Monatsarchiv: Oktober 2012

Zu gut für iPhone-Stöpsel: Der Funk-Veteran Larry Graham zeigt den Hip-Hoppern, wie man aufdreht

Doch, doch, Prince zahlt es seinem Lehrmeister kräftig heim. Der Musiker aus Minneapolis ist der beste Mann auf dem neuen Album des Bassisten und Sängers Larry Graham, katapultiert den Party-Funk des Sly & The Family Stone-Veteranen als Songwriter und Duett-Partner immer wieder auf kongeniale Weise in die Gegenwart. Schließlich steht Prince beim älteren Kollegen in der Schuld: nicht nur, weil dieser ihn einst zu den Zeugen Jehovas brachte, bis heute mit ihm gemeinsam die Bibel studiert und den Seelsorger für alle Superstar-Probleme abgibt; sondern auch, was den Funk betrifft.

Waren es doch die Siebziger-Jahre-Alben von Larry Grahams Graham Central Station, die Princes‘ eigene Exegese des schwarzen Pop wesentlich inspirierten, eine Ahnung davon gaben, wie sich Party und Kunst über einem satten Basslauf versöhnen könnten. Nun profitiert „Raise Up“, Larry Grahams erstes Album seit dreizehn Jahren, von der Freundschaft. Fünf Stücke wurden in Princes‘ Paisley-Park-Studios aufgenommen, auf dreien davon spielt „The Artist“ selbst mit.

Um es vorwegzunehmen: Das hätte ruhig noch öfter sein dürfen. Denn Grahams mit jungen Musikern reformierte Band Graham Central Station hat zwar den Old School Funk perfekt parat, bringt mühelos jedes Partypublikum mit drängenden Bläser-Bass-Kombinationen zum Schwitzen, kann aber kaum einmal überraschen. Andererseits: Ist der Funk, wie ihn Larry Graham pflegt, nicht längst ein Weltkulturerbe, so zeitlos und klassisch wie der Rundbogen in der Architektur? Und darf man von jemandem, der die Popmusik der vergangenen vierzig Jahre so gründlich revolutioniert hat, wirklich noch grundlegend Neues verlangen?

Grahams Erfindung des geslappten Basses jedenfalls hat nicht nur den Sound des Siebziger-Jahre-Funk geprägt, sondern dem schwarzen Pop von Marcus Millers und Stanley Clarkes Fusionjazz über den Rhythm & Blues von Meshell Ndegeocello bis Raphael Saadiq (auch er gastiert auf einem Song) bis zu deren Hip-Hop-Derivaten seinen Stempel aufgedrückt. Wie der Bassist aus Oakland auf diese Technik gekommen ist? Eine Zufallsgeschichte, sagt er. Graham spielte als Teenager in der Unterhaltungsband seiner Mutter, und weil sie ohne Schlagzeuger auskommen mussten, lag der gesamte Rhythmuspart bei ihm. Und können Bass-Saiten denn nicht wunderbar schnalzen?

Als Sly Stone Mitte der sechziger Jahre Mitstreiter für seine wegweisende Funktruppe suchte, stieß er auf Larry Graham – beziehungsweise dessen Monster-Bass. Dazu hatte der Mann noch diese markante, tiefe Singstimme. Kaum ein Hit von Sly & The Family Stone ist ohne den satten Unterboden Grahams denkbar, von „Everyday People“ bis zu „Thank You (Falettinme Be Mice Elf Agin)“. Und auch beim epochalen „There’s A Riot Going On“ wirkte sein Daumen mit. Sobald ein Fernsehauftritt der Band die Spieltechnik sichtbar machte, kopierten Legionen von Bassisten Grahams Slap-Bass. Klar, dass dieser auch auf dem neuen Album eine zentrale Rolle spielt.

„Raise Up“ sei, so erzählt Graham, die Auslese eines jahrelang vor Publikum getesteten Song-Repertoires. Das merkt man. Besonders die ersten Titel setzen auf den theatralischen Gestus einer Live-Band. Da gibt der Bassist den Showmann mit dem Trommeldaumen, die anderen Musiker stoßen nach und nach dazu, und die seit Sly & The Family Stones Woodstock-Auftritt altbewährten Zutaten werden noch einmal hochgekocht.

Fast möchte man das Ganze schon als Nostalgie-Trip eines ehemaligen schwarzen Hippies abhaken. Bis Prince sein Quentchen „sexy motherfucker“ dazugibt, eine kratzende Gitarre anstatt der Bläser hinzukommt und der knochentrockene Groove Larry Grahams Soulgesang erstmals zur Geltung bringt. Vorher war da ein professioneller Einheizer, jetzt atmet das Ganze Sex. Und es geht sogar noch lasziver: „Shoulda Coulda Woulda“, ein Vokal-Duett mit Prince, glüht geradezu vor Sehnsucht, Intimität, Leidenschaft. Der pure Soul-Wahnsinn! Auch die übrigen Lieder glänzen immer dann, wenn Sängerin Ashley Cole ihre Gospel-Stimme erheben darf. Wer stört sich da schon an den sozialkritischen Allgemeinplätzen der Texte („Raise up your head / We’re living in Code Red“)?

Tanzen wir lieber zu der von einem gnadenlosen Bass geprügelten Stevie-Wonder-Nummer „Higher Ground“ oder zu einer der anderen gelungenen Coverversionen. Graham bereitet dabei auch drei von seinen alten Graham-Central-Station-Hits auf, darunter „It’s Alright“ mit seinem von Synthesizer und von Bläsern getriebenen Achtziger-Jahre-Groove. Oder auch „Now Do U Wanta Dance“, in dem die früheren Disco-Zutaten nun durch einen pumpenden Bass und Grahams roboterhaft verzerrte Bassstimme ersetzt werden – Musik nach den bewährten Reizmustern des Funk. Und gerade deswegen schon mal gehört.

Hier liegt auch der einzige Schwachpunkt dieses Albums: Larry Graham ist ein großartiger Musiker, Sänger und Arrangeur – als Komponist neigt er zum Selbstplagiat. Als ob er das selbst auch wüsste, kompensiert er seine Methode bisweilen durch übermäßigen Fanfaren- und Trommelzirkus. Da ist dann das Album vor allem Werbung für die Live-Show – und nicht umgekehrt. Bleibt am Ende ein halbes Dutzend grandioser Funk-Walzen, die selbst vom Hip-Hop sozialisierten Hörern die iPhone-Stöpsel aus den Ohren blasen dürften – und die Aussicht auf eine weitere Verjüngung des Larry-Graham-Sounds: Sein nächstes Projekt, verrät der Veteran, sei eine Zusammenarbeit mit seinem berühmten Hip-Hop-Enkel Drake.
JONATHAN FISCHER
FAZ 27.10.2012

Globale Endlosschleife: Der 71-jährige Meistertrommler Tony Allen trägt den Afrobeat in die Pop-Welt hinaus

Tony Allen braucht keine grossartige Gerätschaft. Ein zerbeultes Drum-Set, geliehen aus einer benachbarten Kirche – das reichte etwa 2007 in Kinshasa, um den transatlantischen Jam «Africa Express» zu retten. Mit von der Partie waren damals Gitarristen und Fingerklavier-Spieler aus dem Kongo sowie ein halbes Dutzend westlicher Rock- und Hip-Hop-Musiker. Und als Mastermind: Blur-Sänger Damon Albarn. Zunächst tönte es nach einem Desaster; im Sound-Clash machte es den Anschein, als fänden die Musiker nie zu einer gemeinsamen Sprache – bis sich Allen zu ihnen setzte. Mit Lässigkeit liess er seine Sticks tanzen. Und so geschickt nahm er Impulse seiner Mitspieler auf, dass es bald tönte, als ob zwei weitere Schlagzeuger über dem Grund-Beat improvisierten. Egal, dass der Strom immer wieder ausfiel. Egal auch, dass das Drum-Set repariert werden musste. Allen setzte seinen Kurs seelenruhig fort, schnürte die unterschiedlichen Sounds förmlich zusammen mit Endlosschleifen, minimalen Verschiebungen und den energischen Doppelschlägen seiner Bass-Drum: B-boom, B-boom, B-boom.

Rhythmische Verschiebungen

Nun erscheint eine Platte, die ausschliesslich den Breaks von Tony Allen gewidmet ist: «The Original Afrobeat Patterns Recorded By The Master Drummer Tony Allen». Produziert von den Afrobeat-Makers, nimmt es die raffinierten Rhythmusverschiebungen des Afrobeat-Erfinders unter die Lupe. Es seziert und exponiert Allens hohe Kunst auf Albumlänge. Brian Eno hatte Tony Allen einmal den «wichtigsten Musiker der letzten 50 Jahre» genannt. Miles Davis pries in seiner Autobiografie Allens ureigenen Rhythmus, den Afrobeat, als «Musik der Zukunft». Und kaum ein Kollege, der nicht eine Anekdote über die technischen Fähigkeiten des einstigen Fela-Kuti-Schlagzeugers beizutragen hätte: «Ich spiele», hat Allen behauptet, «das gleiche Pattern niemals zweimal. Warum auch, wenn es so viele Variationen gibt?»

Nicht weniger wichtig als Allens Originalität und Virtuosität ist seine kulturelle Übersetzungsarbeit. «Tony Allen got me dancing», sang Damon Albarn 2000 in einem Blur-Song. Die Zeile hatte Folgen. Nicht nur für Albarns und Allen – für die westliche Pop-Musik insgesamt. Dank dem musikalischen Import-Export-Geschäft galten Metropolen wie Lagos, Kinshasa und Addis Abeba bald als cool. Afrika verschwand aus der verstaubten Weltmusik-Schublade, um auf der Must-Liste der Hipster wieder aufzutauchen.

Globaler Afrobeat

Und Tony Allen? Er trommelte, als wäre nichts geschehen, weiter seine Beats, freute sich, dass sein handgemachter Rhythmus technoide Experimente mit Hip-Hop-Produzenten wie Danger Mouse, Doctor L oder der Berliner Dub-Techno-Koryphäe Mark Ernestus inspirierte. Er hatte es vorausgesagt: Dass der Westen – wie gewohnt mit einiger Zeitverzögerung – irgendwann entdecken würde, was afrikanische Musiker bereits in den siebziger Jahren erfunden hatten. Nun schwören junge Indie-Rock-Bands plötzlich auf den Sound alter Fela-Kuti-Platten. Losgelöst von seinen Ursprüngen in Nigeria, fasst der Afrobeat heute in sämtlichen westlichen Metropolen Fuss. Dafür sorgen Karl Hector und die Malcouns in München, die Heliocentrics in London oder Antibalas in Brooklyn. Und Damon Albarn schafft immer wieder neue Crossover-Projekte. Zuletzt «Rocket Juice & The Moon». Tony Allen sitzt auch hier – wie bei den Gorillaz oder bei «The Good, The Bad & The Queen» – am Schlagzeug.

Kein Wunder, dass Allen mehr Angebote bekommt, als er in drei Leben bewältigen könnte: Der Mann baut unglaubliche Startrampen. Er tippelt, zischelt und schlägt genial vertrackt und treibt selbst plumpe Mitmusiker in die Weiten des Afro-Space-Funk hinaus. Bis heute beherrscht niemand so wie er die Fusion afrikanischer und afroamerikanischer Musikformen. «Afrobeat», sagt der 71-jährige Nigerianer, «bedeutet, Grenzen einzureissen. Aber eben nicht durch Vereinfachung. Sondern durch Komplexität.» Gerade heute, da Techno und House um den menschlichen Faktor, die minimale Abweichung innerhalb ihrer Rhythmus-Loops ringen, steht Allens Kunst höher im Kurs denn je. Seine Beats formen den Puls eines modernen Funk.

Allen hatte als Jugendlicher Aufnahmen von Max Roach, Art Blakey und dem ghanesischen Drummer Guy Warren studiert und sich dank Anleitung des Jazzmagazins «Downbeat» das Spielen auf dem Hi-Hat-Spiel beigebracht – noch bevor ihn dann Fela Kuti hörte: «Wie kommt es, dass du der Einzige in Nigeria bist, der Jazz und Highlife spielen kann?» Allen und Kuti schöpften aus Bands wie Koola Lobitos und später Africa 70 aus einem gewaltigen Musikpool: dem Afro-Atlantik. Ihr Gemisch amerikanischer und afrikanischer Pop-Spielarten aber sollte erst nach einer Tour durch die Vereinigten Staaten im Jahr 1969 richtig zünden. Black Power, Free Jazz, Funk: Mit revolutionären Ideen im Gepäck kehrten sie nach Lagos zurück, wo Kutis Texte sich zum Politischen wendeten, während Keyboards, Bläser und Gesänge fortan einem elektrifizierten Call-And-Response-Muster folgten. Dirigent und Motor des neuen Sounds aber war Tony Allen. Am Ende führten menschliche Faktoren jedoch zum Bruch. 1978 verliess Allen Kutis Band.

Immun gegen Verkrustungen

1984 siedelte er nach London um, lebte dort als Illegaler und fand erst nach einem weiteren Umzug nach Paris wieder ins Geschäft: King Sunny Ade, Manu Dibango, Charlotte Gainsbourg und Grace Jones engagierten ihn. Anders als sein Ex-Arbeitgeber, der Afrobeat vor allem als politisches Vehikel betrachtete, ging es Allen um das musikalische Potenzial: um eine artistische Sprache. Allens elliptische, in ewiger Vorwärtsbewegung den Beat umtänzelnde Shuffles konnten offensichtlich spielend Dub-, Elektro- und Hip-Hop-Einflüsse aufnehmen. Dabei scheint Afrobeat vorläufig ziemlich immun gegen Verkrustungen. Das Prinzip der Erneuerung sei in dieser Musik schon angelegt, findet der Schlagzeuger und kommt in Fahrt: «Der Afrobeat dehnt sich ständig aus. Seit über dreissig Jahren! Deshalb arbeite ich gerne mit Leuten zusammen, deren Musik nicht wie meine eigene klingt. Wenn ich junge Rapper begleite, dann habe ich eine Botschaft: Afrobeat geht mit jeder Art von Musik zusammen. Und alles wird anders!» – Auf eines ist bei Allen aber Verlass: das B-boom, B-boom, B-boom.
JONATHAN FISCHER
NZZ 27.10.2012

Volksmusik der Mega-Citys Unwiderstehlich und daheim verboten: Pop aus den Slums von Tansania

Die Band aus den Vororten der tansanischen Hauptstadt Daressalam hat bei der Wahl ihres Namens – Jagwa wie Jaguar – nicht die Raubkatze im Sinn gehabt. „Dege La Jeshi“ (Kisuaheli für Kampfflugzeug) verkündet ein Zusatz. Den Namen des britisch-französischen Kampfjets adaptierte Jagwa Music zu Zeiten des zweiten Golfkriegs Anfang der Neunzigerjahre, nachdem sich eine rivalisierende Combo nach der russischen Rakete Scud benannt hatte.

Die kriegerischen Allegorien passen zum Mchiriku, der hyperventilierenden Tanzmusik der tansanischen Jugend, bei der Geschwindigkeit, Lärm und Eleganz eine bemerkenswerte Allianz eingehen. Bei Jagwa Music erzeugen vier Trommler auf mit Fellen bespannten Plastikschläuchen und Holzschemeln den Beat-Unterboden. In den Höhen fiepen zwei bis zum Anschlag verzerrte Casio-Keyboards. Dazu skandiert ein MC Kisuaheli Volksliedtexte wie „Wasser fließt nie bergauf“ und „Respekt kannst du nicht kaufen“.

Ähnlich wie die kongolesischen Likembe-Orchester, die vor einigen Jahren mit ihren übersteuerten Fingerklavieren unter dem Label Congotronics in den Industrieländern Furore machten, verbreitet sich der Mchiriku gerade in europäischen und amerikanischen Clubs. Westliche Elektro-Produzenten, experimentelle DJs und Konzertpromoter entdecken den manischen Sound aus Tansania. Bands wie Animal Collective, Deerhoof, Wilco und der Hip-Hop-Avantgardist Flying Lotus haben sich bereits zu Fans des Mchiriku erklärt, experimentieren mit den quallenartigen Kontraktionen und Ausdehnungen, die den Soundkörper afrikanischer Straßenmusik prägen. Und das gerade wegen seiner radikalen Absage an Popkonventionen: „Wir hören keine westliche Musik“, sagt Kazimoto, der MC von Jagwa Music.

Ihr Debütalbum „Bongo Hotheads“ (Crammed Discs) wurde von dem deutschen Ethnologen Werner Gräbner live aufgenommen und vom Congotronics-Pionier Vincent Kenis abgemischt. Ansonsten kursiert Mchiriku nur auf Kassetten. Das passt zum Sound eines täglichen Überlebenskampfes. Zu Bars, in denen achtzigprozentiger mit Insektiziden gepanschter Alkohol ausgeschenkt wird. Zu den stets hoffnungslos überfüllten Dala Dalas, den Kleinbus-Taxis. Zur Schattenwirtschaft der Taxifahrer, Haltestellen-Ausrufer und Saftverkäufer, aus deren Milieu sich auch die Musiker von Jagwa Music rekrutieren.

Obwohl die Refrains der Mchiriku-Bands auf vielen der Dala Dalas prangen, ihre Songs über Treulosigkeit, Aids und Armut über jeden Markt plärren, hört man sie auch in Tansania nie im Radio. Zu zweifelhaft ihr Ruf, zu kriminell ihr Umfeld. In Daressalam sind nächtliche Club-Konzerte von Mchiriku-Bands deshalb schon seit Jahren verboten. Aufhalten lässt sich der Erfolg trotzdem nicht.

Bei einem Auftritt auf dem Roskilde-Festival in Dänemark hatten Jagwa Music mit ihrem so selbst gebastelte Sound innerhalb weniger Minuten mehrere tausend Rockfans auf ihrer Seite. Dass das alles auch mit Technik zu tun hat, verraten Bühnennamen wie Komputa und Diploma. Und doch bleibt die Intensität dieser Musik rätselhaft: Afro-Punk haben manche Kritiker den Mchiriku getauft. ihn mit zu schnell abgespieltem Hip-Hop oder handgemachtem Techno verglichen.

Das sind eher hilflose Versuche, einen Sound einzuordnen, der sich losgelöst von allen westlichen Popmoden im Unterholz afrikanischer Großstädte entwickelt hat. Man hört ihn ganz ähnlich auf den Straßen von Kinshasa und Dakar: Scharfkantige Trommelrhythmen, verzerrte Elektronik, Feedback-Schleifen. Und einen schmutzigen Drive, den westliche Musiker vergeblich im ausgeleierten Fundus des angloamerikanischen Pop suchen.

Genauso wie die verwandten Feedback-Orgien der kongolesischen Likembe-Orchester entwickelte sich der Mchiriku aus Notwendigkeiten: Als Anfang der Neunzigerjahre billige Casio-Keyboards aufkamen, ersetzten sei schon bald das indische Harmonium. Man konnte sie leichter transportieren, besser verstärken, und wenn man sie an die in Astgabeln und auf Dächern postierten Lautsprecher anschloss, schallte ihr schrilles, im eigenen Feedback schwimmendes Genudel über das ganze Viertel. So haben die Musiker aus den Slums von Daressalam ein Lärm-Hybrid geschaffen, das einen Nerv der westlichen Elektronik-Avantgarde trifft.

Gebrauchte Casio-Keyboards – und nur die sind für den Mchiriku tauglich – erzielen auf Ebay inzwischen hohe Liebhaber-Preise. Längst hat sich eine experimentelle Szene rund um deren Elektrosounds gebildet. Spannend wird es, wenn dem Casio nach stundenlangem Musizieren die Batterien ausgehen, und sich durch den Spannungsabfall ganz eigene Klangverschiebungen herausbilden. Erst dann klingt der Mchiriku „richtig“. Dieselbe urafrikanische Ästhetik, die einst für das Gitarren-Feedback oder das Scratching am Plattenspieler Pate stand, knistert, knackt und brummt heute durch die überforderten Verstärkeranlagen der Mchiriku-Bands. Zufällige Störgeräusche werden nicht eliminiert. Das vermeintlich Unsaubere wird zur Identität umgemünzt.

Wie immer, wenn der Pop neue Energiequellen entdeckt, macht er sich auch bald daran sie auszubeuten. So remixte letztes Jahr der Berliner Techno-Produzent Mark Ernestus ein Album mit quirliger Shangaan-Musik aus Südafrika. Er ging mit Jeri Jeri, einer senegalesischen Mbalax-Trommelgruppe ins Studio, um den Minimal-Techno aus ihren Rhythmen und Synthesizer-Riffs herauszukitzeln. Und die kongolesischen Likembe-Straßenorchester sind längst Inspiration für experimentierfreudige Rockmusiker.

Gerade in Tansania wird deutlich, was für eine Kraft die Musik aus den Randbezirken afrikanischer Megacities entwickeln kann. Sicherlich gibt es afrikanischen Pop, der professioneller klingt. Längst hat sich Hip-Hop auch auf dem Kontinent einer urbanen Jugend etabliert. Doch die Raps der Hip-Hop-Kids aus der Mittelschicht (vor Ort Bongo Flava genannt) laufen immer öfter auf übliche „Baby, Baby“ hinaus, die Beats kopieren zweitklassige amerikanische Vorbilder.

Der Sound der Armenviertel und Squatter-Camps kratzt dagegen weiterhin im Low-Fidelity-Bereich. Weil hier niemand Rücksichten nehmen muss. „Unsere Musik wird von den offiziellen Medien ignoriert“, sagt Jagwa-Music-MC Jackie Kazimoto. „Und für unsere Kassettenaufnahmen bekommen wir ein einmaliges Handgeld.“ Am Ende zählt nur die Anzahl der Füße, die zum Trommel-Getöse und Keyboard-Gefiepe des Mchiriku den Staub der Straße aufwühlt. Volksmusik im wahrsten Sinne des Wortes.
JONATHAN FISCHER
SZ , 22.10.2012

Wassermusik: Ein Pirogen-Ausflug auf dem Niger, dem größten Strom Westafrikas – und in die träge, friedliche Seele der malischen Hauptstadt Bamako

Eine Flussfahrt? Bourama Diallo springt auf, als habe er schon seit Wochen auf das Stichwort gewartet. Gerade döste der Mann in dem durchlöcherten T-Shirt und den Badelatschen noch im Schatten eines Mangobaumes – und sah den Wasserlilien-Inseln nach, die der breite Strom wie eine träge grüne Tierherde mitten durch Bamako treibt. Hier am Niger-Ufer scheint die Zeit fast still zu stehen. Männerrunden hocken um eine Kanne Pfefferminztee, und gelangweilte Kellner haben mangels Gästen das zauberhafte Fluss-Panorama von der Terrasse des Mande-Hotels allein für sich. Nun aber kommt Leben in das Dornröschen-Idyll. Der Bootsführer ruft nach seinem Gehilfen, schraubt mit geübten Handgriffen am Außenbordmotor der Fluss-Piroge, rückt die vergilbten Sitzmatten zurecht. Bis März diesen Jahres war das tägliche Routine. Die malische Hauptstadt zog Scharen westlicher Reisender an, die hier an den Ufern des Niger ein grünes Paradies vorfanden. Das Afrika ihrer Träume. Und das nicht nur in den alten Kolonialvierteln, wo man zwischen uralten Baumbeständen und Parkanlagen von Markt zu Markt flanieren kann. Sondern auch im Nacht-Leben der Stadt.

Da locken Open Air-Restaurants mit lässig swingenden Afrobeat-Orchestern. Kann man in Clubs wie dem „Obama Balafon“ bei einer Shisha-Pfeife örtliche Rapper auschecken. Oder in der Bar America zu den malischen Soulgesängen von Ben Zabo tanzen. Bamako hat afrikanische Club-Geschichte geschrieben: So werden die Fotografien, die Malick Sidibe in den 60er-Jahren von euphorischen Tänzern schoss, inzwischen rund um die Welt als Blick in eine Aera des afrikanischen Aufbruchs gefeiert. Doch ihr Geist lässt sich auch heute noch finden. So wie Sidibes Studio immer noch Besucher anzieht, die sich hier im Original-Ambiente von einst porträtieren lassen, hält auch die lokale Musikszene – anders als in vielen anderen Großstädten Afrikas – an ihren Traditionen fest. Die Ngoni-Laute, die Kora-Harfe oder das Balafon- ein großes Xylophon – bringen die Menschen genauso zum Tanzen wie Computer-Beats. „Wir in Mali“, hatte Moussa Mariko, der Direktor des Ensemble National Instrumental du Mali, erklärt, „hören immer noch die Musik unserer Vergangenheit. Selbst die HipHopper lassen traditionelle Instrumente sprechen, und rappen in lokalen Sprachen wie Bambara, Songhai oder Senufo“. Und wer Glück hat, spaziert in eine Straßen-Hochzeit hinein: Dann wird er einen Griot-Musiker über den großen Fluss singen hören. „Bajouru“. Das Lied, das die Griots – so heißen die singenden Chronisten hier – seit fast achthundert Jahren in ihrem Repertoire haben, handelt davon, wie der erste von ihnen sein Instrument, die Ngoni-Laute, geschenkt bekam. Als er auf dem Niger fuhr, schwamm ein Wassergeist heran und überreichte sie ihm. Seitdem sind Fluss und Musik eng miteinander verbunden. Beide tragen ihre uralten Geschichten und Sagen von Generation zu Generation fort. Auf dass die Schönheit des Niger auf die Welt abstrahle.

Doch seit März gleichen die meisten Touristenhotels Bamakos Geisterschiffen, sind Bourama wie auch seine Bootsführer-Kollegen praktisch arbeitslos. Damals überrollten gleich mehrere Katastrophen Mali: Im Norden übernahmen bewaffnete Islamisten die Kontrolle. Sie zerstörten in Timbuktu uralte Sufi-Heiligtümer und setzten die Scharia ein. Musik, Tanz, Theater: Alles, was die uralte malische Kultur ausmachte, das war in ihrem Herrschaftsbereich plötzlich verboten. Kurz danach putschte die frustrierte malische Armee in Bamako. Daraufhin zogen die meisten Hilfsorganisationen ihr Personal ab, erließen viele westliche Staaten Reisewarnungen. „Warum bestrafen sie uns auch noch, anstatt uns zu helfen? Wir haben die westlichen Besucher doch immer gut behandelt. “ Bourama spricht aus was viele Malier denken. Tatsächlich ist Bamako für westliche Touristen nach wie vor eine der sichersten Städte Afrikas. Keine Spur von Belagerungszustand. Vielmehr gleichen seine Straßen einem großen Markt: Jeder, der auch nur ein paar Mangos oder getrocknete Fische zu verkaufen hat, bietet sie am Straßenrand feil. Telefonkartenverkäufer dösen vor ihren Ständen. Eselskarren zuckeln zwischen Trauben von Mofas. Ja, fast hat man das Gefühl, der träge, friedliche Strom habe der ganzen Stadt seinen Rhythmus aufgeprägt. Breit wie ein See durchschneidet der Niger Bamako, und ragten in der Ferne nicht ein paar Hochhäuser über die Akazien, könnte man vom seinem Ufer aus die Stadt glatt vergessen.

Sobald Bouramas Piroge Fahrt aufgenommen hat, ist außer dem leisen Tuckern des Außenbordmotors kaum noch etwas zu hören. Ein Baldachin spendet zum Glück Schatten. Und der Fahrtwind streichelt als schwüle Brise die Haut. Wie könnte man der Mittagshitze Bamakos angenehmer ausweichen als hier, mitten auf dem größten Fluss Westafrikas? Der Himmel spiegelt sich auf der leicht gekräuselten Wasseroberfläche. Nur ab und zu fliegt ein Reiher aus den treibenden Pflanzenknäueln auf. Die einzigen anderen Menschen in Sichtweite sind Fischer, die wie vor hundert Jahren von ihren Einbäumen aus Netze werfen. Eine Flussfahrt auf dem Niger – das ist auch eine Zeitreise in ein Afrika, das sich seit den Postkarten aus der Kolonialzeit kaum verändert zu haben scheint. Wäscherinnen mit auf den Rücken gebundenen Kindern. Badende junge Frauen, Männer, die ihre Reusen auslegen. Auf Inselbüscheln stehen primitive Schilfhütten. So ähnlich muss es hier schon ausgesehen haben, als der schottische Entdecker Mungo Park im Jahre 1796 als erster Europäer den Fluss erblickte. Lange war der Lauf des Niger ein Mysterium gewesen – fließt er doch von seiner Quelle in den Bergen Guineas erst einmal in weitem Bogen von der Küste weg nach Norden bevor er nach einem Knick hinter Timbuktu durch Niger und Nigeria wieder auf den Atlantik zuläuft. Seinen Namen hat der drittgrößte Strom Afrikas wohl aus der Sprache der Tuareg: Egerew n-igerewen nennen sie ihn.Was soviel wie bedeutet wie: Fluss der Flüsse. Tatsächlich ist der Niger die Lebensader Malis, ernähren Fischfang und Ackerbau entlang seiner Ufer Millionen Westafrikaner.

Ein paar Kilometer stromaufwärts hat der Fluss sich tief in die rötliche Erde gefressen. An der Uferböschung: Goldwäscher, Männer, Frauen und Kinder, die ihre Siebe im Wasser rütteln. Mali besitzt reiche Goldvorkommen. Doch davon bekommen die einfachen Menschen hier wenig mit: Die Claims sind zumeist an internationale Konzerne verpachtet, aber an den Ufern des Niger darf jeder sein Glück versuchen. Und wer kein Gold findet, dem bleibt immer noch der Sand. An einer flachen Landestelle liegen Dutzende von Holzbarken schwer beladen im Wasser: In Teams schaufeln Jugendliche den Sand, den sie zuvor Eimer für Eimer aus der Flussmitte hochgezogen haben auf Tragen. Harte Akkord-Arbeit. Abnehmer sind örtliche Bauunternehmen. Sie verschaffen auch den Bootsbauern nebenan ihre Arbeit. Ein paar Bretter, Äxte, Hämmer, Nägel und Pech: Mehr brauchen sie nicht um die breiten und bis zu acht Meter langen Barken herzustellen. Drei Tage, erklärt der Chef eines Bautrupps, bräuchten er und seine drei Mitarbeiter für ein Boot. Verkaufspreis: 6000 malische Francs. Das sind umgerechnet gerade mal zehn Euro. Allerdings sei die Arbeit immer noch besser bezahlt als die der jungen Frauen nebenan: Sie waschen große Bündel verschmutzter Plastiktüten in der trüben Brühe des Niger, um sie anschließend wieder auf dem Markt zu verkaufen.

Nur wenige hundert Meter weiter leuchten am Ufer mehrstöckige Villen im Hollywood-Stil. Der Kontrast zwischen dem Leben des Durchschnitts-Arbeiters und dem der lokalen Haute-Volee könnte nicht augenfälliger sein. Besonders drastisch wirkt dieser Bruch an der großen Brücke, die vom Regierungsviertel über den Niger führt. Da verkaufen Kinder Erdnüsse vor dem Rohbau eines Luxushotels. Spiegeln sich die Eselsgespanne in den Glasfassaden der Ministerien.Protzige Palastgebäude im maurischen Stil. „Alles mit Bestechungsgelder von Gaddafi gebaut“, hatten die lokalen Rapper von Tata Pound geschimpft. Ihr Song „Mere Zoun“ (Mutter Dieb) über den ehemaligen Präsidenten Amadou Toumani Toure kennt trotz Zensur jedes Kind in Mali. „Er hat der Regierung Millionen geschenkt. Und sie hat ihm dafür freie Hand mit seinen malischen Söldnern gelassen“. Gaddafis Geschenke haben bei den Maliern einen schlechten Nachgeschmack hinterlassen. Als dessen Tuareg-Söldner nach dem Krieg aus Libyen mit ihren schweren Waffen in den Norden Malis zurückkehrten, riefen sie im Verbund mit islamistischen Milizen ihren eigenen separaten Staat aus. Später rissen dann die Islamisten die Macht ganz an sich. In Bamako sind die Schreckensmeldungen aus dem Norden Tagesgespräch. Selbst unpolitische Popstars wie der Griot Bassekou Kouyate singen inzwischen über die Bedrohung ihrer Kultur: „Sie wollen unsere ganze Lebensart austauschen,“ donnert er bei einem Club-Auftritt gegen die Islamisten, „sie verbieten die Musik, den Tanz, den Alkohol, das Fernsehen. Wir wollen aber keine importierte Scharia, wir haben eine jahrhundertelange Tradition des friedlichen Zusammenlebens.“ Bourama stimmt dem zu. Der malische Islam sei eine Religion der Toleranz. „So wie der Fluss strömt auch das Leben in vielen verschiedenen Seitenarmen“.

Kurzer Halt an einem Krokodil-Reservat auf der gegenüberliegenden Uferseite: In zwei Beton-Becken dümpeln die Echsen vor sich hin. Ab und zu steckt eines der Jungkrokodile seine schmale Schnauze aus dem trüb-grünen Wasser – und eine Schar malischer Kinder kreischt begeistert auf. Bourama hat währenddessen seine Gebetsmatte am Ufer entrollt. Mit dem Ruf des Muezzins kommt das Straßenleben in Bamako vielerorts zum Stillstand. Und selbst ein Touristenführer sollte – soweit möglich – die Gebetszeiten einhalten. Weil gerade Ramadan ist, hat Bourama nicht mal eine Trinkflasche an Bord. Nein, Essen und Trinken könne bis Einbruch der Dunkelheit warten. Die Sonne steht bereits tief über dem Niger, als unsere Piroge wieder in Richtung Altstadt übersetzt. Im Gegenlicht zeichnen sich die drei Hügel über Bamako als dunkle Silhouetten ab. In Ufernähe werfen die Fischer ihre Netze aus, winken freundlich. Was sie gefangen hätten? „Capitaine“. So heißt hier der Nilbarsch, ein bis zu 90 Kilo schwerer Fisch, der auf keiner Speisekarte Bamakos fehlen darf. Allerdings würden die Hotel-Restaurants seit dem Ausbleiben der Touristen den Fischern kaum noch etwas abnehmen. Ihr Einbaum ist mit bunten Zeichen bemalt – traditionelle Symbole für die Wassergeister, die den Niger seit Jahrhunderten bevölkern. Am liebsten ist Bourama die Flussgöttin Faro. Der Legende nach eine Frau mit schwarzem, ebenholzartigem Haar, die den Niger schützt und Feinde abwehrt. „Wir brauchen dringend ihre Hilfe. Denn wir alle leben vom Fluss“. Es klingt wie eine Beschwörung. Ein Gebet, dass das zähe Warten unter dem Mangobaum bald ein Ende haben möge. .
JONATHAN FISCHER
SZ 18.10.2012

Spiele nicht das, was da ist. Spiele, was nicht da ist.“ Miles Davis gab diese Regel Ende der sechziger Jahre aus, als er anfing, mit Elektronik zu experimentieren, die Jazz-Orthodoxie gegen Rock-Fusion-Sounds eintauschte und den eigenen Spielraum mit wunderbar verträumten, zirkulären Grooves erweiterte. Das Album hieß „In A Silent Way“.

Wenn heute ein junger Hiphop-Produzent aus Los Angeles die Dynamik der Stille wiederentdeckt und das Weglassen als Kompositionsprinzip praktiziert, sind die Bezüge offensichtlich. „Until The Quiet Comes“ heißt Flying Lotus‘ meditatives Meisterwerk. Und wenn es um die mutige Erforschung einer neuen Formensprache geht, dann hegt der junge Elektroniker aus Los Angeles ganz ähnliche Ambitionen wie der Fusion-Pionier vier Jahrzehnte zuvor. Damals traf Schönheit auf Verstörung, statisch aufgeladene Sphäre („In A Silent Way“) auf mächtige Bass-Gewitter („Bitches Brew“). Flying Lotus ist der Miles Davis der Gegenwart. Wenn Letzterer permanent die Grenzen des Jazz verschob, erweitert der 28 Jahre alte Laptop-Komponist radikal…

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Er meditiert gern: Flying Lotus ist der Miles Davis der Gegenwart: Mit „Until The Quiet Comes“ legt er ein verstörend schönes Album zwischen Hiphop und Traumwandlerei vor

Spiele nicht das, was da ist. Spiele, was nicht da ist.“ Miles Davis gab diese Regel Ende der sechziger Jahre aus, als er anfing, mit Elektronik zu experimentieren, die Jazz-Orthodoxie gegen Rock-Fusion-Sounds eintauschte und den eigenen Spielraum mit wunderbar verträumten, zirkulären Grooves erweiterte. Das Album hieß „In A Silent Way“.

Wenn heute ein junger Hiphop-Produzent aus Los Angeles die Dynamik der Stille wiederentdeckt und das Weglassen als Kompositionsprinzip praktiziert, sind die Bezüge offensichtlich. „Until The Quiet Comes“ heißt Flying Lotus‘ meditatives Meisterwerk. Und wenn es um die mutige Erforschung einer neuen Formensprache geht, dann hegt der junge Elektroniker aus Los Angeles ganz ähnliche Ambitionen wie der Fusion-Pionier vier Jahrzehnte zuvor. Damals traf Schönheit auf Verstörung, statisch aufgeladene Sphäre („In A Silent Way“) auf mächtige Bass-Gewitter („Bitches Brew“). Flying Lotus ist der Miles Davis der Gegenwart. Wenn Letzterer permanent die Grenzen des Jazz verschob, erweitert der 28 Jahre alte Laptop-Komponist radikal die Sprache des Hiphop.

„Die Beats haben sich doch längst von der Straßenkultur abgekoppelt“, erklärt Steve Ellison alias Flying Lotus, „es gibt keine Tabu-Ideen mehr. An vielen Orten der Welt ändern sich gerade die Spielregeln des Hiphop.“ Die alte Straßenmentalität sei im Aussterben begriffen. Seit zehn Jahren schon schleicht Flying Lotus links und rechts der Hip-hop-Highways entlang: immer einen Beat neben der Spur. Immer den einen sphärischen Sound voraus. In seiner „Low End Theory“-Clubnacht in Los Angeles hat er ein Kollektiv experimentierfreudiger, junger Elektronik-Bastler um sich gesammelt: DJs und Laptop-Bastler wie Gonjasufi, Jeremiah Jae oder Gaslamp Killer, die sich als spirituelle Community begreifen, sich nicht mehr durch Industrienormen filtern lassen und nur noch im Netz oder auf Lotus‘ eigenem Brainfeeder-Label Musik veröffentlichen. Ihre Musik haben Kritiker mangels besserer Begriffe kurzum „glitch hop“ getauft. Glitch wie Macke. Flying Lotus hatte bereits 2008 mit seiner LP „Los Angeles“ Hiphop ins Säurebad getaucht. Der Nachfolger „Cosmogramma“ ließ seine Jazz-Ambitionen – Ellison ist der Großneffe von John Coltrane – noch deutlicher anklingen.

Noch nie allerdings klang der junge Produzent so dunkel und mystisch wie auf seinem dritten Album für das Techno-Label Warp. Nie klang er leiser. Und selten war eine Stille so verführerisch. Auf „Until The Quiet Comes“ lässt Flying Lotus die Straßen von Los Angeles endgültig hinter sich – um sich auf eine surreale Reise zu begeben. Sein neues Werk ist ein Märchen, das Los Angeles nur noch als Startrampe für ein kosmisches Szenario braucht. Man kann sich gut das stille Rauschen um drei Uhr nachts vorstellen, wenn der Produzent aus dem Studio tritt, den Sternhimmel über den Hollywood Hills betrachtet und sich die überwältigende Ruhe des Kosmos auf ihn herabsenkt: „Ich weiß nicht wirklich, woran es liegt. Wir sind hier alle ein bisschen entspannter als etwa in Chicago oder New York. Wir schauen auf den Pazifik und fühlen die Weite des Weltalls. Und wir sind eine Filmstadt. Wir wollen Geschichten erzählen.“

Die harschen Brüche von einst: Sie spielen auf dem neuen Album kaum noch eine Rolle. Stattdessen: abstrakte, traumartige Sphären-Beats. Glockengebimmel erinnert an Tempelmusik, Harfen-Melodien an Tante Alice Coltrane, in deren Aschram Flying Lotus aufwuchs und mit ihr über ihre spirituellen Studien redete. Alles flirrt wie ein Traum. Doch von Easy Listening ist Flying Lotus weit entfernt. Gerade wenn die ätherische Schönheit einzulullen droht, fährt ein Basskick oder ein verzerrter Synthesizer dazwischen, grollt es bedrohlich aus der Tiefe. Nie klang seine Soundpalette dynamischer: Ständig oszilliert sie zwischen Höhen und Tiefen, bewegt sie sich vom Dunklen zum Hellen, vom Weichen zum Harten und zurück. Steve Ellison geht es dabei nicht nur um Soundeffekte, sondern um die Dynamik des menschlichen Unterbewusstseins und die Vermittlung einer spirituellen Welt, die im Hiphop – mit Ausnahme von J. Dilla oder RZA – eher ein Tabu darstellt. „Dieses Album ist eine Erzählung mit Anfang, Mittelteil und Ende. Ich brauche diese Struktur. Denn vieles meiner Arbeit kommt aus dem Unterbewussten. Wenn ich mit einem Stück anfange, weiß ich nie, wie es einmal klingen wird. Seine Entstehung ist immer ein Mysterium.“ Man könnte „Until The Quiet Comes“ auch als Science-Fiction-Suite in drei Teilen beschreiben: mit einer Eröffnungssequenz („Until The Colours Come“, „Heaven“, „All In“), die einen Zustand tiefer Versenkung markiert, einem heftigen, bisweilen klaustrophobischen Mittelteil und einem Abspann, der alle Ängste in weite, lichte Räume („Phantasm“, „Dream To Me“) auflöst.

Steve Ellison meditiert täglich, bevor er den Computer hochfährt. Und er berichtet davon, seit seiner Kindheit regelmäßig Zustände zu erleben, in denen er aus seinem Körper tritt und durch den Raum schwebt. Er wolle das nicht in Beats übersetzen. Aber Stücke wie „Tiny Tortures“ können den Hörern zumindest eine Ahnung geben: Da erzeugen simulierte Holzblöcke, zischende Becken und Zimbeln einen geisterhaften Beat, bevor Thundercats Bassgitarre mit melodisch gleitenden Läufen einsetzt: unwirklich schön. An anderer Stelle konterkarieren schwankende Keyboard-Riffs einen Rhythmus aus Gongs und Händeklatschen, schweben wie in „Getting There“ Engelsgesänge aus dem Off heran.

Später verdickt sich die Atmosphäre: Da wachsen dem ätherischen Klangkörper auch mal irdische Beine, erinnern blockige Synthie-Beats an Computerspiele, schimmert das Hiphop-Erbe von Flying Lotus durch wie im Instrumental „The Nightcaller“. Es sind die popaffinsten Momente eines Albums, das ganz und gar den hermetischen inneren Welten Steve Ellisons folgt. Selbst die Gäste ordnen sich radikal unter: Sängerinnen wie Erykah Badu oder Laura Darlington liefern weniger Rhythm-&-Blues-Gesänge als Materialfäden, die Flying Lotus in seinen flirrenden Soundteppich einwebt. Auch Radiohead-Sänger Thom Yorke taucht als Geisterstimme über einem Rumpelbeat auf – eine atmosphärische Marke, nicht mehr.

Ellisons Bestreben, Bewusstseinserweiterung in Musik zu übersetzen, deutet gleichzeitig vor und zurück: in eine noch zu gestaltende Zukunft des Hip-hop und in eine Vergangenheit, in der Pharoah Sanders, sein Onkel John und seine Tante Alice den Jazz in kosmische Gefilde entführten. Flying Lotus übersetzt deren Ideen in ein revolutionäres elektronisches Ambiente. Spiele, was nicht da ist! Das funktioniert für den Coltrane-Neffen nur durch beständige spirituelle Selbsterforschung, die Überschreitung des eigenen Ego. Ideen, sagt er, seien ihm wichtiger als die richtige Software. Und nur wo Leere sei, könne Neues entstehen. Wohl auch deshalb pflegt der Beatbastler, dem gerade die gesamte Hipster-Welt zu Füßen liegt, eine fast mönchische Arbeitsdisziplin: „Musik zu produzieren ist für mich eine Form von Meditation! Du bist hypnotisiert und in Trance. Und das mache ich täglich auf einer 8-to-5-Basis: Sobald ich aufwache, fange ich mit der Arbeit an und höre erst abends wieder auf, wenn ich high bin.“ Klar, dass dieser Mann die Hoffnungen des unorthodoxen Hiphop repräsentiert. Nicht nur, weil er im Interview Vokabeln wie „motherfuckin'“ und „meditating“ kombinieren kann. Sondern weil er dem chartgesättigten Genre endlich wieder ein Stück Unberechenbarkeit schenkt.
JONATHAN FISCHER
FAZ, 18.10.2012

Man, you got the spirit – Der Drummer Max Weissenfeldt über Sessions mit Dr. John, Pop, Weltmusik und Coolness

Max Weissenfeldt gründete zusammen mit seinem Bruder Jan 1990 in München die Indie-Funk-Band Poets of Rhythm. Seitdem hat er als Bandleader und Musiker in diversen Formationen (Whitefield Brothers, Das Goldene Zeitalter) über 30 Schallplatten veröffentlicht. Er lernte von den Weltmusik-Pionieren Embryo, dem amerikanischen Jazzschlagzeuger Marvin „Bugalu“ Smith, dem indonesischen Komponisten Gutama Soegijo und dem ghanaischen Meistertrommler Mustapha Tettey Addy. Heute gilt er als stilprägender Schlagzeuger und Wegbereiter bei der Verschmelzung traditioneller asiatischer und afrikanischer Musik mit urbanem Soul. In den vergangenen Monaten hat er Thomas Ostermeiers „Othello“ an der Berliner Schaubühne begleitet, Hip-Hop-Beats für ghanaische Rapper produziert, in Ghana einen Film gedreht und nicht zuletzt mit Dan Auerbach von den gefeierten Black Keys „Locked Down“ aufgenommen, das neue Album der amerikanischen Vodoo-Soul-Legende Dr. John.

SZ: Herr Weissenfeldt, wie kommen Sie als deutscher Schlagzeuger dazu, ein Album mit Dan Auerbach und Dr. John in Nashville aufzunehmen?
Max Weissenfeldt: Das kommt wohl daher, dass ich mir, seitdem ich am Schlagzeug sitze, das Soul-Drumming zu meiner zweiten Natur gemacht habe. Dan Auerbach wusste und schätzte das und so habe ich genau in seine Vision, die er von der Dr. John Platte hatte, gepasst.

SZ: Auch in die von Dr. John selbst?
Weissenfeldt: Ich hatte für ihn einen kleinen Beat erfunden, der auf einem 12/8-Rhythmus basiert aber die Betonung ein wenig verschiebt. Dieser schwebende Groove hat ihm sehr gefallen. Jedenfalls hat er mir deswegen mehrmals Komplimente ins Ohr geflüstert: „Man, you got the right spirit.“

SZ: Sie sind mit ihm im April auch eine Woche lang in der Brooklyn Academy of Music aufgetreten. Wie muss man sich die Zusammenarbeit mit einer Musiklegende wie ihm vorstellen?
Weissenfeldt: Als New Orleans-Original und ordinierter Voodoo-Priester ist der Mann randvoll mit Geschichten – und ein Lehrmeister in punkto Coolness. Am ersten Tag der Plattenaufnahmen stellten wir „Young Lions“ uns auf die Hinterpfoten, wollten wir ihn unbedingt beeindrucken. Am zweiten Tag kam Dr. John mit einer berühmten Revuetänzerin aus New Orleans zur Session. Die fing dann an sich vor dem Studio im Bikini in der Sonne zu aalen – und wir fühlten uns wieder wie sehr kleine Jungs.

SZ: Nicht nur an der Seite von Dr. John fungieren Sie als Mittler zwischen afrikanischen und afroamerikanischen Traditionen. Sie sind in den letzten Jahren mehrmals zu den Voodoo-Wurzeln nach Westafrika gepilgert und planen gerade ein Zweit-Studio in Ghana einzurichten.
Weissenfeldt: Durch meine Reisen hoffte ich, ein tieferes Verständnis der traditionellen afrikanischen Musik zu bekommen. Andererseits liebe ich es einfach, mit heimischen Musikern zu jammen. So entstand in Kumasi, dem Sitz des Ashanti-Königs, die Idee, zusammen mit örtlichen Trommlern eine Suite mit überlieferter ghanaischer Musik für den König auszuarbeiten. Als wir damit anfingen habe ich festgestellt, dass viele der jungen Menschen in den grossen Städten ihre traditionelle Musik, mit der ich mich vor der Reise anhand musikethnologischer Aufnahmen befasst hatte, nicht wirklich kannten…

SZ: Ausgerechnet ein deutscher Schlagzeuger bringt den Afrikanern ihre eigenen Traditionen nahe?
Weissenfeldt: Ich will nicht den Missionar geben. Aber als ich jungen Musikern alten Highlife der 60er und 70er Jahre vorgespielt habe, waren die ziemlich überrascht. Sie hatten den Zugang zu der Musikkultur ihrer Väter und Grossväter verloren, da diese Musik mit ihren Akteuren einfach erloschen ist. Ich versuche nun, wenn ich mit jungen Musikern aus Ghana spiele, die Begeisterung an der eigenen Tradition bei ihnen zu wecken – und zwar, indem ich weiterführende Ideen in ihrer musikalischen Sprache anrege. Tradition macht nur dann Sinn, wenn sie sich bewegt. Alles andere ist Konservierung und alles Konservierte wird irgendwann ungeniessbar. Dass hingegen die seit Jahrhunderten tradierte Musik in den ländlichen Gegenden noch lebendig ist, hat mir in der Folge eine Reise durch die Küsten- und Regenwaldregionen des Landes gezeigt. Was ich da gehört habe hat mich schwer beeindruckt. Diese Eindrücke habe ich in dem Film „Ghana Panorama“ festgehalten.

SZ: Sie gelten heute als Vorreiter der Fusion von Funk und ethnischer Klänge. Wie kamen Sie als junger Hip-Hop-Fan dazu, sich für abseitige afrikanische oder sogar asiatische Rhythmen zu interessieren?
Weissenfeldt: Notwehr. Ich war Plattensammler. Beim tagelangen Wühlen in Second-Hand-Plattenläden schweifte ich irgendwann notgedrungen zum Ethno-Fach ab. Soul Platten waren in den neunziger Jahren begehrt und deshalb teuer. Afrikanische und asiatische Volks- und Kunstmusik wurde hingegen verschleudert. Die Frage war also: Eine James Brown Platte für 50 Mark oder 50 Ethnoplatten, die zudem noch viel spannender waren, für eine Mark? So ging es los. Aber mein Handwerk habe ich erst durch Christian Burchard von Embryo gelernt. Ohne die Tourerfahrung mit den Münchner Weltmusik-Pionieren wäre ich nicht so leicht in Kontakt mit Musikern aus aller Welt gekommen.

SZ: Sie spielen außerdem in einer Gamelan-Gruppe, haben die einzigartige Kompositionsmethodik des indonesischen Komponisten Gutama Soegijo studiert.
Weissenfeldt: Ich hatte Gutama nach einem Konzert in Berlin angesprochen und gefragt, ob er mir seine Musik erklären mag. Er lud mich daraufhin zu einer Probe ein. Gutama lehrt, indem er einen einfach mitspielen lässt – ganz ähnlich wie bei Embryo. Immer wenn ich eine Frage hatte, kreierte er für mich kurze Übungen, die alles beantworteten. Inzwischen habe ich mir ein Studio neben seinem Proberaum in Berlin eingerichtet – so dass ich die Gongs und Metallophone des Gamelan immer um mich habe.

SZ: Der Weg vom HipHop zur Gamelan-Musik lässt sich dann aber doch nicht so ohne Weiteres nachvollziehen.
Weissenfeldt: Als ich Teenager war fing die Entdeckungsreise, wie bei vielen meiner Generation, mit Hip-Hop an. Von Eric B & Rakim zu James Brown. Von James Brown zu den Meters. Dann wuchs mir der Bart und es ging von New Orleans und dem Jazz weiter zurück zu den afrikanischen Rhythmen. Dort angekommen war plötzlich das Interesse für alle Winkel der Welt da.

SZ: Sie kommen gerade von einer weiteren Session mit Dan Auerbach und der Tuareg-Gruppe „Bombino“ aus Nashville zurück. Gehört der afrikanischen Musik die Zukunft des Pop?
Weissenfeldt: Ich merke schon, dass es in der Popwelt einen großen Hunger nach neuen Inspirationsquellen gibt, nach unverbrauchten Rhythmen jenseits des altbekannten Rock’n Roll-Universums. Afrika ist da einfach Nummer 1.

SZ: Von den Black Keys bis Kanye West und Damon Albarn scheint die ganze Popwelt inzwischen Ihre Musik zu bewundern. Für Ende des Jahres steht eine Kooperation mit dem amerikanischen HipHop-Produzenten Madlib auf dem Programm. Auf Ihren ersten eigenen großen Hit warten Sie aber immer noch.
Weissenfeldt: Hits kommen und gehen wann sie wollen – da warte ich lieber nicht.

editierte Version eines Interviews, das am 3.10. in der SZ erschien
JONATHAN FISCHER