Monatsarchiv: September 2012

„Ich fühle den Schmerz Amerikas“ – Moslem, Albino, fast blind: Dennoch, oder gerade deswegen gehört der Rapper Brother Ali aus Minneapolis zu den eigenwilligsten und meist respektierten Stimmen des HipHop. Sein neues Album provoziert mit der Verknüpfung von Islam, amerikanischem Patriotismus und Sozialkritik

jetzt.de: Du hast gerade mit „Mourning for America, Dreamin in Colors“ das wohl politischste HipHop-Album des Jahres veröffentlicht. Was bedeutet der Titel?

Brother Ali: Unsere Gesellschaft in Amerika ist am Zerbröckeln, überall siehst du Schmerz, Leiden und Agonie. Das kommt von dem tiefen Riss zwischen den verschiedenen Klassen. Die Mittelschicht war lange ein Puffer zwischen der reichen Elite und den Massen. Jetzt ist die Elite so gierig geworden, dass selbst die Mittelschicht ihre Privilegien verliert und von Armut bedroht wird. Damit einher gehen eine Menge Zorn, Angst – aber auch politisches Engagement: Ich sehe die Situation als Chance. Deswegen habe ich das Album „Mourning for America“ um den Zusatz „Dreamin in Colors“ erweitert. Das war ursprünglich ein eigenes Projekt, in dem ich von meinen positiven Erfahrungen der vergangenen Jahre erzählen wollte: der elektronischen Lesehilfe, mit der ich trotz Erblindung wieder Bücher studieren kann. Oder meiner ersten Pilgerreise nach Mekka.

Was hast du von dieser Reise mit gebracht?

Ich habe vom Teenager-Alter an den Islam praktiziert. Die Moschee war für mich der Ort, wo es nicht zählte, ob ich weiß oder schwarz bin, mein Wert nicht danach bemessen wurde, ob ich Albino oder blind bin. Aber nun habe ich dieses Prinzip der Brüderlichkeit das erste mal in einer Menge von vielen Millionen Menschen erlebt: Es war das Schönste, was mir im Leben passiert ist. Jedermann wurde Frieden, Würde und Gerechtigkeit zugesprochen. Diese Erfahrung motiviert mich, für meine Mitbürger einzutreten. . .

. . . auch wenn du letztens wegen deiner Teilnahme an einer Aktion von Occupy Homes in Minneapolis verhaftet wurdest?

Für mich treffen sich da mein Glaube und mein Verständnis von HipHop. Leuchtet nicht jeder gute Rapsong den Kontrast zwischen unseren Hoffnungen und der Wirklichkeit aus? Um endlich zur Aktion zu rufen?

Das Cover deines neuen Albums zeigt dich in Gebetshaltung auf einer amerikanischen Flagge Sie wurden dafür scharf kritisiert.

Ich bete auf der Flagge für die Gesundheit Amerikas. Dass es endlich werden möge, was es immer versprochen hat: ein Land der Möglichkeiten für alle. Amerika gründet doch auf dem Prinzip, dass alle menschlichen Wesen gleich erschaffen sind, sie von ihrem Schöpfer mit Rechten versehen wurden, die ihnen niemand nehmen darf.

Was ist an dem Bild dann so anstößig?

Vordergründig geht es darum, dass die amerikanische Flagge einem Ehren-Code zufolge niemals am Boden liegen darf. Aber der wahre Grund für die Empörung ist wohl ein anderer: Dass es viele Leute nicht aushalten, die amerikanische Flagge im Zusammenhang mit dem Islam zu sehen. Sie glauben, dass es nicht zusammenpasst, ein stolzer Muslim und ein stolzer Amerikaner zu sein. Dass sich beides ausschließt. Aber das stimmt nicht. Ich kämpfe gegen dieses Denken an, das die Leute aufgrund vermeintlicher Identitäten auseinander dividiert.

Wie fühlt es sich für dich an, wenn du siehst, welcher Hass auf Amerika sich gerade in der islamischen Welt entlädt?

Um es gleich mal vorwegzunehmen. Ich habe mir eine Tabelle angeschaut, die zeigt, wie viele Muslims weltweit wirklich an den gewaltsamen Protesten gegen amerikanische Einrichtungen teilnehmen. Das ist ein verschwindend geringer Anteil. Fünf- oder Sechstausend Demonstranten – rechnen Sie das mal hoch auf eine Weltbevölkerung von 1,5 Milliarden Muslime! Aber die Berichterstattung unserer Medien kann uns glauben machen, dass jeder Muslim auf der Welt Amerika hasst. Auf der anderen Seite sind viele Menschen eben nicht wütend auf Amerika, weil sie Muslime sind, sondern weil Amerika sie schlecht behandelt, ihre Menschlichkeit und Würde nicht respektiert. Wir nutzen unsere militärische Macht, um uns genehme Regierungen einzusetzen und die Bodenschätze anderer Länder zu plündern. Wir schicken bewaffnete Drohnen, die Häuser und Dörfer zerstören. Da reagiert eine Minderheit eben mit dem einzigen Mittel, das ihnen offensichtlich Gehör verschafft: Gewalt. Und sie behält Recht damit, weil wir allein auf Gewalt reagieren. In ihrer Vorstellung steht alles Geld, alle Macht, alle militärische Stärke der Welt gegen sie und ihnen hilft nur ihr Glaube. Wenn dann noch jemand ihren Glauben lächerlich macht, was bleibt da übrig?

Hegst du etwa doch gewisse Sympathien für die gewalttätigen Demonstranten gegen Amerika?

Nein, wahrer Glaube bedeutet, auf Gottes letztendliche Gerechtigkeit zu vertrauen, sich auch angesichts offensichtlichen Unrechts zu gedulden. Der Koran sagt: Wenn du eine unschuldige Person tötest, tötest du die ganze Menschheit. Unsere Religion steht gegen den Terrorismus. Wir dürfen uns nur verteidigen, wenn uns jemand nach dem Leben trachtet. Es gibt eine Menge Muslime auf der Straße, die von den Gewaltszenen vor den amerikanischen Botschaften entsetzt sind, weil das nicht repräsentiert, wer wir sind. Der Prophet Mohammed wurde zu Lebzeiten oft beschimpft. Und er begegnete selbst denjenigen, die ihn beleidigten, mit Güte, Wohlwollen und Liebe. Er rief nur zum Schwert, wenn es darum ging, das Leben seiner Anhänger zu schützen.

Du bist einer der religiös und politisch explizitesten Rapper Amerikas. Begegnest du als Moslem auch im Alltag Vorurteilen?

Wir haben in Amerika sehr höfliche Umgangsformen, da erfährt man nicht unbedingt, was andere Menschen über einen denken. Diese Toleranz schätze ich. Andererseits stößt es mir immer wieder auf, mit welcher Selbstverständlichkeit meine Landsleute die Aktionen unseres Militärs im Nahen Osten gutheißen: Getötete Afghanen oder Irakis gelten da nicht als Menschen, sondern immer gleich als Terroristen und ihre Helfer. Sie sind offensichtlich nicht so menschlich wie wir.

Du zeigst im Video zum Song „Only Life I Know“ empathische Bilder aus dem Leben der weißen und schwarzen Amerikaner am Rande der Gesellschaft. Ist das deine Art, der Unterschicht ihre Menschlichkeit zuzusprechen?

Was wir mit den Menschen im Nahen Osten machen, das machen wir auch daheim. Wenn ich sehe, wie die Polizei routinemäßig schwarze Menschen als Verbrecher verdächtigt! Oder gleich auf Verdacht erschießt! Das passiert hier alle paar Monate einmal. Und wir erlauben es. Auch wenn wir keine Kreuze mehr abbrennen, keine Kutten mehr tragen und niemanden lynchen – die Polizei darf ähnliche Methoden weiter praktizieren. Weil wir ihr nur allzu gerne glauben, dass ihre Opfer alles nur Gangster, Gewalttäter und bedrohliche Drogenhändler sind.

HipHop galt einmal als prinzipiell sozialkritische Bewegung. Als du zur Unterstützung der Proteste im Zusammenhang mit der Ermordung des schwarzen Teenagers Trayvon Martin aufgerufen hast, reagierten manche HipHop-Fans eher entnervt.

Wir sind eine Gesellschaft, die sich sehr auf ihr Recht verlässt, schlafzuwandeln. Wir glauben, dass wir uns nicht um andere Menschen kümmern müssen. Wir glauben an unser Recht, uns nie im Spiegel anschauen zu müssen. Und wir verteidigen dieses Recht. Mit Händen und Füßen.

Auf deiner letzten Platte „Us“ sprach Chuck D von Public Enemy. Diesmal hast du den schwarzen Kulturkritiker und Bürgerrechtler Cornel West mit an Bord. . .

Cornel West gehörte schon immer zu meinen Idolen. Wir haben uns in seinem Büro getroffen, über meine Platte geredet und seine Gedanken aufgenommen. Am Ende stand ein gemeinsamer Song: „Letter To My Countrymen“. Cornel führte mich auch zum Dinner aus und stellte mir eine Menge Autoren, Professoren und Aktivisten vor. Unsere Gespräche haben auf meine Raps abgefärbt.

Du selbst predigst mit deinen Raps in Moscheen, setzt auf gemeinschaftsstiftende Botschaften. Aber stellt HipHop nicht viel eher die Bühne dar, um sich als Individuum gegen den Rest der Welt durchzusetzen?

Beides hat seine Berechtigung. Das Rappen hat mir geholfen, die Hänseleien meiner Mitschüler einzudämmen: Wenn einer mit einer abfälligen Bemerkung über mein Aussehen kam, habe ich ihn auf dem Pausenhof zu einem Rap-Duell gefordert. Ich habe immer gewonnen. Dabei hat mir gerade mein Außenseitertum geholfen, neue Perspektiven zu finden, Texte zu schreiben, in denen andere sich – mit all ihren Frustrationen und Hoffnungen – wiederfinden können. Manche meiner neuen Songs haben sich fast von selbst geschrieben. Weil ich den kollektiven Schmerz Amerikas fühle.
INTERVIEW: JONATHAN FISCHER
SZ 24.9.2012

Der Teufel regiert immer mit: Ry Cooder, legendärer Songwriter und Gitarrist, spricht über die Abgründe der amerikanischen Politik

Der Gitarrist, Sänger und Songwriter Ry Cooder gehört seit vier Jahrzehnten zu den wichtigsten amerikanischen Roots-Musikern. Er hat mit den Rolling Stones, Randy Newman und Captain Beefheart gespielt und die alten Herren des Buena Vista Social Club weltbekannt gemacht. Von ihm stammen Klassiker wie »Paradise and Lunch«, »Chicken Skin Music« oder »Bop Till You Drop«. Den kommerziellen Durchbruch brachten ihm Filmsoundtracks – insbesondere zu Wim Wenders‚ Film »Paris, Texas«. Sein neues Album »Election Special« ist ein beißender Kommentar zur aktuellen amerikanischen Politik. In neun Blues- und Folk-Songs mischt Cooder sich in den Präsidentschaftswahlkampf ein.

DIE ZEIT : Mr. Cooder, gefährden Sie nicht Ihren Ruf als Songwriter, wenn Sie sich mit Election Special in die Untiefen des US-Wahlkampfs begeben?

Ry Cooder: Ich tue das aus Notwehr. Die amerikanische Rechte ist sehr clever in ihrer Propaganda. Sie bringt die Wähler am Ende dazu, gegen ihre eigenen Interessen zu stimmen – insbesondere weiße Amerikaner, die um ihre Jobs und Häuser fürchten. Und Songs zu schreiben ist doch besser, als nur mit der Faust auf den Tisch zu hauen.

ZEIT: Sie sind wütend?

Cooder: Und ob. Viele Amerikaner sind sehr wütend. Leider versteht sich die Tea Party nur allzu gut darauf, diesen Ärger für ihre Zwecke zu nutzen. Der rechte Flügel der Republikaner finanziert ein pausenloses Trommelfeuer im Internet, im Fernsehen, im Radio. Die Rechte kontrolliert einen Großteil dieser Medien. Sie nutzt sie, um ihre Lügen zu wiederholen, bis die Leute sie irgendwann glauben.

ZEIT: In früheren Songs haben Sie sich regelmäßig mit der amerikanischen Geschichte befasst. Ist es schwieriger, über aktuelle Tagespolitik zu schreiben?

Cooder: Ich habe bewusst die Form des Blues- und Folk-Songs gewählt. So knüpfe ich an eine amerikanische Tradition an, die bis Joe Hill und Woody Guthrie zurückreicht und heute von der Occupy-Bewegung aufgenommen wird. Warum nicht über Tagespolitik singen? Woody Guthrie hat so anschauliche Songs geschrieben, weil er die Depression selbst erlebt hat.

ZEIT: Sie nennen Woody Guthrie Ihr Vorbild. Ihre Songs unterscheiden sich dennoch vom feierlich-pathetischen Protest-Folk der sechziger Jahre.

Cooder: Weil ich meine Songs nicht für die Front, für Demos oder Sit-ins geschrieben habe. Lieber erzähle ich Geschichten – so wie es Country-Musiker tun, nur dass meine storylines etwas über den Zustand unseres Landes und die Moral unserer Politiker aussagen. Nehmen Sie etwa den Mutt Romney Blues. Mutt wie Trottel. Das sage natürlich nicht ich, sondern ich lasse seinen Hund erzählen. Sie haben sicher die Geschichte gehört, wie Romney in den Urlaub fuhr und seinen Hund einfach für 1000 Meilen auf das Autodach geschnallt hat.

ZEIT: Deswegen gibt es ja schon eine »Mein Hund bellt gegen Romney«-Kampagne. Auf Ihrem Album überwiegen die düsteren, manchmal bitteren Töne: vom Gefängnis-Lamento namens Guantanamo bis zu Kool-Aid, wo Sie die Gehirnwäsche durch die Rechte anklagen. Steht es wirklich so schlecht um Ihr Land?

Cooder: Es geht ein tiefer Riss durch Amerika. Und die rechte Propaganda hat ihn zu verantworten. Sie hetzen die Menschen so lange auf, bis ein selbst ernannter Wachmann namens George Zimmerman einen unbewaffneten schwarzen Teenager erschießen kann und die Polizei ihn laufen lässt.

ZEIT: Immerhin haben Ihre Landsleute vor vier Jahren den ersten schwarzen Präsidenten gewählt.

Cooder: Präsident Obama macht seinen Job so gut wie möglich. Ich singe in Cold Cold Feeling über seine Einsamkeit im Oval Office. Am Ende aber steht er wie David gegen Goliath: Großindustrielle wie die Koch-Brüder können inzwischen ganz legal Millionen ausgeben, um den Äther mit ihren Lügen zu vergiften.

ZEIT: Auch diesen berüchtigten Financiers der Ultrarechten widmen Sie einen Song: Brother Is Gone .

Cooder: Ich habe lange nach einem Weg gesucht, über die Brüder Charles und David Koch zu singen. Bis mir Robert Johnsons alte Blues-Fabel einfiel; er spricht von der Wegkreuzung, an der man den Teufel trifft. So erkläre ich die Macht der Koch-Brüder. Satan verspricht ihnen einen Pakt: Ihr könnt die totale Macht haben. Aber ich werde als meinen Preis einen von euch Brüdern zur Hölle mitnehmen, und nur ich weiß, wen und wann. So wacht Charley Koch eines Tages auf, und sein Bruder Davey ist verschwunden.

ZEIT: Wollen Sie mit Ihren Songs den Kampfgeist des linken, demokratischen Amerikas anstacheln?

Cooder: Ein Präsident der Demokraten kann kaum etwas richtig machen. Weil die zwei Amtszeiten von George Bush das Präsidentenamt beschädigt haben. Was nützt es, auf dem Fahrersitz des Autos zu sitzen, wenn das Auto nicht mehr fährt? Obama hat ein kaputtes Fahrzeug von den Republikanern übernommen. Und natürlich hätte ich ihn lieber radikaler, er hat es viel zu lange vermieden, die unsozialen Pläne der Republikaner frontal anzugreifen.

ZEIT: Glauben Sie, dass Polit-Songs eine Rolle im Präsidentschaftswahlkampf spielen werden?

Cooder: Ich überschätze die Rolle von Musik nicht. Songs geben dir nur Bilder, kleine Allegorien. Vor achtzig oder hundert Jahren waren Songs für viele Menschen noch die einzige Informationsquelle. Heute kauft kaum jemand noch Platten.

ZEIT: Und doch hat der politische Song überlebt…

Cooder: Dass die Occupy-Bewegung keine kommerziellen Absichten verfolgt, gibt mir große Hoffnung. Diese Menschen können vielleicht auch meine Lieder brauchen.

ZEIT: So wie Ihren Song The 90 And The 9, auf dem Sie die 99 Prozent der nicht superreichen Amerikaner auffordern, für ihre Rechte zu kämpfen?

Cooder: Würden die einfachen Menschen sich verbünden, hätten die rechten Republikaner keine Chance. Doch die Reichen spielen immer eine Gruppe gegen die andere aus: Speziell in Kalifornien werden die mexikanischen Wanderarbeiter vor jeder Wahl angeklagt, den Weißen ihre Jobs wegzunehmen. Nach der Wahl muss man sie dann wieder zurückholen – weil ja irgendjemand ihre Arbeit machen muss. Noch schlimmer ist der Versuch der Rechten, die Wahlrechte zu beschneiden. Sie wollen Menschen, die für Obama stimmen würden, von den Urnen fernhalten: Schwarze sollen nicht wählen. Arme sollen nicht wählen. Und die Leute vom Obersten Gerichtshof finden Wege, all die Gesetze, die Präsident Johnson während der Bürgerrechtsbewegung erließ, rückgängig zu machen. Das ist der gefährlichste Angriff auf unsere Bürgerrechte in der Geschichte unseres Landes.
Interview: JONATHAN FISCHER
Die Zeit 20.9.2012

Kontinent im Würgegriff: Ein Band über die Macht der Drogenkartelle in Lateinamerika

Nur ein dürrer Fluss trennt die mexikanische Ciudad Juarez von El Paso in Texas. Tausende von Menschen und Fahrzeugen überqueren täglich die vier Grenzübergänge, um auf der anderen Seite zu studieren, zu arbeiten, einzukaufen. Und doch gilt Ciudad Juarez – im Gegensatz zur touristischen Schwesterstadt El Paso – als einer der gefährlichsten Orte der Welt. 3156 Menschen wurden dort allein 2010 ermordet. Fast alle sind Opfer der beiden rivalisierenden Drogen-Organisationen, dem Sinaloa- und dem Juarez-Kartell.

In der Reportage „Die Schöne und die Hässliche“ liefert die mexikanische Journalistin Lourdes Càrdenas drastische Bilder zu den soziologischen, politischen und kulturellen Analysen, die einen Großteil des Sammelbandes „Narcozones – Entgrenzte Märkte und Gewalt in Lateinamerika“ ausmachen. In der Nahaufnahme erst werden die Folgen des sogenannten „Drogenkrieges“ begreiflich: Denn während die Wirtschaft in El Paso boomt, verkommt Ciudad Juarez immer mehr zur Geisterstadt, in der Zehntausende Geschäfte schließen, Bars verwaisen, und das charakteristische Gesumm auf den Straßen und Märkten verstummt ist. Wer es sich leisten kann, flieht nach Norden in die USA. Diejenigen, die zurückbleiben, lehren ihre Kinder in den Grundschulen, wie sie sich im Fall eines bewaffneten Angriffs zu verhalten haben: „Wirf dich hin und stell dich tot“.

„Narcozones“ beleuchtet die Durchdringung des Alltags in Lateinamerika durch immer mächtigere Drogen-Kartelle. Was muss in einem Land passiert sein, wenn schon Sechzehnjährige für ein paar Pesos töten? Warum sind Polizei, Justiz und Politik so offensichtlich von der Bekämpfung der mafiösen Strukturen überfordert? Gibt es Antworten aus der Zivilgesellschaft auf die Zerstörung des sozialen Lebens? Das sind einige der Fragen, denen sich in diesem Band Historiker, Juristen, Politologen, Soziologen, Kulturwissenschaftler und Journalisten stellen.

Seit dem Tod des kolumbianischen Drogenbosses Pablo Escobar Anfang der 1990er Jahre hat sich das Drogengeschäft verändert: Die mexikanischen Kartelle dominieren den Markt. Sie geben Morde und Entführungen in ganz Mittelamerika in Auftrag, sichern Nachschub-Routen nach Argentinien und Westafrika, rekrutieren Sub-Unternehmer aus lokalen Straßen-Gangs. Längst geht es nicht mehr nur um Kokain, Heroin und Marihuana. Sondern um ein transnationales Wirtschaftsimperium. Waffenschmuggel, Menschenhandel oder der lukrative Markt mit Raubkopien und Internet-Betrug gehören dazu. Gewaschen wird das Geld dann über Touristenhotels in der Karibik. Oder auch mit Einkaufszentren in Deutschland.

Zwar hat der mexikanische Präsident Felipe Calderon seit 2006 das Militär gegen die Drogenkartelle mobilisiert. Doch die Gegenwehr des Staates bleibt halbherzig – die Drogenbosse haben genug Macht und Geld, um Bürgermeister, Richter und Polizeichefs zu kontrollieren, selbst das Militär zu infiltrieren. „Narcozones“ versucht die Omnipräsenz der Kartelle aus politischer wie soziokultureller Perspektive zu erklären. Da geht es einerseits um den Niederschlag des Drogenkrieges in den Medien und der Literatur. Andererseits um dessen Verflechtung mit regionalen Konflikten in ganz Lateinamerika: Die Drogengangster in den Favelas in Rio und die Bauernvertreibung in Guatemala, die ökologisch fragwürdige Kokafelder-Vernichtung in Kolumbien und die Jugendarbeitslosigkeit in Mexiko – sie werden hier als Unterkapitel des selben großen Wirtschafts-Krimis sichtbar.

Gut und Böse sind dabei schwer zu unterscheiden: So erfährt man von den Patenrollen, die viele Kartelle für die von der Regierung vernachlässigten Armenviertel übernehmen. Oder auch von staatlichen Spezialeinheiten, die geschlossen zu den Kartellen überlaufen. Die zivilen Gegenkräfte – Christen, Linke, Indigene und Opfer-Angehörige – wirken dagegen relativ ohnmächtig.

Eines der spannendsten Kapitel steuert der mexikanische Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II bei: In „Narcogewalt – Acht Thesen und viele Fragen“ berichtet er von einem Stadtviertel in Ciudad Juarez namens „Disneylandia“, in dem Aschenputtel-Schlösser und Villen wuchern, die Kartelle unbehelligt ihr Geld zur Schau stellen, ohne dass die Steuerbehörden eingriffen. Warum, fragt er, hat die mexikanische Regierung von den Vereinigten Staaten keine Maßnahmen gefordert, die den Geldfluss des Drogenhandels blockieren?

Taibo II gehört zu den wenigen Autoren, die über den Grenzzaun nach Norden schauen. Dort liegt der größte Absatzmarkt der Kartelle. Dass der Krieg gegen sie allein auf mexikanischem Boden geführt wird, ihre Finanz- und Marktstrukturen in den Vereinigten Staaten aber unangetastet bleiben, muss wie die zynische Auslagerung einer amerikanischen Gesellschaftskrise auf die Schultern des ärmeren Nachbarlandes erscheinen.
JONATHAN FISCHER
SZ 7.9.2012