Wir sind im Zeitalter der Pop-Archäologie. Einst verschmähte, zu Unrecht übersehene, um ihren Erfolg gebrachte Sänger erhalten eine zweite Chance – weil Plattensammler, Musikjournalisten und Fans in den Abraumhalden der sechziger und siebziger Jahre graben und dabei auf einen Song, eine Platte stossen, die – Jesus! – einfach zu genial ist, um nicht noch ein Hit zu werden. Und vielleicht lebt dieser Sänger, diese Sängerin ja auch noch? Dann holt man die in Vergessenheit geratenen und nun ob des plötzlichen Interesses fassungslosen Musiker zurück auf die Bühne und feiert mit ihnen den späten Sieg des guten Geschmacks, um wenigstens ein bisschen Gerechtigkeit in das ungerechte Pop-Geschäft zu bringen. So lief es bereits mit dem Singer-Songwriter Sixto Rodriguez, mit der Soul-Chanteuse Bettye Lavette und mit dem Afrobeat-Pionier Ebo Taylor.
Soul und psychedelischer Funk
Und nun bringt derselbe Mechanismus eine Gospelgruppe aus Dallas ins öffentliche Bewusstsein, deren Name vor ein paar Jahren nur einem Dutzend Soul-Nerds geläufig war: The Relatives. Das Gesangsquartett profilierte sich durch die Kombination raspelnder Soul-Chants mit gewagten psychedelischen Funk-Arrangements, geriet aber nach wenigen Single-Veröffentlichungen in den siebziger Jahren wieder in Vergessenheit: zu viel Sex für die Kirchen, zu viel Bibel-Ekstase für den gemeinen Rhythm’n’Blues. Und überhaupt klang der ungeschliffene Sound dieser Band angesichts der Disco-Welle plötzlich ziemlich überholt.
Dreieinhalb Jahrzehnte später taucht der Funk der Relatives wieder auf und gilt nun plötzlich als Wunderwaffe. Die Sänger teilen die Bühne mit Mavis Staples oder der Jon Spencer Blues Explosion, besuchen Festivals bis nach Frankreich und Australien und nehmen ein sensationelles Debütalbum auf: «The Electric Word». Die wundersame Auferstehung der Relatives nahm typischerweise mit einem Fund im Trödelladen ihren Anfang. Mike Buck, ein Schlagzeuger aus Austin, hatte vor sieben Jahren eine zerkratzte Single aus einer Ramschkiste gezogen: «Don’t Let Me Fall» hiess sie. Auf der Rückseite spielte die Gospelband die Funk-Nummer «Rap On». Als Buck sie seinem Freund Noel Waggener vorspielte, dem Betreiber des auf alten Soul und Funk spezialisierten Labels Heavy Light Records, war dieser sofort angefixt. Eigentlich schien doch bereits die letzte Ecke des Soul-Universums erforscht. Und nun diese überraschende Gospel-Funk-Sensation! Waggener spürte Reverend Gean West, den einstigen Bandleader, in einer heruntergekommenen Kirche in Dallas auf und liess sich die Geschichte der Relatives erzählen: Gean und Bruder Tommie West hatten noch miterlebt, wie Gospel-Stars wie Shirley Caesar oder Sam Cooke auf Tournee im Haus ihrer Eltern in West-Dallas übernachteten – mangels Hotels für Afroamerikaner.
Mit ihrer eigenen Band wollten sie über den Gospel-Circuit hinaus junge Leute mit fiebrigen Funk-Rhythmen anstecken. Doch der Sound passte weder zu den Formaten der Gospel- noch der Pop-Radiosender. Und so blieb ein Teil ihrer Aufnahmen im Studio liegen. Waggener fand beim ehemaligen Produzenten der Relatives noch fünf unveröffentlichte Songs aus dem Jahr 1974 und veröffentlichte sie zusammen mit den drei Singles auf dem Sampler «Don’t Let Me Fall». Das war 2009. Im selben Jahr spielte die reformierte, um einige jüngere Mitglieder aufgestockte Band an zahlreichen Festivals und rekrutierte vorab in Indie-Rock-Kreisen einen Tross von Bewunderern. Einer ihrer neuen Fans, Jim Eno von The Spoon, wollte sich die Chance nicht entgehen lassen, diese gewaltigen Gospel-Stimmen aufs Neue in Szene zu setzen und endlich das Debütalbum zu produzieren, das The Relatives längst verdient hätten.
Erhöhte Intensität
So haben sie «The Electric Word» in die Rille gebracht – ein Gospelalbum, das vierstimmige Gesänge ins Säurebad des psychedelischen Rock taucht. Was die Intensität noch erhöht: Das gebrochene Timbre von Leadsänger Tommie West kontrastiert spannungsvoll mit den Funk-Grooves und Indie-Rock-Texturen der jungen Begleitmusiker. James Brown steckt in dem Mix und Funkadelic. Neben Norman Whitfields psychedelischem Soul-Walzen und dem schmutzigen Gitarren-Krach eines Junior Kimbrough. Diese Musik ist wie eine Zeitreise, die aber nie nostalgisch klingt. The Relatives sind sich treu geblieben. Geändert hat sich alleine die Pop-Welt, die ihre Zukunft heute in der Vergangenheit sucht. Wiederentdeckte Veteranen wie Bettye Lavette oder The Relatives liefern da einen angesichts von Auto-Tune und programmierten Drums umso geschätzteren Rohstoff: Schmutz. Beseelte Räudigkeit. Ein Gegengift zu überproduziertem Pop – mit oder ohne Jesus.
The Relatives: The Electric Word (Yep Roc).
JONATHAN FISCHER
NZZ 9.5.2013