Monatsarchiv: Juni 2010

SOUL ALLNIGHTER im Loft, Samstag 3. Juli

SOUL ALLNIGHTER im Loft am Samstag, 3. Juli

Fonk – Neuer Hip-Hop und Neo-Soul aus Amerika

Viele großartige Hip-Hop-Momente beruhen auf kongenialen Duo-Konstellationen: Siehe Eric B & Rakim, Pete Rock & CL Smooth oder DJ Premier und Guru. In letzter Zeit jedoch schien dieses Format aus der Mode zu kommen. Das Engagement von zwölf Produzenten für zehn Tracks wurde zur Regel. Die meisten Hip-Hop-Platten kamen wie ein Gemischtwarenladen daher.

Umso mutiger die aktuellen, albumlangen Kollaborationen von Nas & Damian Marley, von Murs & 9th Wonder oder Talib Kweli und Hi-Tek, zusammen Reflection Eternal. „Revolutions Per Minute“ (Warner) heißt ihr erstes gemeinsames Album seit ihrem vielgelobten Debüt „Train Of Thought“. Hi-Teks dunkel-atmosphärische Tracks tragen die atemlosen Off-Beat Reime Kwelis, die in kleinen Dramoletten mühelos Politik und Poesie zusammenschnüren. Ob es um Hurricane Katrina, Staatshilfen für Banken oder – im hochaktuellen „Ballad Of The Black Gold“ – die weltweiten Schäden durch die Ölindustrie geht: Kweli ist wütend. Und doch belässt er es nicht beim Protestieren und Belehren: „You know what my advice is?/ Fuck my advice/ live your life.“ Toll, dass auf dieser Predigtplatte dann auch noch Clubnummern wie das „Midnight Hour“-Duett mit Estelle Platz finden.

Ähnlich disparate Welten führt seit jeher Murs zusammen. Der Rapper aus L.A. setzt für „Fornever“ (SMC) auf ein bewährtes Team: Wieder einmal befeuern die Soul-Funk-Disco-Loops des Produzenten 9th Wonders seine nonchalanten Alltagsgeschichten. Murs untersucht etwa das Suchtpotenzial von „Cigarettes & Liquor“ oder die eigene Schwäche für asiatische Mädchen – wobei er zu der Minderheit im Hip-Hop gehört, die über Frauen weniger als Objekte, denn im Kontext komplexer, oft frustrierender Beziehungen rappt. Auf „Vikki Veil“ etwa erleidet der Rapper endlose Qualen der Unsicherheit, nachdem er sich in ein Porno-Starlet verliebt hat. Oder er seziert in „Let Me Talk“ die kleinen Querelen, die Nächten in getrennten Betten vorausgehen.

Zu dem Thema hätte wohl Nas auch einiges beizutragen. Doch auf seinem Album „Distant Relatives“ (Def Jam) findet seine mit ihm prozessierende Ex-Frau Kelis nur in einem Nebensatz Erwähnung. Stattdessen erkundet der New Yorker in Zusammenarbeit mit Dancehall-Produzent Damian Marley größere historische Perspektiven, insbesondere das Verhältnis der Afroamerikaner zu Afrika. Aufgenommen mit einer Live-Band und den Gästen Lil’ Wayne, Joss Stone und K’naan schwankt das Album zwischen Reggae-Lamento und HipHop-Dynamik. Am stärksten aber ist das von äthiopischen Jazz-Samples getragene „As We Enter“, wo Marleys Rastafari-Weisheiten und Nas messerscharfe Politverse sich leidenschaftlichergänzen.

Ähnlich sendungsbewusst wirkt Raheem Devaughns „The Love And War Masterpeace“ (Jive). Der R’n’B-Sängers versucht sich an einem zeitgenössischen Pendant zu Marvin Gayes „What’s Going On“-Album – und haucht dabei dem lahmenden Rhythm’n’Blues neuen Esprit ein. Auch wenn Streicher und Samtchöre manchmal allzu sehr im Schatten Gayes schmachten: Wann hat man zuletzt so raffiniert produzierten Message Soul gehört wie „Nobody Wins A War“ oder „Wing & A Prayer“, eine Abrechnung mit abwesenden Vätern?

Tettorybad zitieren auf ihrem Debüt „Unite“ (Sunshine Enterprises) gleich Grandmaster Flashs „The Message“. Ansonsten lässt das japanisch-englische Trio Broken Beats, verspielten Hip-Hop und Soulgesang aufeinanderprallen. Georgia Anne Muldrow und ihr Partner Declaime bringen auf ihrem Label SomeOthaShip weitere Hip-Hop-Unterströmungen zu Gehör: „Fonk“ zelebriert zu Declaimes Raps den schweren schleppenden Synthie-Funk der Westküste; Darryl Moores „Whereimat“ verbindet modernen Gospel und Babymaker-Schnulzen à la Al Green; und Muldrows Instrumental-Album „Ocotea“ dreht Chick Corea und Stevie Wonder durch den Downbeat-Wolf dreht. Esoterische Zutaten und verzerrte Basslinien machen allein allerdings noch Meisterstück des abstrakten Hip-Hop.

Guilty Simpson dagegen rehabilitiert auf „Ode To The Ghetto“ (Stones Throw) den Funk: Kult-Produzenten wie J. Dilla, Madlib, Oh No oder Black Milk liefern Cut-up-Collagen und einen federnden, auf Blues-Samples basierenden Bounce. Und noch ein Meisterwerk aus dem Erbe des Hip-Hop-Zauberers J. Dilla: Auf „A Suite to Ma Dukes“ (Mochilla) interpretiert ein Symphonieorchester seine Klassiker. Live eingespielt in L.A. mit der Unterstützung von Dilla-Freunden wie Talib Kweli, Amp Fiddler oder Bilal werden die klassischen Elemente unter den überragenden Beats hervorgekitzelt. Keine Frage: Der Hip-Hop-Himmel liegt manchmal gleich um die Ecke von Disneyland.

JONATHAN FISCHER
SZ 25.6.2010

Wir tanzen alle auf den selben Beat: In Durban scheint der Traum von einem neuen Südafrika wahr zu werden – dank Popmusik

Freitagabend, Florida Road, Durban-
Morningside: Vier junge schwarze
Südafrikaner mit hochgeschobenen
Sonnenbrillen lehnen sich an ihre
teuren deutschen Sportwagen und
wippen zum Rhythmus, der aus einer
Hecktür in die schwüle Tropenluft
donnert: »Ayoba!«, fallen sie in den Zulu-Chant
ein. Ein Ausdruck der Begeisterung – und der
Kampfruf der lokalen Partyszene. Chynaman,
Bongz, Tira und Black Coffee treffen sich hier jedes
Wochenende, um sich mit Cider und Sekt für ihren
nächtlichen DJ-Einsatz warm zu trinken.
Auf der Ausgehmeile Durbans herrscht Hochbetrieb.
Die Neonreklamen der Restaurants blinken
um die Wette, am Bürgersteig wachen Jugendliche
in Leuchtwesten für ein paar Rand Trinkgeld über
die geparkten Jeeps und Limousinen, es riecht nach
dem in Südafrika braai genannten Fleischgrill. Über
allem aber liegt ein dumpfer, federnder Beat. Er
dringt aus Kellerfenstern, aus Bars, aus Minibus-
Taxis, wuchtige Basstrommeln, Freudentriller und
Zulu-Chants. Durban Kwaito nennt sich diese Variante
angloeuropäischer House-Musik, die in den
letzten fünf Jahren von der als Provinz belächelten
Hafenstadt aus ganz Südafrika erobert hat. »Wir
jungen Südafrikaner«, sagt Chynaman, ein freundlicher
Glatzkopf mit Mandelaugen, »wollen endlich
die Narben der Apartheid hinter uns lassen, das Leben
genießen. Egal, ob schwarz oder weiß. Wir
tanzen alle auf denselben Beat.«
Wer abends vom Parkviertel Morningside hinab
zum Indischen Ozean blickt, kann zwischen ausgedehnten
Golfplätzen und Wolkenkratzern die
Lichterspiele einer blühenden Metropole genießen.
Reihen erleuchteter Frachtschiffe laufen in den
größten Hafen Afrikas ein, während davor die neu
erbaute Moses-Mabhida-Fußballarena wie eine
überdimensionale Perlmuschel in den Nachthimmel
strahlt. Überhaupt wirkt Durbans Skyline wie ein
Versprechen: Einträchtig nebeneinander glänzen die
Kuppeln zahlreicher Hindu-Tempel, Moscheen und
Kirchen. Angesichts frisch getünchter Vergnügungspaläste
und neu angelegter Palmenalleen mag man
den Werbebannern der Tourismusbehörden glauben:
»Durban – the warmest place to be«.
Das Versprechen bezieht sich nicht nur auf die
Temperaturen im afrikanischen Winter. Eine Million
Inder, zwei Millionen Schwarze und ein paar
Hunderttausend Weiße haben sich hier arrangiert.
Wo Johannesburg und andere Metropolen über den
innerstädtischen Verfall nach Ende der Apartheid
klagen, hat Durban sein Erscheinungsbild deutlich
verbessert. Nicht dass die Probleme Südafrikas hier
außen vor blieben: Nein, man kann sie kaum übersehen,
die bettelnden Kinder zwischen den Cocktailbars
an der Florida Road. Die auf den Grünstreifen
lagernden Flüchtlinge aus Mosambik und
Simbabwe. Oder die omnipräsenten Wachmänner,
Stacheldrahtrollen und Elektrozäune. Trotzdem
sieht sich Durban als Vorreiter der »Rainbow Na ton
«, eine Art Spielstrand für Optimisten: sauberer,
sicherer, schöner.
Der Plush Club, ein zweistöckiger Glasbau mit
großer Freiluftterrasse im Norden Durbans. Hier
treffen sich jedes Wochenende die Jungen, Schönen
und Feierwütigen der Stadt. Trotz des für Südafrika
horrenden Eintritts von 80 Rand (knapp 8 Euro)
drängen sich lange Schlangen vor dem Eingang.
Der Türsteher besteht auf einer Leibesvisitation.
Immerhin gilt die Gewaltkriminalität als eine der
größten Geißeln Südafrikas: 2006 wurden in einem
Nachbarclub zwei Wachmänner von bewaffneten
Gästen erschossen. Chynaman stand an dem Abend
hinter dem DJ-Pult: »Die Menschen auf der Tanzfläche
gerieten in Panik. Und wir waren uns sicher,
dass der Club nach dem Doppelmord ruiniert wäre.
Aber nur drei Tage später drängten sich wieder dieselben
Schlangen vor der Tür.« Tanzen zu gehen,
exzessiv zu feiern sei eben auch ein Weg um mit der
täglichen Bedrohung fertig zu werden.
Die Kleiderordnung entspricht der Jetset-Anmutung
des Clubs: die Frauen mit Handtäschchen
und eng anliegenden Glitzerkostümen. Die Männer
in Hemden und Anzughosen. T-Shirts und Sandalen
dagegen sind tabu, schließlich geht es darum,
die Fantasien der Mittelschicht in Szene zu setzen.
Der DJ mixt internationalen House mit Durban
Kwaito. Jeder Zulu-Refrain ein Höhepunkt: »Xavatha!
« Lasst es uns tun! Dann schnellen Hunderte
Arme in die Luft, singen die Menschen euphorisch
mit. Fast alle sind schwarz. »Es braucht Zeit, um die
Rassentrennung in den Köpfen zu überwinden«, erklärt
DJ Bongz und nickt vom DJ-Pult in Richtung
der wenigen weißen Gesichter. »Aber ich weiß, dass
viele Weiße meine Platten kaufen – ohne sie könnte
ich nicht diese Erfolge in den Popcharts feiern.«
Dass die Touristenbroschüren die örtliche Partyszene
trotz landesweit gefeierter DJs kaum erwähnen
– das mag auch mit der Gossenherkunft ihrer
Musik zusammenhängen. Tatsächlich entstand der
Kwaito Anfang der neunziger Jahre parallel zum
Ende der Apartheid. Südafrika befand sich in Aufbruchstimmung,
und der auf verlangsamten Housebeats
basierende Kwaito gab der Township-Jugend
erstmals eine eigene Stimme: Sie wollte feiern. Und
dem Land, in dem 50 Prozent der Einwohner unter
25 Jahre alt sind, einen neuen Rhythmus verpassen.
Frühe Stars wie Mandoza punkteten mit Gangster-
Geschichten oder versteckten sich wie Mzekezeke
hinter einer Maske, um anonym für die Habenichtse
in den Wellblechsiedlungen zu sprechen. Lange
lebte der Kwaito von seinen Township-Wurzeln.
2006 aber brachte der Hit Woza Durban nicht
nur die Hafenstadt, sondern auch ein ganz neues
Selbstbewusstsein auf den Plan. Bisher hatte Durban
im Schatten Johannesburgs und seiner Studios,
Radio- und Fernsehsender gestanden. Nun formierte
sich an der Ostküste erstmals eine selbstständige
Szene: Durban Kwaito beschleunigte nicht nur die
Beats, sondern propagierte einen leichtfüßigen luxuriösen
Lebensstil, der offensichtlich die Träume
des jungen Südafrika einfing. Künstler wie Big Nuz,
Bongz oder Black Coffee lieferten soulige Zulu-
Chants und Videos, die vor allem von Cabriofahrten
unter Palmen, Strandpartys und Jachtausflügen
mit Champagner und Bikinimädchen handelten.
»Das setzt uns von der Konkurrenz aus Johannesburg
ab«, sagt Bongz. Der House-DJ inszeniert sich
in seinen Hits als sanften Hedonisten und Gentleman
von Welt. Gewalt und Armut dagegen werden
in der Welt des Durban Kwaito ausgeblendet – was
möglicherweise Teil des Erfolgsrezepts ist.
»Wir zeigen, dass man kein Gangster sein muss,
um zu Wohlstand zu kommen«, erklärt Chynaman.
»Dass es jeder mit harter Arbeit schaffen kann –
selbst wenn er aus der Township kommt.« Um seine
These zu illustrieren, verweist Chynaman gerne auf
die eigene Karriere: Aufgewachsen in der Township
Mandeni im Norden Durbans, war er kein guter
Schüler. Doch schon als Jugendlicher entdeckte er
seine Leidenschaft: Er wollte DJ werden. Er erzählte
seinen Eltern, er müsse bei einem Kameraden Schulaufgaben
erledigen, schlich sich stattdessen in die
Clubs, kauerte bis zum Morgengrauen am DJ-Pult
und prägte sich jede Handbewegung seiner Vorbilder
ein. Ein Freund mit Plattenspielern gab
ihm schließlich die Möglichkeit, selbst zu
üben. Sein Angestelltengehalt bei der städtischen
Steuerbehörde Durbans trug Chynaman
dann vorwiegend in Plattenläden –
und war bald versiert genug, um in den
besten Clubs der Stadt aufzulegen.
Ein Nachtclubbesitzer in Durban
nannte gar sein Etablissement
nach ihm: Chyna White.
2006 begann der DJ selbst
Beats zu produzieren. Mit seinen
örtlichen Kollegen machte er die Afrotainment
Studios in Durban zum Kreativzentrum
der Partyszene: Er komponiere, sagt
Chynaman, nur die Beats. Die gesungenen
Chants und vokalen Einwürfe stammten meist
von den Tänzern: »Wenn die Menschen betrunken
und ausgelassen feiern, fangen sie an, Gesänge
zu improvisieren. Oft passiert das nachts am
Strand: Nach dem Club feiern wir dort mit der
Musikanlage aus dem Auto weiter. Wenn jemandem
ein toller Chant einfällt, frage ich
immer gleich: Können wir das bitte aufnehmen?
Dann geht es vom Strand direkt
ins Studio.«
Samstagabend, Umlazi. Etwa eine
halbe Autostunde landeinwärts von
den mondänen Glas- und Betonhochhäusern
der Strandmeile
Durbans erstrecken sich endlos
gestaffelte Wellblechhüttensiedlungen
über die welligen Hügel
von Kwazulu-Natal. Sie wurden
zu Apartheid-Zeiten errichtet,
um die schwarzen und indischen
Arbeiter, Hausangestellten
und Geschäftsleute in
Reichweite der weißen City
anzusiedeln – und sie dabei
dennoch auf Distanz zu halten:
Nach Feierabend gehörte
die Stadt dann wieder allein
den Weißen. Der Taxifahrer –
er fährt nur selten mal einen
Weißen nach Umlazi – erzählt,
dass viele der Südafrikaner auch
nach Ende der Apartheid in
strikt getrennten Welten lebten.
Viele könnten sich schon die Fahrt
aus den Townships an den Strand
kaum leisten. Und welchen Grund
könnte ein Weißer schon haben, die
von Arbeitslosigkeit, Aids und Gewalt
geplagten Vororte zu besuchen?
Außer der Musik natürlich: Sobald
das Taxi die Abzweigung nach Umlazi,
District V nimmt, dringen durch spärlich
erleuchtete Nebenstraßen die typisch federnden
Beats. Kwaito. Sie kommen von einem
Schrottplatz. Zwischen Autowracks und defekten
Baugeräten hat die Creme der Durbaner DJ-Szene
ihre Sportwagen geparkt. Mjay, der bullige Besitzer
des Alteisenhandels, nimmt die Besucher
persönlich per Handschlag in Empfang. In einer
offenen, unverputzten Garage hat er eine improvisierte
Diskothek eingerichtet: Boxentürme, ein
DJ-Pult und eine Tanzfläche, von einer einzelnen
Neonröhre erhellt. Eine Gruppe Jugendlicher
schlurft in rhythmischen Zuckungen zum Beat.
Pantsula, ein Township-Ritus, den Männer mit
Männern im Kreis tanzen. Im Halbdunkel hocken
drei Dutzend Besucher auf Plastikstühlen,
kippen Cider, Bier und Whiskey aus Einwegbechern
– und kommentieren lautstark die Auswahl
des Djs. »Ayoba!«
Thokozani Ndlovu alias L’Vovo Derrango, ein
Hüne im Hip-Hop-Dress und seit einigen Jahren
der Shootingstar des Durban Kwaito, diskutiert
mit seinen Freunden die kommenden Auftritte in
Umlazi. Während der WM sind hier wie auch in
anderen Townships riesige Bühnen aufgebaut, wo
die Fußballspiele live übertragen werden und die
Kwaito-Szene rund um die Uhr für Unterhaltung
sorgt. »In den Stadien ist nicht Platz für alle«, sagt
L’Vovo. »Und viele können sich die Karten auch
gar nicht leisten. Deshalb treten wir hier auf –
damit es keine Tumulte gibt und die Township-
Bewohner auch etwas zum Feiern haben.« L’Vovos
sanfter Blick, sein breites Lächeln wollen so gar
nicht zu seinem öffentlichen Image passen: In
seinen Videos gibt sich der 150-Kilo-Mann bevorzugt
als eine Art Mafiaboss.
Er wiegelt ab: »Es ist doch nur Unterhaltung.
« Der studierte Sprachwissenschaftler
hat sich vom Bühnenansager
zum internationalen Kwaito-Star
hochgearbeitet und seinen Bühnennamen
zur Hälfte von einem amerikanischen
Rapper namens LV, zur anderen von einem Spaghetti-
Western entliehen. Seine Texte aber bleiben
definitiv Zulu. »Die Menschen mögen einfach
jemanden aus den eigenen Reihen in der
Heldenrolle sehen, sie wollen Südafrikaner, nicht
nur Amerikaner.« Auf seiner letzten Platte ist
L’Vovo dann doch zu weit gegangen: Er stellte das
Coverbild von Jay-Zs American Gangster nach –
und musste auf Drängen der Plattenfirma des
amerikanischen Rapstars sein eigenes Album
wieder einstampfen lassen.
L’Vovo nimmt es gelassen: »Das
größere Konto gewinnt doch
immer.«
Ähnlich kommentieren
Township-Bewohner und
regierungskritische
Zeitungen
die millionenschweren
Renovierungsarbeiten.
Viele zweifeln, ob
die Sta dion-Neubauten,
die Freizeitparks und verbesserten
Transportmöglichkeiten
wirklich der armen Bevölkerung zugute
kommen – und nicht nur der Mittel- und Oberschicht.
So wurde zwar mit großem Pomp gerade
der neue Flughafen King Shaka in Betrieb genommen,
die Township-Pendler aber bleiben
weiter auf die anarchischen und oft lebensgefährlichen
Minibusse angewiesen. Zudem soll die
städtische Polizei nach Angaben lokaler Hilfsorganisationen
viele Straßenkinder aus dem
Strand- und Geschäftsviertel gewaltsam zu Orten
weit außerhalb Durbans deportiert haben. Ihr
Anblick soll die makellose Fassade nicht verunzieren.
Am Nordende der Golden Mile zeigt Durban
sein schönes neues Gesicht: Hier ist eine Artdéco-
Meile nach dem Vorbild von Miami Beach
aus dem Sand gestampft worden. »Sun Coast«
leuchtet es über einem Casino-Zentrum: Jugendliche
aller Couleur ziehen durch die Spielsäle,
Kinos, Restaurants. Es ist einer der Orte Durbans,
der offensichtlich keine Rassen-, sondern
bestenfalls Klassenunterschiede kennt: Weiße
Surfer, verschleierte Muslimas mit ihren Kindern
und die weiß-blau gekleideten Wiedertäufer einer
schwarzen Christensekte teilen sich denselben
Strandabschnitt. Selbst ein paar Vertreter
der sozial eher abgeschottet lebenden Hindus
feiern hier ihr braai. An der Promenade haben
Flüchtlingskinder riesige Sandskulpturen gebaut:
Löwen, Elefanten, ein BMW-Cabrio in Originalgröße
– und ein Raubtier, das einen blutenden
Menschen im Maul hält. Unterschrift:
»The big leopard bites poor man.« Am
Ende werden immer die Armen gebissen.
Viele von ihnen wohnen nur
ein paar Kilometer weiter südlich
in South Beach: Dort,
am Ende
der
The
Point genannten Halbinsel, wirken der
Vergnügungspark U-Shaka Sea World,
ein Kanalnetz mit Touristen-Gondeln
und einige neu gebaute Lu xus apart menthäu
ser wie glitzernde Ufos in einer Ruinenlandschaft.
Die Strandhotels von einst: blätternde
Betonkisten. Touristen, so heißt es, sollten
das Viertel nach Einbruch der Dunkelheit
meiden – dann regieren die nigerianischen Drogenhändler,
die Zuhälter, Prostituierten und
Kleinkriminellen die Trottoirs. DJ Chynaman
rollt dennoch einmal im Monat in seinem roten
Audi Sportcoupé durch die spärlich erleuchteten
Straßen von South Beach. Er hat einen Gig in
einem der wenigen verbliebenen Clubs des
Viertels.
Ein Restaurant im obersten Stock eines Kaufhauses.
Am Eingang Wachmänner und ein
schweres Eisengitter. Fünf Stockwerke höher
drängen sich Hunderte Tänzer in dem zur Disco
um funktionierten Selbstbedienungslokal. Es
riecht nach Billigparfum, Bratfett und Bier. »Ich
lege nicht nur in den feinen Clubs auf«, sagt
Chynaman angesichts der vielen Jugendlichen in
Gummisandalen und T-Shirt. »Diese Leute lieben
meine Musik, und ich zeige ihnen, dass ich
immer noch zu ihnen gehöre.« Sobald er hinterm
DJ-Pult steht, seine Erkennungshymne Xavatha
auflegt, geht ein Aufschrei durch die Menge. Die
Bässe klingen dumpf, die Höhen scheppern.
Egal. Ein Dutzend Mädchen recken ihre Fotohandys
in Richtung Chynaman. Ein echter Star
ist zu ihnen gekommen.
Um sechs Uhr morgens ist die Tanzfläche immer
noch voll, und Chynaman erinnert sich an
seine Mission: »Wir Popstars müssen Vorbilder
sein«, hatte er im Auto erzählt. Dass er sich deswegen
einem öffentlichen Aids-Test unterzogen
habe und niemals mehr als vier, fünf Bier trinke.
Er fährt die Regler runter, greift zum Mikrofon:
»Fahrt nicht betrunken!«, ruft er über einem
Housebeat. »Seid rücksichtsvoll zueinander!« Und:
»Vergesst nicht, Kondome zu kaufen!«

Jonathan Fischer
DIE ZEIT 17. Juni 2010

Musik des Teufels – Vor hundert Jahren wurde Howlin’ Wolf geboren, das unerreichte Idol aller Rockstars

Als der Blues in den sechziger Jahren zum zahmen Haustier der Popkultur verkam, bewahrte Howlin‘ Wolf seinem Genre die Aura latenter Gewaltbereitschaft. Selbst Kollegen gegenüber gab sich der 140-Kilo-Mann unberechenbar. Da wollten die Rolling Stones unbedingt mit dem Blues-Hünen auftreten, schwärmte Bob Dylan von der Bühnenpräsenz des „größten Live-Performers überhaupt“: „Er brauchte nicht einmal einen Finger zu rühren, um die Menschen in seinen Bann zu schlagen“. Sie witterten in der Musik von Howlin’ Wolf eine unbändige Energiequelle.

Chester Arthur „Howlin’ Wolf“ Burnett zuckte ob der prominenten Komplimente nur mit den Schultern. Posen blieben ihm fremd. Die Glamourwelt des Rock’n Roll diente ihm später zwar als einträgliches Podium, doch interessiert hatte ihn dieses Leben nie. Berüchtigt die Szene als er eine Frau, die ihm zärtlich mit den Händen übers Gesicht fuhr, wie eine lästige Fliege von der Bühne wischte. Letztlich blieb er bei den ländlichen „Field Hollers“ seiner Kindheit, den spontanen Ausrufen der Plantagenarbeiter. Als sein Biograf Peter Guralnick ihm einen Artikel vorlas in dem er Wolfe’s Hit „300 Pounds Of Joy“ zitierte, wiederholte der Sänger die Songzeilen vergnügt, als habe er sie gerade zum ersten Mal gehört: „300 pounds of heavenly joy, mmm, hmmm. Wo hast du das bloß her Junge? Ist das vielleicht auf deinem eigenen Mist gewachsen?“

Wolfs Bühnenpräsenz war mächtig, aber nicht besonders elegant. Seine Fähigkeiten auf der Gitarre und der Mundharmonika waren eher rudimentär. Doch der Gesang allein rechtfertigte seinen Namen. Ein gewalttätiges Grollen und Raspeln, das in seinen Schattierungen eine tiefe Verzweiflung ahnen ließ. Da trafen Testosteron-Schübe und Elendsgeschichten aufeinander.

Der Delta Blues von Charlie Patton und Tommy Johnson hatten seiner Musik Pate gestanden. Vor allem aber bewunderte er den weißen Countrysänger Jimmie Rodgers. Der Legende nach wollte er ursprünglich dessen „Blue Yodel“ imitieren: Doch aus Wolfs Kehle kam statt des Country-Jodlers etwas anderes, etwas Düsteres, Ungebändigtes und erotisch Explosives. er musste nur eine Silbe stöhnen und schon traf sich das Vulgäre und der Schmerz vom Leben in der amerikanischen Armut in seiner Stimme.

Wolfs Biografie liest sich, als wäre sie Vorlage für einen Bluessong: Am 10. Juni 1910 in White Station, Mississippi geboren, wurde er als Kind vom Vater verlassen und wuchs bei einem prügelnden Onkel auf. Mit 13 Jahren floh Chester Burnett zu seinem leiblichen Vater ins Mississippi-Delta. Dort bekam er von Charley Patton Gitarrenunterricht. Mit Sonny Boy Williamson und Son House zog er durch die Juke Joints des Südens. Seine bibeltreue Mutter wollte wegen seiner „Musik des Teufels“ nichts mehr von ihm wissen. Sein Kollege Johnny Shines vermutete, der Hüne müsse einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben: „Ich fürchtete mich vor Wolf wie vor einem wilden Tier. Es waren diese Geräusche, die aus seinem Mund kamen!“

1951 lud Sam Phillips den Bluesmann in sein Sun Studio in Memphis ein. „Moanin‘ At Midnight“ und „How Many More Years“ wurden Wolfs erste Top Ten Hits. Zwei Jahre später lockte ihn Chess Records nach Chicago. Phillips aber, der immerhin Elvis Presley, Carl Perkins und Jerry Lee Lewis groß machte, pries Howlin‘ Wolf als die „größte Entdeckung von allen“: „Wenn er seine Stimme erhob, blieb die Zeit stehen.“

Der Rest der Geschichte ist Legende. In Chicago rivalisierte Howlin‘ Wolf’s animalische Bühnenshow mit dem sehr viel zivilisierteren Act von Muddy Waters. Er sang „Smokestack Lightnin’“, „Killing Floor“, „Spoonful“, „Evil“, „Back Door Man“, allesamt bald Klassiker im Kanon des Rock’n Roll. Und er produzierte Zeit seines Lebens jene Energie, die seine Epigonen nie erreichten.

1971 schließlich bekamen die Stones ihn doch noch zu fassen. Sechs Jahre bevor er an einem Nierenleiden verstarb ging er mit Eric Clapton, einigen Rolling Stones, Ringo Starr und anderen britischen Rockstars für das Album „The London Howlin‘ Wolf Sessions“ ins Studio. Von dort aus lässt sich Wolfs Einfluss von Led Zeppelin über die Grunge-Rocker der neunziger Jahre bis zu heutigen Punkbands verfolgen. Spurenelemente seiner Getriebenheit finden sich bei Tom Waits und Amy Winehouse, bei den White Stripes und bei Notorious B.I.G.. Hundert Jahre nach Howlin’ Wolf’s Geburt ist seine Stimme fester Bestandteil der kollektiven Pop-Psyche. Unsterblich wie seine Zeile: „I begged for water, she gave me gasoline“.

JONATHAN FISCHER

SZ, 10.6.2010

Entfernte Verwandte – Der Rapstar Nas über die Frage, warum der amerikanische Hip-Hop seine afrikanischen Wurzeln verdrängt

Nasir Jones alias Nas gilt seit seinem Debütalbum „Illmatic“ von 1994 als einer der besten Rapper in der Geschichte des Hip-Hop. Nach neun Soloalben veröffentlicht der New Yorker Rapper nun im Gespann mit Bob Marleys Sohn Damian Marley „Distant Relatives“, eine Hommage an den Kontinent Afrika.

SZ: Im Reggae waren die afrikanischen Wurzeln immer präsent. Warum kam der Hip-Hop bisher meist nicht über ein paar „motherland“-Floskeln hinaus ?

Nas: Im Hip-Hop geht es erst einmal um Respekt für die eigene Nachbarschaft, die eigenen Freunde. Ich muss gestehen, dass ich auch immer umgeschaltet habe, wenn im Fernsehen irgendwelche Dokumentationen über Afrika liefen. Vor allem wenn es um verstümmelte Kinder oder Hungersnöte ging: Die Welt ist voller Grausamkeiten, da möchte man sich manchmal schützen.

SZ : Je tzt sampeln Sie nicht nur äthiopischen Jazz und Gesänge aus Mali, sondern adressieren sehr realistisch das Afri ka von heute, mit seinen Slums, den Krankheiten und Seuchen.

Nas: Wir bekommen unsere Nachrichten doch nur über CNN oder BBC. Das ist ein sehr beschränkter Ausblick. Auf meinem neuen Album rappe ich zusammen mit (dem Exil-Somalier) K’naan. Der hat mir aus eigener Erfahrung berichtet: Ich hatte vorher keine Ahnung, wie etwa die Flüchtlinge in Somalia oder die ehemaligen Kindersoldaten in Liberia leben. Dagegen klingen die Erzählungen über das harte Leben in der Bronx oder South Central harmlos und banal.

SZ: Sie sind immerhin in den brutalen Sozialbauten von Queensbridge, New York, aufgewachsen. . .

Nas: Ich bin an Drogendealer und tägliche Schießereien gewöhnt. Aber gegenüber dem, was viele Afrikaner jeden Tag durchmachen, kommt mir das doch wie ein Spaziergang im Park vor. Das habe ich bei meinen Besuchen in Lagos, Durban oder Abuja mit eigenen Augen gesehen.

SZ: Der Einfluss Amerikas auf die afrikanischen Musiker ist gewaltig: Viele von ihnen versuchen den Materialismus ihrer westlichen Vorbilder in ihren Videos zu emulieren, zeigen sich mit Cabrios, Yachten und Bling.

Nas: Wo ist das Problem? Videos sind doch eine feine Sache: Man darf hier seine Phantasie freien Lauf lassen, die Welt erschaffen, die man sich erträumt. Da inszeniert man eben Dinge, die man sich gewöhnlich nicht leisten könnte. Auch in Amerika träumen Jugendlichen davon, einmal ganz groß raus zu kommen. Das ist doch das Tolle am Hip-Hop: Du kannst über Nacht von den Armen zu den Superreichen aufsteigen.

SZ: Begräbt der Materialismus am Ende aber nicht die politische Botschaft der Musik?

Nas: Nicht für mich. Hip-Hop hat das Aussehen der Welt verändert. Wie Autos designt werden, welche Kleider und Turnschuhe Jugendliche auf aller Welt tragen, welche Themen Magazine aufgreifen. Das bestimmt die Generation Hip-Hop. Heute führen selbst Edel-Boutiquen Schmuck, der einst im Ghetto entworfen wurde. Nach Reichtum zu streben ist in Ordnung, deswegen ist niemand asozial.

SZ: Auf der anderen Seite beklagen Sie in „Leaders“ den Mangel an schwarzen Leitfiguren .

Nas: Ja, das fehlt mir wirklich. Niemand riskiert mehr, die Klappe aufzureißen wie einst Muhammad Ali. Aber das liegt nicht am Bling. Sondern an den Schulen, den Medien, die uns nichts über unsere schwarze Geschichte beibringen. Die uns zu wenig von Malcolm X oder Nelson Mandela erzählen. Die verschweigen, dass die Mathematik, die Baukunst der Pyramiden oder die Ursprünge der Philosophie aus Afrika gekommen sind.

SZ: Können denn Hip-Hopper wirklich als Führerfiguren in die Bresche springen?

Nas: Rapper sind keine Politiker. Sie produzieren lustige Texte, wütende Texte manchmal auch gewalttätige Texte, aber letztendlich bleibt doch eine Botschaft hängen: Gib dich nicht auf. Mach was aus deinem Leben. Ich denke da an „The Blueprint III“ von Jay-Z . Oder an Drake oder Lil‘ Wayne. Das sind natürliche Führerfiguren.

SZ: Andererseits werfen Sie den schwarzen Menschen in Amerika destruktives Verhalten vor .

Nas: Ich zeige nicht mit dem Finger auf andere. Sondern frage mich, woher diese ungeheure Aggression kommt, mit der wir Schwarzen in Amerika übereinander herfallen. Wir wissen nicht, woher wir stammen. Wir wissen nicht, wie wir in dieses Land hier gekommen sind. Wir wissen nicht, warum wir im Elend stecken. Also richten wir die Wut und die Schuldzuweisungen gegen uns selbst.

SZ: Und Sie glauben, dass die Lösung in der Beschäftigung mit den afrikanischen Wurzeln liegt?

Nas: Ja, denn in unseren Adern fließt etwas, das unseren Leuten angetan wurde, lange bevor wir geboren wurden. Und es steckt noch immer in uns. Wir kommen mit geballten Fäusten auf die Welt: Stets bereit zu kämpfen. Aber unsere Vorfahren sind nicht mehr da, um uns zu erzählen, was da passiert ist. Wenn die Gewalt aufhören soll, müssen wir selbst in unserer Vergangenheit graben. Nach Afrika schauen. Ich habe kürzlich bei einer Fernsehdokumentation über ein liberianisches Fußballteam mit Kriegsamputierten mitgewirkt. Ihr Lebenswille und ihre Lebensfreude haben mich nachhaltig beeindruckt. Deswegen sage ich mit meinem neuen Album, schaut euch das mal genauer an: Die Afrikaner sind „distant relatives“, entfernte Verwandte. Und wir können von ihnen viel lernen!

Interview: Jonathan Fischer

SZ 2.6.2010

Elektroschocks aus dem Bauch der Städte: Die afrikanische Popmusik für den westlichen Markt ist ein reaktionäres Klischee – der Afropop für Afrikaner mag schwer verdaulich sein, aber er blickt nach vorn

Besucher aus dem Westen sind oft verwirrt. Da haben sie CD-Schränke voller Musik von Miriam Makeba und Manu Dibango, von Youssou N’Dour und Salif Keita, all den Namen also, die im Westen für afrikanischen Pop stehen, doch wenn sie dann in einer Metropole des schwarzen Kontinents stehen, brüllt ihnen von den Straßen etwas anderes, Unerhörtes entgegen. So geht es selbst Musikjournalisten. Ein Reporter des Popmagazins The Wire etwa besuchte kürzlich in Kinshasa die im Westen für ihre elektronisch verzerrte Fingerklavier-Musik hochverehrten Musiker von Konono No.1. Er war dann sehr verwundert über die Gleichgültigkeit des heimischen Publikums: Denn auch wenn die folkloristisch kostümierten Konono No.1 den Nerv des hiesigen Jazz- und Elektronik-Publikums treffen, Herbie Hancock und Björk sie ins Studio geladen haben, die Jugend von Kinshasa hält sich kaum mit Traditionen auf. Ihr Blick ist nach vorne gerichtet. Auf die zumindest symbolische Überwindung der Armut, die ihnen die in teure Anzüge und Designerschuhe gewandeten Musiker der Sapeurs-Gemeinde um Kester Emeneya oder Koffi Olomidé vorspiegeln. Mag die Modeschau zu galoppierenden Rhythmen und flirrenden Gitarren auch befremden. Es ist Musik von Afrikanern für Afrikaner.

Dabei gelten hier kaum andere Regeln als im Rock ’n’ Roll. Auch der Afropop verkauft kommerzielle, gesellschaftliche und sexuelle Erfolgsgeschichten. Statt zu konservieren will er das Neue erzwingen. Und warum sollten afrikanische Jugendliche auch die Musik ihrer Eltern hören? Stattdessen mischen sie ihre Traditionen mit Hip-Hop, Reggae, Funk und Techno. So entstanden Musik-Bastarde wie Hiplife, Kuduru, Kwaito oder Bongo Flava, die aus den Marktständen, Kleinbussen und Bars von Dakar bis Kapstadt schallen, jedoch international kaum Wiederhall finden. Was haben die Platten, die europäische Konsumenten unter dem Label Weltmusik kaufen, denn auch mit der aktuellen Popszene Afrikas zu tun?

Wenn Miriam Makeba oder Hugh Masekela in den 60er Jahren zu den ersten Weltmusik-Stars aufstiegen, dann verkauften sie vor allem milde Exotik: Melancholische Gesänge einer rehäugigen afrikanischen Schönheit, gepaart mit lebensbejahenden Folk- und Jazzrhythmen. Hugh Masekelas lyrisches Trompetenspiel passte hervorragend zum Soul von Motown. Und wenn Paul Simon afrikanische Gäste einlud, dann konnte man sich auf schöne Zulu-Harmonien gefasst machen. Doch während Makeba & Co im Westen riesige Erfolge feierten, war die Jugend ihrer Heimat längst auf den nächsten Zug aufgesprungen. Tanzte sie zu den billigen Orgelriffs von Mbaqanga-Bands wie den Soul Brothers. Oder den westlichen Dancefloor-Adaptionen einer Brenda Fassie.

In Südafrika verkaufte Fassie Millionen von Platten, wird sie als „Madonna der Townships“ verehrt. Ins Raster des Weltmusik-Publikums aber passte sie nicht. Dieses hatte in Afrika bisher vor allem das Traditionelle, Folkloristische und Exotische gesucht. Für die Moderne, in der ein großer Teil der Menschen Afrikas heute lebt, blieb da kein Platz. Und erst recht nicht für die rohe Energie ihrer städtischen Musik: Dabei kann der Wortwitz, mit der nigerianische HipHop-Stars wie African China, Faze oder Modenine ihren Überlebenswillen in Reime gießen, durchaus begeistern. Kommen gerade mit dem Kuduru aus Luanda, Angola, die frischesten Techno-Tracks. Befördern die House-Rhythmen südafrikanischer Kwaito-Stars wie Zola oder DJ Clock einen sagenhaften Optimismus, predigen sonst chancenlose Township-Youngster hier Parolen von Selbstermächtigung.

Weil aber afrikanische Popmusiker den Markt des Westens kaum kennen, brauchte lokaler Afropop bisher die Übersetzungsarbeit von Peter Gabriel & Co. Nur mit ihrer Hilfe stiegen etwa Khaled, Youssou N’dour, Salif Keita oder King Sunny Adé zu Weltstars auf. Man musste ihre Endlostracks für den westlichen Drei-Minuten-Standard aufbrechen, ihnen bei der Instrumentierung (lieber akustisch statt elektronisch!) und Songauswahl (warum nicht mal ein Cover eines kubanischen Klassikers?) helfen, und teure Studios buchen. Schließlich gehorcht der Erfolg etwa in Bamako ganz anderen Regeln als der in Berlin.

Allzu oft importieren Plattenfirmen für Weltmusik aus Afrika deshalb nur das Rohprodukt. Dann spielen sie in europäischen Studios Overdubs ein, mit Instrumenten und Musikern, die im Original nie vorgesehen waren. Eine falsche Harmonisierung. Doch sind es nicht gerade die Widersprüche und Reibungen, die authentische urbane Musik aus Afrika so interessant machen? Lediglich Kleinvertriebe wie das vom Münchner Journalisten Jay Rutledge betriebene Outhere-Label importieren letztere nach Europa und versuchen die gewaltige Lücke zu schließen.

Auf der jüngsten Outhere-Veröffentlichung „Songs About Leaving Africa“, einer Sammlung von Migrations-Songs aus Afrika, finden aus diesem Grund nicht nur Lieder über Bootsflüchtlinge und Kriegsvertriebene Platz, sondern auch Coupé Decalé, ein Musikstil, der als hedonistische Untermalung der Triumphfeiern gilt, mit dem in Europa reich gewordene Geschäftslaute und Gauner ihre Rückkehr in Abidjan oder Kinshasa feiern. Dabei geben sie mit Autos, Kleidung und Frauen an, und bezahlen großzügig Club-DJs, die ihnen mit Komplimenten den Bauch pinseln. Auch das ist Teil der lebendigen Musikkultur von Afrika. Höchste Zeit also, sich vom eindimensionalen Bild des Afropop zu verabschieden.

JONATHAN FISCHER

Süddeutsche Zeitung 29.5.2010