Monatsarchiv: Februar 2022

Wo Afro zum Punk kommt

In Dakar arbeitet er an der Zukunft des Afro-Pop. Ein Besuch im Studio des irischen Musikproduzenten Liam Farrell alias Doctor L.

Eine sandige Strasse im Handwerkerviertel im Norden Dakars, wo quietschende Flaschenzüge Ziegelsteine für eine der vielen Baustellen transportieren. Durch offene Türen hört man das Rattern von Nähmaschinen. Ab und zu fährt ein Taxi mit aufgedrehter Musik vorbei: schnulzige Keyboard-Sounds, schmachtende Gesänge, Trommelwirbel. Der Stil heisst Mbalax. Es ist urbaner, senegalesischer Pop, wie ihn Youssou N’Dour rund um die Welt getragen hat.

Hinter einer rötlichen Fassade mit vergitterten Fenstern regiert ein andersartiger Sound. Hier dreht Doctor L an den Reglern seines Heimstudios und zieht dabei an einem Joint: «Ganz Westafrika hat sich von schlechtem westlichem Pop verführen lassen. Interessante Sounds findest du nur noch abseits der Charts.»

Sounds aus urbanen Hinterhöfen

Der drahtige Ire im Tank-Top, den Rasta-Schopf zusammengebunden, muss es wissen. Er hat die letzten beiden Jahrzehnte jedes liebliche Klischee von sogenannter Weltmusik zum Einstürzen gebracht. Er hat kongolesische und malische Folkmusik mit elektronischen Sounds verschmolzen und verzerrte Beats produziert, die auf die Avantgarde-Klubs zwischen New York, Paris und Tokio zielen.

Die Widersprüche, der Schmutz, das rohe Hinterhof-Geschehen afrikanischer Megacitys: Sie haben Liam Farrell alias Doctor L stets als Aufputschdroge gedient und den früheren B-Boy zur Hochform auflaufen lassen: «Ich suche den Geist des frühen Hip-Hop nun in der örtlichen Musikszene hier», sagt Farrell und tigert mit seinem Joint nervös zwischen dem mit afrikanischen Stoffen verhängten Studio und seiner Sneaker-Sammlung im Gang hin und her – «in Dakar bekomme ich zu Spottpreisen Sneaker-Modelle, von denen ich früher nur träumte.»

Aus den Boxen bollern tiefe Bässe. Dazu ein schleppender Beat. Und die nasal klagenden Gesänge der Mbaye Fall, einer islamischen Sufi-Sekte, die in Senegal viele Anhänger hat. Der Sänger heisst Mara Seck, er ist Doctor Ls grosse Hoffnung. «Solche Aussenseiter interessieren mich mehr als die lokale Klubmusik», sagt er. «Weil ihre Sounds unfertig sind, kann ich etwas Neues, Interessantes daraus basteln.» Der Ire unterstreicht Wörter wie «Aussenseiter» und «unfertig» mit nervösen Handbewegungen. «Ich versuche so, die punky Seite afrikanischer Musik hörbar zu machen, ihren anarchischen Kern einzufangen.»

Ist das nicht eine europäische, eine «weisse» Idee? Farrell lacht über die Frage. Die Ideologie von Schwarz und Weiss und der Zwang, alles danach einzuteilen, hätten ihm schon oft die Arbeit erschwert. «War es nicht schon immer das produktive Chaos, aus dem die interessante Musik entstand?» Als Ire könne er allerdings gewisse afrikanische Bedenken gut nachvollziehen. Schliesslich gälten die Iren als die «Schwarzen» Europas: «Wir haben unseren Wert nie gesehen. Weil wir arm waren, unsere Rechte nichts zählten, wir 600 Jahre lang unter einem britischen Quasi-Kolonialregime lebten.»

Farrell erzählt von seiner Kindheit in Nord-Dublin, wo man im Winter die Pferde als Heizung in die Wohnung brachte. Wo sich Jugendliche an Tankstellen trafen, um Kleber zu schnüffeln. Und wo man schon bei Geburt als «Loser» galt. «Irische und schwarze Kultur standen sich schon immer nahe. Das hat mit einem geteilten Aussenseiterwissen zu tun.»

Vielleicht deshalb hat es Doctor L an Orte wie Kinshasa in der Demokratischen Republik Kongo gezogen. Dort fand er in Strassenkünstlern, mittellosen Studenten und musizierenden Rollstuhlfahrern seine Verbündeten. Während zehn Jahren produzierte er die Musik von Bands wie Mbongwana Star oder Kokoko!. Sein letztes Projekt, Bantou Mentale, kombinierte Folk, Electronica und den Lärm der kongolesischen Metropole. «Megacitys wie Kinshasa bilden einen Schmelztiegel der Traditionen und Stile, sie sorgen für ein Ambiente zwischen Verzweiflung und Lebensgier, wie es auch für das New York der achtziger Jahre typisch war. Es ist diese rohe Beseeltheit, die ich als Produzent suche.»

Tatsächlich prägte einst ein Aufenthalt in New York den Stil von Doctor L. Hier lernte er Michael Clip kennen, den Sänger des Funk-Gurus George Clinton. Clip weihte ihn ins Universum des P-Funk ein und inspirierte ihn zu gewagten Funk-Rock-Fusionen. Später kombinierte Doctor L seine Funk-Leidenschaft mit Elektronik. Das mündete etwa in die grossartigen Produktionen für Tony Allen: Dem ehemaligen Schlagzeuger von Fela Kuti verhalf er mit Alben wie «Black Voices» zu einer zweiten Karriere.

Noch immer bleibt die Frage im Raum: Kann man als weisser Produzent schwarze Musik produzieren, ohne in die Postkolonialismus-Falle zu tappen? Er kenne europäische Musikproduzenten, denen gegenüber Misstrauen durchaus angebracht sei. «Warum arbeiten sie mit Afrikanern? Etwa weil sie als Musiker so viel billiger sind?»

Doctor L sieht sich selbst als Trickster und Vermittler. Als einen, der Verbindungen schafft, das Neue ermöglicht, indem er scheinbar widersprüchliche Ideen zusammenbringt. «Afrikanische Kulturen haben schon immer Fremdes adaptiert», sagt er. «Das geht über die reine Musik hinaus, es reicht in die Philosophie und die Kunst hinein.»

Authentizität ist Quatsch

Als Beispiel nennt Doctor L den kongolesischen Rumba: Die ersten Musikproduzenten in Kongo seien Griechen gewesen, die nebenbei Platten mit Bouzouki-Musik verkauft hätten. Folglich übernahmen die kongolesischen Gitarristen ihre Skalen von transponierten Bouzouki-Akkorden, die sie wiederum mit importieren kubanischen Rhythmen verbanden.

All das Gerede von Authentizität sei doch Quatsch. Habe nicht Fela Kuti mit Ginger Baker zusammengearbeitet? Wer wäre Bob Marley ohne Chris Blackwell (den Gründer des berühmten Labels Island Records)? Und stamme die interessanteste ghanaische Pop-Musik heute nicht aus dem Studio des Berliner Funk-Pioniers Max Weissenfeldt?

In dieser Linie schwarz-weisser Kooperationen verortet sich auch der irische Produzent. Die Grenzen verliefen in der senegalesischen Gesellschaft eher zwischen den Klassen und Ständen – die Herkunft aus Europa oder Afrika sei dagegen zweitrangig. «Ich kann so weiss sein, wie ich will», sagt er und grinst. «Wenn ich als Freak mit meiner Rastafrisur bei einer Party in Dakar aufkreuze, bin ich erst mal untendurch, weil ich ihnen zu wenig elegant und aufgeputzt erscheine.»

Sein neuestes Projekt könnte die Perspektiven miteinander versöhnen. Irland hat beschlossen, endlich eine Botschaft in Senegal zu eröffnen. Doctor L soll die Begleitmusik liefern: «Ich habe den Auftrag, ein Album mit irischen Rappern und ihren senegalesischen Kollegen zu produzieren.» Er zieht an seinem Joint, lacht und sagt: «Schwärzer geht es nicht.»

JONATHAN FISCHER

NZZ 10.2.2022