Doch, doch, Prince zahlt es seinem Lehrmeister kräftig heim. Der Musiker aus Minneapolis ist der beste Mann auf dem neuen Album des Bassisten und Sängers Larry Graham, katapultiert den Party-Funk des Sly & The Family Stone-Veteranen als Songwriter und Duett-Partner immer wieder auf kongeniale Weise in die Gegenwart. Schließlich steht Prince beim älteren Kollegen in der Schuld: nicht nur, weil dieser ihn einst zu den Zeugen Jehovas brachte, bis heute mit ihm gemeinsam die Bibel studiert und den Seelsorger für alle Superstar-Probleme abgibt; sondern auch, was den Funk betrifft.
Waren es doch die Siebziger-Jahre-Alben von Larry Grahams Graham Central Station, die Princes‘ eigene Exegese des schwarzen Pop wesentlich inspirierten, eine Ahnung davon gaben, wie sich Party und Kunst über einem satten Basslauf versöhnen könnten. Nun profitiert „Raise Up“, Larry Grahams erstes Album seit dreizehn Jahren, von der Freundschaft. Fünf Stücke wurden in Princes‘ Paisley-Park-Studios aufgenommen, auf dreien davon spielt „The Artist“ selbst mit.
Um es vorwegzunehmen: Das hätte ruhig noch öfter sein dürfen. Denn Grahams mit jungen Musikern reformierte Band Graham Central Station hat zwar den Old School Funk perfekt parat, bringt mühelos jedes Partypublikum mit drängenden Bläser-Bass-Kombinationen zum Schwitzen, kann aber kaum einmal überraschen. Andererseits: Ist der Funk, wie ihn Larry Graham pflegt, nicht längst ein Weltkulturerbe, so zeitlos und klassisch wie der Rundbogen in der Architektur? Und darf man von jemandem, der die Popmusik der vergangenen vierzig Jahre so gründlich revolutioniert hat, wirklich noch grundlegend Neues verlangen?
Grahams Erfindung des geslappten Basses jedenfalls hat nicht nur den Sound des Siebziger-Jahre-Funk geprägt, sondern dem schwarzen Pop von Marcus Millers und Stanley Clarkes Fusionjazz über den Rhythm & Blues von Meshell Ndegeocello bis Raphael Saadiq (auch er gastiert auf einem Song) bis zu deren Hip-Hop-Derivaten seinen Stempel aufgedrückt. Wie der Bassist aus Oakland auf diese Technik gekommen ist? Eine Zufallsgeschichte, sagt er. Graham spielte als Teenager in der Unterhaltungsband seiner Mutter, und weil sie ohne Schlagzeuger auskommen mussten, lag der gesamte Rhythmuspart bei ihm. Und können Bass-Saiten denn nicht wunderbar schnalzen?
Als Sly Stone Mitte der sechziger Jahre Mitstreiter für seine wegweisende Funktruppe suchte, stieß er auf Larry Graham – beziehungsweise dessen Monster-Bass. Dazu hatte der Mann noch diese markante, tiefe Singstimme. Kaum ein Hit von Sly & The Family Stone ist ohne den satten Unterboden Grahams denkbar, von „Everyday People“ bis zu „Thank You (Falettinme Be Mice Elf Agin)“. Und auch beim epochalen „There’s A Riot Going On“ wirkte sein Daumen mit. Sobald ein Fernsehauftritt der Band die Spieltechnik sichtbar machte, kopierten Legionen von Bassisten Grahams Slap-Bass. Klar, dass dieser auch auf dem neuen Album eine zentrale Rolle spielt.
„Raise Up“ sei, so erzählt Graham, die Auslese eines jahrelang vor Publikum getesteten Song-Repertoires. Das merkt man. Besonders die ersten Titel setzen auf den theatralischen Gestus einer Live-Band. Da gibt der Bassist den Showmann mit dem Trommeldaumen, die anderen Musiker stoßen nach und nach dazu, und die seit Sly & The Family Stones Woodstock-Auftritt altbewährten Zutaten werden noch einmal hochgekocht.
Fast möchte man das Ganze schon als Nostalgie-Trip eines ehemaligen schwarzen Hippies abhaken. Bis Prince sein Quentchen „sexy motherfucker“ dazugibt, eine kratzende Gitarre anstatt der Bläser hinzukommt und der knochentrockene Groove Larry Grahams Soulgesang erstmals zur Geltung bringt. Vorher war da ein professioneller Einheizer, jetzt atmet das Ganze Sex. Und es geht sogar noch lasziver: „Shoulda Coulda Woulda“, ein Vokal-Duett mit Prince, glüht geradezu vor Sehnsucht, Intimität, Leidenschaft. Der pure Soul-Wahnsinn! Auch die übrigen Lieder glänzen immer dann, wenn Sängerin Ashley Cole ihre Gospel-Stimme erheben darf. Wer stört sich da schon an den sozialkritischen Allgemeinplätzen der Texte („Raise up your head / We’re living in Code Red“)?
Tanzen wir lieber zu der von einem gnadenlosen Bass geprügelten Stevie-Wonder-Nummer „Higher Ground“ oder zu einer der anderen gelungenen Coverversionen. Graham bereitet dabei auch drei von seinen alten Graham-Central-Station-Hits auf, darunter „It’s Alright“ mit seinem von Synthesizer und von Bläsern getriebenen Achtziger-Jahre-Groove. Oder auch „Now Do U Wanta Dance“, in dem die früheren Disco-Zutaten nun durch einen pumpenden Bass und Grahams roboterhaft verzerrte Bassstimme ersetzt werden – Musik nach den bewährten Reizmustern des Funk. Und gerade deswegen schon mal gehört.
Hier liegt auch der einzige Schwachpunkt dieses Albums: Larry Graham ist ein großartiger Musiker, Sänger und Arrangeur – als Komponist neigt er zum Selbstplagiat. Als ob er das selbst auch wüsste, kompensiert er seine Methode bisweilen durch übermäßigen Fanfaren- und Trommelzirkus. Da ist dann das Album vor allem Werbung für die Live-Show – und nicht umgekehrt. Bleibt am Ende ein halbes Dutzend grandioser Funk-Walzen, die selbst vom Hip-Hop sozialisierten Hörern die iPhone-Stöpsel aus den Ohren blasen dürften – und die Aussicht auf eine weitere Verjüngung des Larry-Graham-Sounds: Sein nächstes Projekt, verrät der Veteran, sei eine Zusammenarbeit mit seinem berühmten Hip-Hop-Enkel Drake.
JONATHAN FISCHER
FAZ 27.10.2012