Monatsarchiv: Dezember 2017

Afropop-Kolumne (mit BKO, Les Mangelepa, Fela Kuti)

 

Aus Mali dringen meist nur schlechte Nachrichten zu uns: korrupte Minister, Angriffe auf die von der Bundeswehr unterstützte UN-Friedensmission, Geiselnahmen und islamistische Attentate. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn gleichzeitig reisen westliche Rock- und Jazzmusiker nach wie vor an den Niger, um sich in Bamako, der heimlichen Musikhauptstadt Westafrikas, mit schrägen pentatonischen Klängen zu impfen. BKO prangt dann stets auf ihren Instrumentenkoffern. Die drei Buchstaben bezeichnen den Luftverkehrs-Code für den Flughafen Bamako – und neuerdings auch den Bandnamen einer Gruppe junger, experimentierfreudiger Malier, die eine Art Import-Export-Geschäft betreiben. Schon ihr Debüt „Bamako“ (2014) ließ aufhorchen. Der Nachfolger „Mali Foli Coura“ (Buda Musique/Membran) – zu Deutsch „der neue Sound von Mali“ – spielt noch gewagter mit den Reibungsflächen zwischen Tradition, Rock und Funk. Westliches Schlagzeug trifft auf Djembe-Rhythmen. Und immer wieder betört der aufreizende Sound der Ngoni. Ngoni, das ist eine traditionelle Jäger-Laute. Ihre verstärkten und verzerrten Riffkürzel erinnern an schmutzige, jaulende Bluesgitarren. Dazu chanten die fünf Musiker in ungewohnten Harmonien. Trance leicht gemacht! Tatsächlich handeln viele der Texte von der Fähigkeit der Jäger-Musiker, mit den Geistern zu kommunizieren. Sehr rau, sehr fremd und unaufgeräumt klingt das für westliche Ohren. Und wird gerade deswegen all jene glücklich machen, die schon zu viel sanft wogende „Weltmusik“ konsumiert haben.

Wenn in Mali archaische Traditionen im Pop aufgehen, so muss man sie in anderen Ländern Afrikas mühsam suchen, selbst wenn die Moden nur 30 oder 40 Jahre alt sind. Umso größer die Überraschung, eine zeitgenössische kenianische Band in bester kongolesischer Rumba-Soul-Tradition jammen zu hören. Les Mangelepa heißt die Veteranenkapelle. Und „Last Band Standing“ (Strut) ist ihr Debüt. Zumindest im Westen. Denn das halbe Dutzend Alben, das die Band seit Mitte der Siebziger einspielte, erschien nur in Ostafrika. Wer also nicht tief in die Tasche greifen will, um die Vinyl-Originale auf Ebay zu ersteigern, bekommt jetzt ihre größten Hits in frischen Fassungen serviert – und eine Ahnung davon, warum es der kongolesische Rumba einst schaffte, halb Afrika zum Tanzen zu bringen. Les Mangelepa selbst waren auf der Suche nach besseren Instrumenten aus dem Kongo nach Nairobi emigriert. Dort passten sie ihren Sound dem lokalen Geschmack an: schmutzige Bläser, jazzige Riffs und Swahili-Lyrics machten die Band bald bekannt. Dazu kam die honigweiche Melancholie des Gesangs. Und wer kann sich schon galoppierenden Rumba-Rhythmen und silbrig klingelnden Gitarren entziehen? Als die Band 2016, 40 Jahre nach ihrer Gründung, erstmals in Europa auftrat, schlug den Hipstern von Strut Records das Herz höher: Die Soul-Musik Afrikas, die man nur noch als Konserve zu finden glaubte, lebt noch!

Suche nach den Wurzeln, die dritte: Erykah Badu hat ein Vinyl-Box-Set aus dem Werk Fela Kutis zusammengestellt. „Ein verdammtes Genie“ nennt sie den Mann. Es ist dies nicht die erste derartige Huldigung. Zuvor hatten schon Questlove, Brian Eno und der ehemalige Cream-Schlagzeuger Ginger Baker entsprechende Boxen kuratiert. Gab es überhaupt noch genug gutes Material für Badus „Fela Kuti Box # 4“ (Knitting Factory Records)? Absolut, die Soul-Exzentrikerin heulte ohnehin nie mit dem Rudel, scheint jeder Art von Kanon abgeneigt und wählte Songs aus, die wohl selbst Kenner überraschen dürften. Etwa der jazzige Saxofon-Jam von „Yellow Fever“; „Johnny Just Drop“ mit seinem explodierenden Rhythmus; oder das düster schaukelnde „Army Arrangement“. Badus Favorit aber – das verrät sie in den Essays, welche die sieben Alben begleiten – heißt „Coffin For Head Of State“. Das liegt einerseits an diesem hypnotischen Fela-Kuti-Beat mit federnder Funk-Gitarre, eierndem Keyboard und sich hochschaukelnden Chants, andererseits aber auch an der Geschichte dahinter: Denn im Sarg des Titels liegt Fela Kutis Mutter, die nach einem Überfall der Armee auf die Kalakuta Republic ihres Sohnes im Jahre 1977 von Soldaten aus dem Fenster geworfen wurde und später ihren Verletzungen erlag. Fela zog daraufhin mit dem Sarg zu den Armee-Baracken, legte ihn dort ab und forderte mit seinen Anhängern, dass seine Mutter den Platz des Diktators Obasanji einnehmen sollte. Eine wahnwitzige Art der Trauerbewältigung. Trotzdem swingt der Song mit großer Leichtigkeit. Und so ist es auch kein Widerspruch, wenn Badu ihren Hörern empfiehlt, Kutis Tracks „vorzugsweise mit einem schönen, langsam glühenden Joint“, zu genießen.

JONATHAN FISCHER

Alles in Ocker! Die Garden Route durch Südafrika kennt jeder – aber die Kleine Karoo? In dieser Halbwüste braucht man auch als Tourist etwas Pioniergeist

 

Ein schnurgerader Teerstreifen erstreckt sich über sanfte Hügel bis zum Horizont. Kein anderes Fahrzeug ist in Sicht. Links und rechts der Straße: ausgetrocknete Flussbetten, ockerfarbene Erde, einzelne Sträucher, die sich im Wind ducken. Die nächste Tankstelle? Erst wieder in hundert Kilometern.

  Im Gegensatz zur viel befahrenen Garden Route im Süden kann man sich in der Karoo, der Halbwüstenlandschaft in den Hochebenen Südafrikas, immer noch verlieren. Nicht nur wegen der zweifelhaften Hilfe, die das GPS auf mancher Schotterstraße durch endloses Veld leistet. Sondern auch, weil die Karoo dem Reisenden ihren eigenen Rhythmus aufzwingt, ihn immer wieder zu Abstechern verlockt: in schläfrige Dörfer, in tiefe Schluchten und auf dramatische Bergpässe.

  Karoo: Der Name stammt angeblich von Garob, was in der Sprache der Urbevölkerung, der Khoikhoi, so viel wie „trocken“ oder „unbewohnbar“ heißt. Die weißen Pioniersiedler, die seit dem 17. Jahrhundert mit ihren Ochsenwagen hierherzogen, korrumpierten das Wort. Heute bedeckt die Karoo ein gutes Drittel Südafrikas. Die Kleine Karoo ist ihr vorgelagert; ein 300 Kilometer langer Streifen Halbwüste, flankiert von den Gebirgsketten der Swartberge im Norden und der Outeniqua- und Langeberg-Range im Süden.

  Warum nicht den dramatischsten Einstieg wählen! Der Prince Alfred’s Pass schraubt sich von Knysna aus in steilen Kurven ins Outeniqua-Gebirge. Die Küste ist längst aus dem Rückfenster entschwunden, da mündet die Teerstraße in einen breiten Schotterweg. Im Nieselregen stehen Kuhherden auf sattgrünen Wiesen, eine Gruppe Paviane kauert zwischen Obstbäumen. Dann wird die Landschaft karger. Und die Fahrbahn immer enger. Grobe Schlaglöcher und Steine zwingen zur Fahrt in Schrittgeschwindigkeit. An einer Furt steht eine Gedenktafel: eine Ehrung für Thomas Bain. So hieß der Baupionier, der Ende des 19. Jahrhunderts einige der bedeutendsten – und schönsten – Passstraßen durch die Berge der Karoo trieb. Für die Fertigstellung des Prince Alfred’s Pass setzten Hunderte Strafgefangene primitivste Sprengtechniken ein. Große Felsblöcke wurden erst mit Feuer erhitzt – und anschließend mit kaltem Wasser überschüttet.

  Hausdächer blinken vom Flussufer im nächsten Tal. Ein Rastplatz im Nirgendwo. Und was für einer! „Angie’s G Spot“, verkündet das Schild vor dem Verschlag aus Brettern, Metall und Antiquitäten, und: „Hot beer, lousy food, bad service.“ Vor dem Eingang liegen verstreut Tierschädel und Motorradskelette. Drinnen läuft Rugby im Fernseher. Als die ersten Gäste des Tages ankommen, zapft Angie Beaumont ein Bier aus dem ausgestopften Hinterteil eines Springbocks. „Ihr habt das schlimmste Stück des Passes hinter euch“, sagt sie. Zusammen mit ihrem Mann Harry, einem Biker mit weißem Zopf, betreibt sie den Schuppen. „G Spot“, erklärt die resolute Wirtin, stehe einfach für Great Spot. Vor allem Motorradfahrer kämen hier am Wochenende vorbei, um draußen Braai zu zelebrieren, die südafrikanische Version einer Grillparty. Der gigantische Hamburger, den Angie serviert, gibt eine Vorahnung davon, dass Fleisch hier Vor- und Nachspeise ist. „An den engen Stellen hupen“, gibt Harry mit auf den Weg. Gut eine Stunde später ist ein schlanker, weißer Kirchturm in einer weiten, grünbraunen Ebene zu sehen. Uniondale. Die Pforte zur Kleinen Karoo.

  Richtung Westen geht es vorbei an ausgedehnten Straußengehegen. Straußenfedern bescherten der Gegend um Oudtshoorn einst ihren historischen Reichtum und so einige „Straußen-Paläste“. Nach Ende des Feder-Booms Anfang des 20. Jahrhunderts blieben die großen Vögel – um nun vor allem Fleisch und Leder zu liefern. Ansonsten scheint die Zeit hier stehen geblieben zu sein. Rund um weiß getünchte Farmhäuser breiten sich Obst- und Weingärten aus. Sie sind mit Brunnen und künstlicher Bewässerung der Steppe abgetrotzt. Die Pioniersiedlungen der Buren haben sich seit ihrer Entstehung im 18. und 19. Jahrhundert kaum verändert. Nur dass sich heute hinter den kapkolonialen Häuschen meist die Townships, die gedrängten Wellblechhütten der ärmeren schwarzen Farmarbeiter und Hilfskräfte, verstecken. Orte mit hoher Arbeitslosenquote und billigem Alkohol.

  Die Dunkelheit senkt sich schnell über die Karoo. Wer nachts über Schotterpisten fährt, merkt erst, wie viele Tiere in der Karoo leben: Eine Eule, ein Schakal, Antilopen und Hasen tauchen im Scheinwerferkegel auf. Als sich dann endlich das elektronische Schiebegitter zum Madi-Madi-Naturreservat öffnet, ist bald der Nachthimmel die einzige Lichtquelle weit und breit. Sternengefunkel in eisiger Wüstenluft. Zum Glück verfügen die Häuschen der Madi-Madi Lodge neben Himmelbetten auch über einen offenen Kamin.

  Beim Frühstück wuseln drei Erdmännchen um die Knöchel der Gäste. „Keine Angst“, sagt der Koch und nimmt eines der fiependen Tiere auf den Arm. In der Wildnis aber wird besser nicht gekuschelt. Als wir uns einem Erdmännchen-Bau unvorsichtig nähern, bekommen wir ein paar blutige Gebissabdrücke mit auf den Weg. Die großen Wildtiere – Zebras, Büffel, Elenantilopen – wurden hier von Sportjägern fast ausgerottet. Heute sind es privat betriebene Reservate, die sie in der Karoo wieder ansiedeln. Den Betreibern des Madi-Madi-Naturreservats, Dirk Neethling und seinem Sohn Arnold, gelang es in den 1980er-Jahren, einige der seltenen schwarzen Mutationen der Impala-Gazelle einzufangen, zu züchten und für gewaltige Summen an andere Tierparks und Zoos weltweit zu verkaufen – Geld, mit dem sie nun mehrere Lodges betreiben.

  Vom Tourismus in großem Stil aber ist die Karoo verschont geblieben. Eher sind es die Aussteiger und Kreativen aus den Städten, die hier zwischen Farmern und Schafzüchtern ein entschleunigtes Leben ausprobieren. Sie haben Geld mitgebracht und Ateliers, Galerien, Restaurants und Gasthäuser in alten Siedlervillen eingerichtet. Dörfer wie Prince Albert wären ohne diese Zuwanderer heute Museen. Links und rechts der Dorfkirche stehen schmucke viktorianische Villen und kapholländische Häuschen mit Holzveranden und Ziergittern. In den gepflegten Vorgärten blühen Christsterne und Jacaranda-Büsche. Und auf der Straße werden selbst die Fremden gegrüßt.

  Das historische Onse Rus Guest House passt zu dieser Karoo-Heimeligkeit: handgedrechselte Stühle, Porzellangeschirr, schwere Gardinen und Plumeaus. Tatsächlich stammt Lisa Smith, die Herbergsmutter, aus Kapstadt. Sie hat das alte Haus vor zwei Jahrzehnten übernommen. „Mein Mann und ich wollten der urbanen Hektik entrinnen.“ Jetzt schickt sie ihre Gäste in die Kunstgalerien der Nachbarschaft. Empfiehlt den Lammbraten und die Boerewors im Gallery Café. Und erklärt den erstaunten Stadtmenschen, dass es hier kaum Kriminalität gebe. „Schwarz oder Weiß, wir halten hier zusammen.“

  Nirgends aber kommt man der Karoo so nahe wie auf den Backroads, den ungeteerten Straßen durch das Hinterland. Und das am besten auf Mountainbikes. Arno Botha, ein freundlicher Bure mit schwieligen Händen, der in seiner Freizeit Jugendlichen aus den Townships das Fahrradreparieren beibringt, verleiht sie zu einem Spottpreis. Kurz nach dem Ortsende von Prince Albert führt eine Piste schnurstracks in die Swartberge. Nur selten passiert ein Jeep, ansonsten gleißende, flimmernde Weite. Am Wegesrand: violett leuchtende Kiesel, winzige Sukkulentenblüten und ein ausgebleichter Pavianschädel. Erst nach einer Stunde taucht ein großer Gutshof auf. „Vrisch gewaagd“, nur zu!, verkündet eine gemauerte Tafel, dahinter erstrecken sich Weinberge bis an die Bergflanken. Der Pioniergeist der einst in die Karoo gezogenen Voortrekker ist hier nach wie vor spürbar.

  Ein wenig versteckt außerhalb von Calitzdorp liegt die Soeterus Guest Farm. Ein reetgedeckter Gutshof inmitten von Aprikosenplantagen und Weinstöcken. Innen rustikale Gemütlichkeit. Außen ein Ornithologen-Paradies, mit Schwärmen von Webervögeln und Kolibris. Der Betreiber James Rutherford war im Vorleben ein erfolgreicher Versicherungsmakler in Johannesburg. Nun betreibt er neben der Herberge noch ein wenig Schafzucht. Begeistert erzählt er von seiner ersten Lamm-Geburt in der Vorwoche. „Wenn du so etwas erlebst, möchtest du nie wieder zurück.“

  Durch Ladismith, vorbei am Felsdom des Towerkop, führt die R 62 zum touristisch erschlosseneren Westende der Kleinen Karoo. In Montagu dienen viele der historisch geschützten Villen um die Long Street als Bed & Breakfast, es gibt gepflegte Wanderwege und zu einem Freizeitpark ausgebaute Warmwasserquellen. Sehr viel bescheidener präsentiert sich dagegen das Garten-Dörfchen Barrydale. Ein Steak-Restaurant, eine Buchhandlung, ein Antiquitätengeschäft. Der Laden der örtlichen Handweberei-Kooperative verkauft schicke naturfarbene Leinentücher und Taschen. Das war es dann aber auch.

  Der Kontrast jedenfalls zwischen den vor Kunstwerken fast überquellenden Räumen des Karoo-Art-Hotels und der umgebenden Landschaft könnte nicht größer sein. Ein örtlicher Klub von Wanderfreunden bietet geführte Touren an. So ziehen wir mit Matt Kruger los, einem jungen, aus Kapstadt zugezogenen Biologen, der in mühsamer Handarbeit Wege über den Hausberg angelegt hat. Barrydale schrumpft zu einer Ansammlung blinkender Dächer im Wüstengebirge, während unser Führer die Wegränder untersucht. Hier eine Agame-Echse. Dort eine Fynbos-Blüte. „Riecht ihr diesen Marihuana-Geruch? Der stammt vom Zuckerbusch.“ Nur das Rascheln der Eidechsen und ein quietschendes Windrad durchbrechen die Stille. Ja, die Karoo mag wie ein Meer aus Steinen und Büschen erscheinen. Die Mitte des Nirgendwo. Und genau hier spürt man es schlagen, das träge Herz Südafrikas.

JONATHAN FISCHER

SZ 30.11.2017P1100586

Mit der sanften Stimme einer Kriegerin – Auf ihrem Album „Arise“ holt die Jazzsängerin Zara McFarlane ihr jamaikanisch-afrikanisches Erbe in die Brexit-Gegenwart

 

Manchmal brauchen Musiktraditionen den geografischen und psychologischen Abstand zu ihrem Ursprung, um ganz neue Blüten zu entfalten. Im Falle von Jamaika sind das gut 4670 Meilen. So weit ist Kingston von London entfernt. Nach dem Krieg hatte Großbritannien Hunderttausende Jamaikaner ins Land gelockt, um dem Mangel an Arbeitskräften beizukommen. Die Einwanderer mischten, bei allen Vorbehalten ihnen gegenüber, auch munter die englische Popszene auf. Weiße Arbeiter und Scooter Boys adoptierten den Ska, Punkbands wie The Clash nahmen Rasta-Hymnen auf, und der verlangsamte, sexy nachhinkende Reggae-Beat schlich sich in die englische Version des Rhythm’n’ Blues ein. Nun macht sich das karibische Erbe auch bemerkbar, wo man es – dank Klassen- und Bildungsbarrieren – vielleicht am wenigsten vermutet hätte: im Jazz. Das liegt vor allem an einer 31 Jahre alten schwarzen Sängerin, an Zara McFarlane.

  Wer McFarlanes zwei bisherigen Alben noch nicht begegnet ist, dem könnte man sie als weiche, melodiös-verspielte Stimme des schwarzen britischen Jazz vorstellen. Kritiker vom Guardian bis zur New York Times haben sie mal mit Sarah Vaughn, mal mit Nina Simone verglichen, die Royal Shakespeare Company lud sie dieses Jahr als Sängerin in „Anthony und Cleopatra“ ein, aber auch jede Popband würde wohl von dieser gleichzeitig besänftigenden und sorgenerfüllten Stimme auf eine höhere Bewusstseinsstufe gehoben. Was McFarlane allerdings auf ihrem dritten, soeben erschienenen Album „Arise“ bietet, ist dann doch einigermaßen unerhört. Eine Fusion, wie sie nur in London entstehen konnte: karibische Percussion, Reggae-Bässe, mollige Bläser und im Jazz ganz und gar unübliche vokale Harmonien. Große Melodien versöhnen sich da mit einer oft minimalistischen Instrumentierung.

  Tatsächlich ist McFarlane mit jedem Album ihren Wurzeln näher gekommen. Aufgewachsen als Tochter jamaikanischer Eltern in einer vorwiegend weißen Wohngegend, lief zu Hause ständig Reggae. Zara aber verliebte sich in Musicals: „Ich lernte all die alten Shownummern, bis ich entdeckte, dass sie auch Jazzstandards waren, und mir in dieser Version noch besser gefielen.“ Später sollte die junge Sängerin an der Guildhall School of Music & Drama studieren. Eine erste selbstproduzierte EP fiel Gilles Peterson in die Hände. Er nahm die 23-Jährige unter Vertrag, und nachdem ihr zweites Album „If You Knew Her“ den MOBO – die britische Version des Grammy – gewann, hätte McFarlane wohl auch Karriere gemacht, wenn sie nur in Rotweinbars Standards gesungen hätte. Doch die Frau, die lange Evergreens wie „Night And Day“ gab und „von einem Job als Sessionmusikerin träumte“, hatte eine Mission: Sie besuchte Jamaika, grub nach Folkmusik-Stilen und adaptierte den vielstimmigen Gesang, den sie in Kirchen und bei Familienfeiern erlebte. „Die Freiheit der Londoner Jazzszene“, sagt McFarlane, „hat damit zu tun, dass wir nicht so krampfhaft nach Amerika schielen. Die Karibik steht uns oft viel näher. Es braucht bloß eine gute Übersetzung.“

  Eine gute Übersetzerin – das wäre eine zu bescheidene Jobbeschreibung für McFarlane. Vom Cover von „Arise“ blickt sie, wuchtige Figur, lange Zöpfe, das resoluten Gesicht von einem Barett gekrönt, eher wie eine Kriegerin. Alles an diesem Album ist gut getimte Rhetorik. Das Eröffnungsstück „Ode To Kumina“ mischt (wie auch das letzte Stück „Ode To Cyril“) afrikanische Handtrommel-Rhythmen der im Jamaika des 19. Jahrhunderts populären Kumina-Musik mit vokalen Chants, Bläserriffs und Pfeifen. Es ist der Ausgangspunkt einer Reise, die mehrere Jahrhunderte afrokaribischer Traditionen von Sklaven-Chants über Reggae, Calypso bis zu Dubstep in geisterhafter Gleichzeitigkeit zusammenbindet. Selbst traditionellere Jazzstücke wie „Pride“ lassen unter der Improvisation afrikanische Rhythmen durchscheinen. Und wenn McFarlane zwei Reggae-Klassiker, Norma Deans quirliges „Peace Begins Within“ und den meditativen „Fisherman“- Chant der Congos, covert, steht ihr eigenes Songwriting dem in nichts nach: Wunderbar etwa, wie die Rhythmusgruppe in „Fussing And Fighting“ einen 70er-Jahre Downbeat hinlegt, während die Sängerin in traumhaften Vokalharmonien darüber schwebt und davon singt, nicht vor dem Leid der Welt in die Knie zu gehen. Klassische „Sufferers Music“. Und eine Band, die keine Note zuviel spielt.

  Querverbindungen zu den jungen Jazzhelden von der anderen Seite des Atlantik liegen auf der Hand. Kamasi Washington begleitete Zara McFarlane nicht nur bei ihrem jüngsten Auftritt in Los Angeles: Beide scheinen auch ähnliche Ambitionen auf ein Hip-Hop-affines junges Publikum zu hegen. Das hat viel mit der Produktion zu tun. So lenkt McFarlanes Schlagzeuger und Produzent Moses Boyd den Fokus stark auf den Rhythmus. Wie die meisten der Bandmitglieder kommt er aus einer afrokaribischen Familie. Und hat dieselbe Schule wie Tenorsaxofonist Blinker Golding, Bassist Max Luthert, Pianist Peter Edwards und Klarinettist Shabaka Hutchings durchlaufen: „Tomorrow Warriors“ heißt die derzeit wohl bedeutendste Talentschmiede des jungen britischen Jazz. Gegründet von Veteran Gary Crosby adressiert sie vor allem schwarze und weibliche Musiker – Diaspora-Angehörige also, die hier die Möglichkeit bekommen, mit seinen Jazz Jamaica Allstars und anderen arrivierten Jazzmusikern aufzutreten und sich zu professionalisieren. Die politische Bewusstseinsbildung ereignet sich in diesem Umfeld quasi als Nebeneffekt. „Ich habe gemerkt“, sagt Zara McFarlane, „dass es mich nicht mehr zufriedenstellt, Liebeslieder zu schreiben. Es dauerte eine Zeit, bis ich verstand, was mir diese karibischen Rhythmen erzählen: Eine Geschichte von Entwurzelung, Widerstand und Trost.“ Einer ihrer neuen Songs erzählt diese Geschichte auch ohne Worte wie Brexit oder Rassismus ganz leise und eindrücklich. Auf „Silhouettes“ klagt eine melancholische Klarinette den Blues – und mündet erst ganz zum Schluss in einen Gesang über die schmerzvolle Suche nach dem zerrissenen Ich. Ja, das ist Zara McFarlanes Thema: den aufrechten Gang zu finden, gerade in der Diaspora.

JONATHAN FISCHER

SZ 4.12.2017zara mcfarlane