir geht es in meinen Bildern um weibliche Identität. Und kaum etwas drückt das stärker aus als unsere Haare“, sagt sie.

  Was für Prachtfrisuren! Keitas Frauenfiguren strahlen eine sehr afrikanische Sinnlichkeit aus, geerdet und im vollen Bewusstsein ihrer Kraft. Auch die Fotografin Mariam Niaré transportiert eine Botschaft der Selbstbejahung: Sie porträtiert Albino-Frauen. Gesellschaftlich stoßen sie oft immer noch auf Ablehnung, von Niaré aber werden sie abgelichtet wie Models. Ihre in Weißtönen gehaltenen Fotografien strahlen eine zerbrechliche Aura der Würde aus.

  Ein wiederkehrendes Thema ist die illegale Migration. Die Malereien von Dramane Diarra etwa spielen im Zwischenreich von Magritte und afrikanischer Magie, er lässt seinen Migrantenfiguren Blumen aus dem Kopf wachsen oder sie Fischgestalt annehmen.

  Den jungen Maliern ist die Selbstreferenzialität vieler Akademieabgänger in Europa fremd, alle arbeiten nebenbei als Hochzeitsfotografen, Visitenkartendesigner, Kostümschneider oder Schildermaler. Der Alltag ihrer Familien bleibt ständig präsent, und natürlich müssen sie sich der Frage stellen, was ihre Kunst der Gesellschaft zu geben hat. „Unsere Eltern“, sagt Kébé, „waren alle skeptisch, als wir Kunst studierten. Sie übersehen, dass wir in einer wichtigen Tradition stehen.“

  Ibrahim Bemba Kébé bezieht sich in seinem bildhauerischen Schaffen auf malische Bräuche, die älter sind als die Islamisierung des Landes. Vor allem inspirieren ihn die Geheimgesellschaften der Manding. Koredouga nennen sich diese an Hofnarren erinnernden Bünde, die etwa zu Erntezeiten um spirituellen Beistand angerufen werden und wo Männer und Frauen in den Kleidern des jeweils anderen Geschlechts tanzen. „Hier gab es immer eine Gleichstellung und Wertschätzung der Frau“, sagt Kébé, „um die wir heute wieder mühsam ringen müssen.“ Mindestens ebenso wichtig für ihn ist das traditionelle Gesetz, nach dem die Koredouga weggeworfene Materialien wiederverwerten müssen: Bis heute sind ihre Kleider aus Abfällen zusammengenäht.

  Kébé fertigt in diesem Geist seine Figuren aus Draht und den in Bamako allgegenwärtigen schwarzen Plastiktüten. Dazu kommen Fundstücke von der Straße: Plastikdosen etwa, Schraubdeckel, entsorgte Mobiltelefone. Daraus entstehen schwarze, ausschreitende, drahtig tanzende Figuren. „So wie die Koredouga richte ich mich gegen den Zeitgeist“, erklärt Kébé. „Wir müssen nicht noch mehr konsumieren.“ Die Unesco erklärte die Geheimbünde der Manding vor vier Jahren zum Weltkulturerbe. Kébé betrachtet sie als ethisches und spirituelles Erbe. „Mich faszinieren sie wegen ihrer starken gesellschaftlichen Botschaft: Die Seele zählt mehr als materieller Reichtum.“

  Afrikanische Spiritualität als Hilfestellung für die Krisen der Gegenwart? Kébé glaubt, dass gerade die Künstler mit ihrem holistischen, aus der Geschichte schöpfenden Ansatz neue Räume eröffnen können, wo Politiker immer wieder versagen und der viel gepriesene Zusammenhalt an Korruption und religiösen Dogmen scheitert.

  Sein Kollege Mohamed Bomboly Keita beschäftigt sich mit traditionellen Masken. Affen- und Tiermasken, die die Älteren einst bei rituellen Feiern trugen. „Sie sind einzigartig, und doch im Verschwinden begriffen, weil religiöse Kräfte uns drängen, solche säkularen überlieferten Praktiken aufzugeben.“ Niemand traue sich mehr, diese Rituale und die traditionelle Medizin auszuüben, was dazu führe, dass sie nur noch im Verborgenen weiterlebten – und in der Kunst.

  Ibrahim Bemba Kébé, der Gründer von Sanou’Arts, macht eine bedeutungsvolle Pause. Nein, niemand brauche eine Rettung von außen. Im Gegenteil: „Wir müssen endlich begreifen, wie reich wir sind – und schon immer waren.“ Zum Abschied drückt er dem Besucher ein violettes Stück Plastik in die Hand. Er hatte die ganze Zeit nebenbei an einer Tellerscherbe rumgeschnitzt. Jetzt ist etwas Neues aus ihr geworden. Gestreckte Beine. Fliegende Mähne. Ein Rennpferd.

JONATHAN FISCHER

SZ 21.10.2020

Friedensstifter

In Mali ist der Blues mehr als das Fundament des Pop: Afel Bocoums meisterhaftes Album „Lindé“ ist ein Appell an seine Nation

Die Geschichte hinter der Geschichte ist oft die eigentlich interessante. Etwa wenn Akteure in zweiter Reihe sich mit selbstlosem Enthusiasmus für ein musikalisches Werk aufarbeiten, und am Ende nur das Kleingeschriebene im Booklet darauf hinweist. So auch im Fall des großartigen neuen Albums „Lindé“ des malischen Veteranen Afel Bocoum. Kritiker feiern die geniale Produktion. Die ist von Damon Albarn, Rockstar bei Blur und den Gorillaz, und Nick Gold, Weltmusik-Entdecker vom World-Circuit-Label, der Ry Cooder zum Buena Vista Social Club brachte und immer wieder afrikanische Stars in Amerika groß machte. Die vermischten für Bocoum den lässig schaukelnden Groove traditioneller Songhoy-Klänge mit Soul- und Reggae-Elementen.

  Dann ist da aber noch der Mann ohne den dieses Album nie zustande gekommen wäre: Paul Chandler. Ein Amerikaner, der seit über eineinhalb Jahrzehnten von Bamako aus nicht nur Afel Bocoum und dessen Band betreut sondern als Musiker, Produzent und Gründer der Hilfsorganisation „Instruments 4 Africa“ die traditionelle Musik Malis dokumentiert, Filme produziert und Festivals organisiert. Chandler erzählt, dass er in den Neunzigerjahren, zu seiner Zeit als Musikschullehrer in Amerika regelmäßig unter Panik-Attacken litt. Kein Arzt, kein Psychiater konnte ihm helfen. Bis er die malische Musik entdeckte.   1999 hatte er ein Konzert von Ali Farka Touré in New York besucht. Mehr noch als dieser Star des malischen Wüstenblues aber beeindruckte Chandler die Vorband um Tourés Gitarristen Afel Bocoum. Dessen Sound wirkte wie Medizin für den Großstädter. Eine Proto-Blues-Ästhetik, in der Schmerz und Freude in rollenden Rhythmen zusammenfinden. „Nachdem ich Afels Show gesehen hatte, war ich entschlossen, nach Afrika auszuwandern“.

  Chandler rief auf gut Glück bei der amerikanischen Schule in Bamako an. Wie schnell er denn kommen könne, fragte man ihn. Denn die Stelle des Musiklehrers sei gerade verwaist. Wenig später zog Chandler nach Mali. Sein musikalisches Idol Afel Bocoum war nun ständiger Besuch bei ihm.

  Bocoum war seinem Onkel Ali Farka Touré bereits als Kind auf Schritt und Tritt gefolgt. Er trug die Gitarre, machte Botengänge, besorgte Geld. Später wurde er in die Band der malischen Musiklegende aufgenommen. Als Sänger, Gitarrist und Songwriter entwickelte er seine eigene Variante des aufreizend bluesigen, wellenartig und in funkelnden Brechungen dahinströmenden Sounds, den man mit dem Städtchen Niafunké am Ufer des Niger assoziiert.   Doch erst 1999 nahm Bocoum, inzwischen 44 Jahre alt, sein Debütalbum auf. „Alkibar“ hieß es, und überzeugte Damon Albarn auf der Stelle. Der nahm Bocoum in sein „Mali Music“-Projekt auf, holte ihn für die Africa Express-Jams nach London und vor über 65 000 Zuschauern auf die Hauptbühne des Roskilde-Festivals. Wie Salif Keita oder Tinariwen hatte Bocoum keine Berührungsängste mit dem Pop.

  Nach dem Tod Ali Farka Tourés im Jahre 2006 galt der Neffe als natürlicher Nachfolger. Doch Bocoums Bescheidenheit stand ihm im Weg. Und als halb Mali 2012 durch Dschihadisten besetzt wurde, seine Heimat zwischen Nord und Süd zerrissen schien, ein Militärputsch zu einer anhaltenden Krise führte, legte er die Gitarre zeitweise ganz zur Seite. Hatten die malischen Musiker hier noch etwas auszurichten? Es war Chandler, der den alten Mann aus dem inneren Exil holte. Nach dem gemeinsamen Projekt „Alkibar Junior“ mit jüngeren Musikerkollegen aus Niafunké, produzierte der Amerikaner den Film „It Must Make Peace“, eine eindrückliche Dokumentation der bedrohten malischen Musiktraditionen, dem Afel Bocoum als Erzähler und Hauptdarsteller diente.

  Chandler ließ Bocoum versprechen, dass er sich melde, wenn er neue Songs hätte. 2017 war es dann soweit. Auf gemeinsamen Trips durch ganz Mali hatte Bocoum die Ideen gesammelt, die nun das Grundgerüst von „Lindé“ bilden. Etwa als eine Gruppe Jugendlicher in einer Kleinstadt an der Grenze zu Mauretanien Gesang aufführten, wie sie bei Beschneidungszeremonien aufgeführt werden. Bocoum war von der Melodie elektrisiert. Er summte sie in sein Smartphone und machte daraus die aktuelle Single „Dakhamana“. „Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist unsere Sozialversicherung“, singt der Songhoy-Musiker, und mahnt seine Landsleute, sich ihrer ethnischen Unterschiede zum Trotz als Angehörige einer Nation zu begreifen. An anderer Stelle warnt die Jugend vor der Illusion, sie würden als Migranten in Europa ein Paradies vorfinden. „Lasst uns in unser Land zurückzukehren, um zu arbeiten.“

  Man merkt Bocoum seine Vergangenheit als Landwirt in Niafunké an. Schon damals nutzte er seine Musik dazu, die Vorzüge gemeinschaftlichen Wirtschaftens zu preisen, nun hat er dem Gründer des landwirtschaftlichen Kollektivs den Song „Djougal“ gewidmet. Musik und Moral gehören in Mali schon immer zusammen. Und Bocoum lässt keine Gelegenheit aus, daran zu erinnern.

  In der aktuellen Situation bekommen Bocoums Friedens-Appelle eine ganz neue Dringlichkeit. Mitte August putschte sich in Bamako das Militär wieder an die Macht geputscht. Hunger droht. „Die Malier sind erschöpft“, sagt Bocoum. „Viele glauben nicht mehr an die Zukunft unseres Landes. um so mehr müssen wir uns bemühen, Hand in Hand zusammenzuarbeiten“.

  „Lindé“, benannt nach dem Landstrich im Zentrum Malis, wo Bocoum aufwuchs, ist ein pazifistisches Statement. Die Rhythmen rollen eher als zu rocken. Der vom Chor beantwortete Gesang fleht im Stile eines langen Gebets. Afel Bocoum hat die Songs mit seiner Band komplett in Paul Chandlers Haus in Bamako eingespielt.

  Anschließend flog der amerikanische Freund nach London, um es zusammen mit Nick Gold und Damon Albarn in dessen Studio abzumischen. Von Albarn stammt auch die Idee, den erkrankten Geigenspieler Bocoums durch Joan Wasser aka Joan As Police Woman zu ersetzen, die mit trockenen, gezupften Violinentöne den Blues herauskehrt. Und den jamaikanischen Skatalites-Posaunisten Vin Gordon zu holen, dessen Bläser-Overdubs wie selbstverständlich mit dem jahrtausendealten Groove fließen.

  Fast scheint es, als hielte angesichts des Zusammenbruchs der Regierungs und der zivilen Strukturen in Mali nur noch die Kultur das Land zusammen. Musik als letztes Bindemittel? Afel Bocoum bestätigt diesen Eindruck. „Wir Musiker erinnern die Menschen an unsere große gemeinsame Geschichte – und an die Kraft der Versöhnung“. Eine musikalische Naturgewalt, die offensichtlich genauso in der Lehmhütte am Niger funktioniert wie in der Lehrerwohnung in New York.

JONATHAN FISCHER

RÜCKKEHR DER SANFTEN REBELLEN

Die Legenden des Reggae sterben – doch junge jamaikanische Musikerinnen entdecken deren Musik wieder für sich.

Als im September die Reggaelegende Toots Hibbert verstarb, markierte das das Ende einer Aera. Er gehörte noch zu den Selfmade-Men, die – ohne jede Musikausbildung aber mit umsomehr Sendungsbewusstsein – sich bei den Studios in Kingston vorstellten, ihre zwei, drei Nummern mit der Hausband durchzogen, und wenn sie Glück hatten, mit ein paar Dollars entlohnt wurden. Oder wie Toots auch nur mit einem Patty, einer gefüllten Teigtasche. Den hatte er von Studio One-Betreiber Clement Coxsone Dodd für seine allererste Komposition bekommen. Die Investition sollte sich lohnen. Toots alias Frederick Nathaniel Hibbert, der nach dem Tod der Eltern vom ländlichen May Pen zu seinem Bruder nach Kingston gezogen war, sollte mit seiner Band The Maytals den jamaikanischen Pop fast sechs Jahrzehnte lang befeuern. Dem Reggae eine Note von Gottesdienst, Schweiß und ekstatischer Bandmusik verleihen. Zwei Jahre nach „Bam Bam“ – einem Song, der als Sample und Zitat bis in den Dancehall und HipHop-Nummern von Lauryn Hill bis Jay-Z weiterlebt, sollte 1968 eine weitere Toots-Komposition dem ganzen Genre seinen Namen verpassen: „Do The Reggay“.

Toots hatte nicht nur den Übergang vom rasanten Stakkato des Ska über den Rocksteady zu den extrem zerdehnten basslastigen Rhythmen des Reggae geprägt – sondern auch Funk, Afropop oder sogar Country experimentiert. Seine missionarische Kraft aber aber rührte vor allem von seiner Stimme: Einem Gospel-Timbre, das mal an Otis Redding oder Ray Charles erinnerte, und jedem Hörer klarmachte, dass es um nichts weniger als das Göttliche in mir, dir und uns allen geht. Oder um es mit einem seiner Hits zu sagen: “Reggae Got Soul“. Wie auch Marley hatte sich Toots eine Menge seiner Melodien und den Erweckungs-Drive aus der Kirche abgeschaut, als Sohn zweier Adventistenprediger lag ihm das Predigen schon im Blut. Nicht so radikal wie die Rastas, aber doch stets aus der Lebenserfahrung der Mehrheit armer Jamaikaner schöpfend forderten Toots Songs Gerechtigkeit ein. Besangen sie wie „Pressure Drop“ oder „54-46 Thats My Number“ Armut, Gefängnis und Widerstand. Oder auch spirituellen Trost. Reggae: Zu der Zeit als Chris Blackwells Island Records Künstler wie Bob Marley, Jimmy Cliff, Peter Tosh oder Toots & The Maytals für ein weltweites Publikum aufbereitete, lieferte Jamaika noch den Soundtrack einer weltweiten schwarzen Emanzipationsbewegung.

Bis Anfang der 80er Jahre der Traum von „One Love“ in sich zusammenfiel. Der Tod Bob Marleys, die Heimsuchung der Karibikinsel durch Drogenhandel und wahlweise von der CIA oder Kuba bewaffneten Gangs, die als Statthalter der zwei großen politischen Parteien agierten, ließ auch vom einstigen Verbrüderungs-Opimismus des Reggae nicht viel üblich. Kingston rutschte zur Bürgerkriegszone ab. Digital produzierte, von Gangsterposen und Obszönitäten geprägte Dancehall-Tunes beherrschten das Musikgeschäft. Toots fand wie viele der alternden Reggaelegenden seine treueste Anhängerschaft in Amerika und Europa, tourte dort auf Festivals und durch Clubs, spielte mit Fans wie Keith Richards, The Roots oder Bonnie Raitt seine alten Songs neu ein. Im Westen wurden die Traditionen Jamaikas nach wie vor gefeiert.

Was aber war aus dem Reggae in seinem Geburtsland Jamaika geworden?

Lange sah es so aus, als ob das ganze Genre der Geschichte angehörte. Unter synthetischen Drums, billigen Rhythmen und Autotune-Gesängen begraben. Einer Dancehall-Mode geopfert, die bei allen musikalischen Verdiensten die Solidarität des Reggae egomanischen, frauenfeindlichen und homophoben Selbstdarstellern geopfert hatte. „Überall auf der Welt führen Musiker die jamaikanischen Pop Traditionen des Ska, Rocksteady und Reggae fort“, beklagt Billy Mystic, ein drahtiger Rasta in der Open-Air-Bar seines „Jamnesia“-Surfcamps am Stadtrand von Kingston.“Nur auf unserer Insel drohen sie in Vergessenheit zu geraten.“

Mystic sang einst mit den Mystic Revelations, heute verdient er sein Geld als Surflehrer.

Und doch hat er wesentlich dazu beigetragen, eine Art Reggae-Revival zu forcieren. In Kingston sind Live-Konzerte eine Selteneheit. Mystic aber stellte einer Generation, die weitgehend digital aufgewachsen war, Instrumente und Bühnentechnik zur Verfügung und lud zu samstäglichen Live-Sessions. Unter anderem der weltweit gefeierte Nachwuchs-Star Chronixx absolvierte auf der „Jamnesia“-Bühne seine ersten Auftritte: „Jetzt schlägt das Pendel wieder zurück“, sagt Mystic. „Denn die Kraft des Reggae lag schon immer darin, dass er nicht nur Musik bietet, sondern eine komplette Identität.“ Dazu gehörten die Prophezeiungen der Bibel, der Bezug auf das Mutterland Afrika, die Naturverbundenheit der Rastafari-Bewegung sowie die Möglichkeit gesellschaftlichen Widerstands. Heute entdeckt eine junge Generation die sanfte Rebellion des Reggae wieder für sich.

Spätestens als im Jahre 2014 Vybz Kartel, der größte Star des an Sex- und Drogen-Klischees überfütterten Dancehall, wegen Mordes verurteilt wurde, schien die Zeit für einen Neuanfang gekommen. Und weil Popmusik auch in Jamaika zyklisch funktioniert, bedeutete das eine Rückbesinnung: Auf eine vergessene Spiritualität. Auf das Musizieren in einer Band. „Ich hörte mir Bänder von den Studio Sessions meiner Mutter in den 70er Jahren an“, erzählt Protoje, Sohn der Reggae-Sängerin Lorna Bennett „und die Sounds packten mich. Danach wollte ich mehr wissen: Ich wühlte mich also durch die lokale Musikproduktion dieser Zeit und entdeckte eine ganze Welt“. Protoje, schmales Gesicht, Filzlocken, ernsthafte Stimme, gehört zu den jungen Stars, die Roots Reggae-Botschaften und Dancehall-Elemente kombinieren. Akustische Gitarre, ein Marley-Poster, ein Satz Hanteln. Das ist die ganze Ausstattung des Arbeitszimmers seiner Villa, von der aus er auf die tiefergelegenen Teile von Kingston, den Hafen und die karibische See blicken kann. „Ich habe grundsätzlich nichts gegen Dancehall und Party. Aber es muss doch eine Art Balance geben mit Musik, die auch unsere Realität abbildet.“

Protojes Songs appellieren an den Respekt vor der Natur, vor den Frauen, vor der eigenen Göttlichkeit. Er ist damit nicht nur international erfolgreich – sondern inspirierte auch viele junge Talente des Reggae Revivals: Chronixx, Jesse Royal, Kabaka Pyramid, Jahnine oder Koffee um nur einige der Bekanntesten zu nennen. Selbst Chris Blackwell hat sich noch einmal begeistern lassen: Er bescheinigt Chronixx „einen Flow und eine Autorität“, die er erst selten gehört habe – und nahm ihn als Songwriter unter Vertrag. Chronixx schätzt seine Wegbereiter: „Jeder Song, der im Rahmen des Reggae Revivals entsteht, ist schon einmal auf ähnliche Weise aufgenommen worden. Die selben Rhythmen, ähnliche Lyrics. Aber ist das schlecht? Ich verherrliche nicht das Neue um des Neuen willen. Viel wichtiger ist mir Kontinuität“. Was Chronixx (selbst Sohn des Dancehallmusikers Chronicle) und seine Kollegen von ihren 70er Jahre-Vorbildern allerdings unterscheidet: Sie haben meist eine musikalische Ausbildung genossen und entwickeln ihre Songs über „Suffering“ und „Justice“ aus einer privilegierten Mittelklasse-Situation heraus.

Erstaunlicher noch: Viele von ihnen sind Frauen – in einem Genre, das traditionell außer Rita Marley nur wenige weibliche Stars vorzuweisen hatte. Die Sängerin Lila Iké etwa. Protoje nahm sie mit auf Tournee und besorgte ihr einen Plattenvertrag. Ikés Debut EP „ExPerience“ erschien dieses Jahr, das Video zur Hitsingle „Where I‘m Coming From“ lässt ihre alleinerziehende Mutter zu Wort kommen und zeigt, ganz unglamourös, ihre Ursprünge in der ländlichen Region Manchester. Oder die als neue Reggae-Sensation gehandelte Koffee: „Ich möchte den positiven Vibe von Bob Marley in meiner Musik aufgreifen“, bekennt die zierliche 20-jährige, die gerade mit ihrer millionenfach gestreamten Single „Toast“ eine moderne Reggae-Fusion vorantreibt, wie sie auch Rihanna oder Major Lazer zuletzt in die Charts brachten. Ihre Botschaft aber ist so oldschool wie Bob Marleys „Get Up Stand Up“ oder Toots Hibberts „Pressure Drop“. „Die Parlamentarier wälzen nur Papiere“, singt sie auf „Ragamuffin“. „Um die Ghettojugend aber kümmern sie sich nicht/ deshalb wird das Land auch nicht sicherer“. Neu ist das kaum. Aber musikalisch stark. Und als Botschaft so dringlich wie eh und je.

JONATHAN FISCHER

in gekürzter Fassung in der NZZ vom 30.9.2020