Monatsarchiv: Januar 2022

Der erste Hipster

Vorbild für die Beat-Poeten, Chet Baker, die „Beastie Boys“ und Eminem: Der Jazzmusiker und Drogendealer Mezz Mezzrow machte in den Dreißigerjahren eine erstaunliche Karriere.

Ein bleicher Typ mit Halbglatze, Brille, Krawatte, Hosenträgern: So stellte man sich in den Dreißiger- und Vierzigerjahren eher einen braven Buchhalter vor als einen Jazzmusiker und Drogendealer. Und doch bewegte sich der Spross einer jüdischen Mittelklassefamilie, Mezz Mezzrow, mit erstaunlicher Chuzpe in der Halbwelt von Harlem. Bezeichnend der Moment, als Mezzrow 1940 im Gefängnis von Rikers Island landete, der feinsinnige Musikliebhaber in die Gesellschaft richtiger Gangster geriet: Er sei schwarz, auch wenn er nicht so aussehe, bedrängte er den Gefängnisaufseher. Und er werde im weißen Block sicherlich nicht zurechtkommen. Außerdem hätte er Freunde in Block sechs, die ihn vor Schwierigkeiten bewahren würden.

Der Aufseher, so erzählt es Mezzrow in seiner Autobiografie „Really the Blues“, „trat verwundert einen Schritt zurück und studierte sorgfältig meine Gesichtszüge. Beim Anblick meiner Kraushaare schien er ein wenig erleichtert zu sein. ,Okay, Sie sind also Mezz Mezzrow. Ich habe von Ihnen in der Zeitung gelesen und mich gefragt, wann Sie endlich hier auftauchen. Wir brauchen einen guten Bandleader für unsere Band, und Sie kommen mir gerade recht.'“ Er händigte Mezzrow eine Karte mit der Aufschrift „Block sechs“ aus. Der Hipster durfte in schwarzer Gesellschaft einsitzen: „Ich fühlte mich wie nach einer Begnadigung.“

Im August 1940 hatten Polizisten Mezz Mezzrow vor einem Nachtclub in Flushing Meadows, Long Island, verhaftet. 60 Marihuana-Zigaretten in seinem Besitz brachten ihn vor Gericht, wo er zu ein bis drei Jahren im Gefängnis von Rikers Island verurteilt wurde. Mezzrow war kein kleiner Fisch: Der jüdische Klarinettist und Bluesmusiker galt zu der Zeit als der Nummer-eins-Dealer in Harlem. Zu seinen Kunden gehörten Louis Armstrong, Fats Waller, Gene Krupa und Dizzy Gillespie. Sie schrieben unter dem Einfluss seiner sogenannten Mezz Rolls ihre Songs und verliehen Mezzrow seinen Spitznamen: „Weißer Bürgermeister von Harlem“.

Literatur Herz der Stadt in Flammen

Er war ein romantischer Rebell – und persönlicher Dealer von Louis Armstrong

„I dreamed about a reefer five feet long/ the Mighty Mezz but not too strong…“, sang Louis Armstrong über seinen Freund. Als persönlicher Dealer hatte Mezz bevorzugten Zugang zum Jazzstar und schlenderte jeden Tag „nach dem Aufstehen um vier Uhr nachmittags zu Louis‘ Apartment, um ihn dort unter der Dusche abzufangen“. Mezz war, nun ja, „hip“. Ein romantischer Rebell, der sich schwarze Kultur als erotisch aufgeladenen Geheimcode aneignete, und damit den Urahn aller späteren weißen Hipster gab: von Jack Kerouac und Allen Ginsberg über Chet Baker und Janis Joplin bis zu Beck, Tom Waits, Mark Ronson, den Beastie Boys und Eminem.

Um Hip zu einem vollen Lifestyle mit eigener Sprache, Mode, Drogen, Politik und Philosophie zu entwickeln, aber brauchte es viele Zutaten. Einen Cocktail, wie er sich in Harlem vor dem Zweiten Weltkrieg zusammenbraute. Die Harlem-Renaissance hatte in den Zwanzigerjahren Künstler, Intellektuelle, Schriftsteller, Polit-Agitatoren, Tänzer, Dealer und Dollars in die „Hauptstadt des schwarzen Amerika“ geschwemmt. Dazu kam die europäische, jüdische, von Hitler nach New York vertriebene Avantgarde. Und eine Menge leicht beschaffbarer Drogen. Denn mit der afroamerikanischen Kultur ging für den Hipster stets die Bewusstseinserweiterung einher: „Light up and be somebody“. So lautete Mezz Mezzrows patentierte Verkaufsanmache, ein Spruch, der seine Joints zu Selbstwert-Boostern verklärte.

Und verwies das Klischee vom Hipster, der seine Augen hinter Sonnenbrillen und seine wahren Absichten hinter Slang versteckt, nicht schon immer auf dessen Stiefbruder, den Junkie? Man mag darüber streiten, ob das Wort „hip“ tatsächlich von der typischen Stellung früher Opiumraucher herrührt, die seitlich auf der Hüfte liegend konsumierten, doch der „white negro“, wie ihn der amerikanische Schriftsteller Norman Mailer in einem berühmten Essay beschrieb, war unwiderstehlich von schwarzen Musikern und Drogendealern angezogen: „Wenn Marihuana ihr Hochzeitsring war, war das Kind die Hipster-Sprache.“

Mezz Mezzrow war gerade mal 15 Jahre alt, als er an den Ort kam, der sein Leben verändern sollte: Die Polizei hatte den Bürgersohn aus Chicago mit einer gestohlenen Studebaker-Limousine aufgegriffen und in eine Reformschule – eine Strafanstalt für Minderjährige – einweisen lassen. Es sollte ihm eine Strafe sein. Den rebellischen Jugendlichen ausnüchtern und in ein bürgerliches Leben zurückführen. Doch dann hörte Mezzrow Nacht für Nacht auf seiner Pritsche die Bluesgesänge aus der schwarzen Sektion des Gefängnisses herüberwehen. Und verliebte sich in deren Mischung aus Melancholie und Lebenslust. Der Blues: Er erschien dem weißen Mittelklassekind wie eine Offenbarung, ein Rausch, die geheime Anleitung zu einem erfüllten Leben.

Ja, er überhöhte, etwas naiv, die Erfahrung der Afroamerikaner: „Der Schwarze“, schwärmte Mezzrow, „der zuvor nichts besaß, erwartet sich auch nichts danach – und er trägt den Blues ohne jede Verbitterung und mit einem Lächeln im Gesicht.“

Milton Mesirow alias Mezz Mezzrow war 1899 in eine jüdische Familie geboren worden, in der es eigenen Angaben nach „nur so von Rechtsanwälten, Doktoren, Zahnärzten wimmelte“. Er aber sammelte – statt akademischer Titel – lieber Insiderwissen über Popmoden und Slang. Schon in seiner Chicagoer Jugend war er seiner Familie so oft wie möglich ausgebüxt, um das so viel buntere und erregendere Treiben auf der anrüchigen Northwest Side zu genießen, sich unter die Ganoven und Glücksspieler in den illegalen Schänken zu mischen. Später ging Mezz Mezzrow noch einen Schritt weiter. Nannte sich einen „voluntary Negro“. Und war entschlossen, nach seiner Entlassung im Jahr 1919, den Rest seines Lebens unter Schwarzen zu verbringen, ihre Musik zu erlernen und „die Welt für den Blues zu erwärmen, wie es nur schwarze Musiker können“.

Juden und Afroamerikaner teilten ähnliche Ausschlusserfahrungen

Er war nicht der einzige Jude mit dem Blues. Tatsächlich lebte die Tradition des sogenannten Blackfacing, also des Bühnenauftritts mit schwarzer Gesichtsschminke, lange von jüdischen Unterhaltern wie dem Kantorsohn und „world’s greatest entertainer“ Al Jolson. Als Minderheit teilten Juden und Afroamerikaner ähnliche Ausschlusserfahrungen, ähnliche Strategien des Hip: Was wäre Muddy Waters ohne seinen jüdischen Freund und Labelbetreiber Leonard Chess? Kann man sich Aretha Franklin ohne ihren Förderer Jerry Wexler denken? Und gäbe es Hip-Hop, wie wir ihn kennen, ohne jüdische Plattenbosse und Produzenten wie Rick Rubin, Bill Adler oder Lyor Cohen?

Hipness bedeutete Freiheit. Die Freiheit, mit Identitäten zu spielen, die Spießer oder „squares“ zu verwirren, sich mit Intelligenz, Stil und einer gewissen Ironie gegen den Mainstream zu inszenieren. Mezz Mezzrow erdichtete sich jedenfalls sein eigenes Leben. Heiratete die Afroamerikanerin Johnnie Mae. Zog nach Harlem. Und sprach als einer von wenigen den Jive seiner schwarzen Mitmenschen. Dabei passt der Mythos vom weißen Jungen, der den Blues stahl, nicht wirklich. Denn amerikanische Popkultur war schon immer eine Mischung europäischer und afrikanischer Impulse. Jazz diente Mezzrow als Gefährt, um an einer Geschichte teilzuhaben. Er feilte an seinem Klarinettenspiel, indem er sich immer wieder die Aufnahmen von King Oliver, Louis Armstrong und Sidney Bechet anhörte. Nicht allen gefiel das. Manchen weißen Musikerkollegen ging Mezzrows Lob alles Afroamerikanischen auf die Nerven, und sie nannten ihn wie Eddie Condon „South Mouth“.

Jazzmusiker Mezz Mezzrow: Auf der Höhe seines Ruhms: Der Jazzmusiker begleitet eine Künstlerin in Paris auf der Klarinette (etwa 1950).

Auf der Höhe seines Ruhms: Der Jazzmusiker begleitet eine Künstlerin in Paris auf der Klarinette (etwa 1950).(Foto: Reporters Associes/Gamma-Rapho via Getty Images)

Selbst der schwarze Klarinettist Sidney Bechet spöttelte einmal: „Der Mann strengt sich zu sehr an, etwas zu sein, was er nicht ist.“ Mag sein, dass „Mighty Mezz“ manchen überspannt vorkam – so wie Hipster bis heute mit ihren Insignien des Nonkonformismus, seien es exzentrische Bärte oder Migranten-Slang, bisweilen am Lächerlichen entlangschrammen.

Allerdings war es nicht seine Musik, die Mezzrow die Tür zu den hipsten Jazzern seiner Zeit öffnete. Sondern Muggle. Reefer. Golden Leafs. Das Zeug, das die Musiker vor oder nach ihrem Gig rauchten.

Marihuana hatte sich von New Orleans‘ Rotlichtbezirk Storyville aus als Modedroge bis nach Chicago verbreitet. Lange hatte Mezzrow der Versuchung widerstanden. Aufgrund seiner Arbeit in der Apotheke seines Onkels hielt er jeden Drogenmissbrauch für den direkten Weg ins Grab. Bis ihn ein Mitmusiker drängte, dem „Vipers Club“, der Gemeinschaft der Raucher, beizutreten. Mezzrow ließ sich auf der Herrentoilette seines Clubs initiieren. Anschließend glaubte er, besser zu improvisieren als je zuvor. „Marihuana ist nicht gefährlicher als die anderen großen amerikanischen Laster wie Cola oder Eiscreme“, erklärte er. „Man bekommt nur mehr Spaß für sein Geld.“

Drei Zigaretten für 50 Cent, den Preis für seinen Stoff erhöhte er nie

Als er 1929 völlig mittellos in Harlem ankam, fand er dort Anschluss an die Viper-Community – und begann selbst mit dem Kraut zu dealen. Mezzrows Qualität sprach sich schnell herum. Und niemand verkaufte billiger als er: drei Zigaretten für 50 Cent. Den Preis erhöhte er nie. Schließlich hatte er sich nie auf den Druck der lokalen Mafia eingelassen, gemeinsam ein Geschäft in großem Maßstab aufzuziehen; auch war er nicht des Profits wegen – Mezz machte immerhin mehrere Hundert Dollar die Woche – im Geschäft. Sondern weil er sich auf diese Weise schwarz fühlte. Schwärzer, als seine bleiche Hautfarbe und sein geschniegeltes Aussehen verrieten.

Gegenwind bekam Mezz vor allem von den amerikanischen Drogenbehörden. 1936 hatte Hollywood in staatlichem Auftrag den Film „Reefer Madness“ produziert, ein Film, der Marihuana-Raucher in die Nähe von Psychopathen und potenziellen Mördern rückte. Ein Jahr später unterschrieb Franklin D. Roosevelt ein neues Gesetz: Es erforderte den Kauf einer dubiosen Steuermarke, um Marihuana verkaufen und vertreiben zu dürfen. In der Folge ging das neu ins Leben gerufene Federal Bureau of Narcotics (FBN) gegen die unter Generalverdacht eines „antisozialen Verhaltens“ stehenden Anhänger der Jazz-Subkultur vor. Das FBN legte gar eine Akte „Marihuana und Musiker“ an. In ihr tauchte das Who is Who der künftigen Jazz Hall of Fame auf: unter anderem Louis Armstrong, Duke Ellington, Cab Calloway, Lionel Hampton, Dizzy Gillespie, Count Basie und Thelonious Monk. Nicht wenige von ihnen zählten zu Mezzrows Stammkunden.

Dieses Abhängigkeitsverhältnis mag dem als mittelmäßig geltenden Musiker bei seiner Karriere geholfen haben: 1937 stellte Mezzrow – nach einer Entzugskur, die vier vergeudete Jahre als Junkie in einem zur Opiumhöhle umfunktionierten Kohlenkeller beendete – eine gemischte fünfzehnköpfige Jazzband für den Uproar Club in Harlem zusammen. Er spielte ein paar historische Sessions mit Sidney Bechet, jammte in Bands hochklassiger schwarzer Jazzmusiker wie Fats Waller, gründete in den Vierzigerjahren sein eigenes Plattenlabel King Jazz Records und ging 1948 auf Europatournee, die mit einem gefeierten Auftritt beim Jazzfestival in Nizza endete. Seine Mission aber blieb eine uramerikanische. Warum nicht statt mit einem mit zwei, drei, vier Bällen jonglieren? „Sich neu zu erfinden“, schreibt der Journalist John Leland von der New York Times, „nicht von unserer Vergangenheit festgelegt zu sein – das war stets das Versprechen des Hip.“ Wenn jüdische Songwriter wie Jerry Leiber und Mike Stoller Rhythm ’n‘ Blues-Klassiker schrieben, Janis Joplin sich als Bessie-Smith-Wiedergängerin inszenierte, weiße Rapper sich in schwarzem Slang duellierten, dann war Mezzrow stets im Geiste dabei, schlug sein Erfindungsgeist jede gesellschaftlich vorgegebene Identität. „How the fuck can I be white“, rappt sein Urenkel Eminem ein halbes Jahrhundert später. „I don’t even exist.“

JONATHAN FISCHER

SZ 22.1.2021

Afrooptimisten mit Kamera

„Die Passanten, die Alten, die Kranken, ja selbst die Verrückten sollen unsere Bilder sehen“: Die Initiative Yamarou gewinnt in Mali Jugendliche dafür, ihr Leben mit der Kamera zu erzählen. Über Fotografen, die sich als Agenten des Wandels verstehen, als Zukunftsbeschwörer.

Eine staubige Gasse im Herzen von Bamako: Zwei übermannshohe Puppen, eine ein Mann mit riesigen Pappmaschee-Händen, das andere eine hübsch frisierte Frau, wagen einen Paartanz, ihre Kleider wehen, während die Puppenspieler unter dem Gejohle einer Kinderschar die Figuren nach links und rechts wirbeln lassen. Aus einem Soundsystem an der Kreuzung nebenan schallt malischer Hiphop.

Ein Kreis von Zuschauern feuert die Breakdancer in ihrer Mitte an. Der Anlass dieser Straßenparty aber sind die umliegenden Mauern und Hauswände: Fotografen haben dort den ganzen Morgen lang mit Kleister ihre Bilder angebracht. Auf Papier hochgezogene Porträts geklebt. Familiengeschichten. Momentaufnahmen des Lebens in der Hauptstadt. Aber auch Serien zu Themen wie „Wasser“, „Heimat“ oder alten afrikanischen Religionspraktiken.

Immer wieder halten Passanten an, zeigen mit den Fingern auf Merkwürdiges und Bekanntes. „Wir wollen die Fotografie dahin bringen, wo es weder Galerien noch Museen gibt“, sagt Seydou Camara, der Gründer der Fotografen-Initiative Yamarou. „Eine Fotoausstellung muss ein Fest sein. Ein Fest der Gemeinschaft. Auch die Passanten, die Alten, die Kranken, ja selbst die Verrückten sollen unsere Bilder sehen.“

Die Foto-Biennale hat den Grundstein für aktuelle Experimente gelegt

Bamako gilt als afrikanische Hauptstadt der Fotografie. Das liegt zum einen an Namen wie Malick Sidibé oder Seydou Keïta, Fotografen, die hier seit den 60er-Jahren mit ihren Schwarz-Weiß-Porträts zu internationalem Ruhm gelangt sind, zum anderen an der seit 1994 stattfindenden Biennale „Rencontres de Bamako“. Sie ist das größte afrikanische Fotografentreffen, Ausweis der Weltläufigkeit der malischen Kapitale.

Seydou Camara, selbst ein ausgezeichneter Fotograf, hat über die Biennale Kontakte zu Kollegen in Europa und Amerika geknüpft, seine Werke auch im Ausland gezeigt. „Malier können sich für Musik und Theater begeistern“, sagt der schmale Mann mit dem Schnauzbart, „aber der Besuch von Kunstausstellungen gehört nicht zu unserer traditionellen Kultur.“ Die Professionellen blieben unter sich.

Fotografie in Mali: Seydou Camara (links), der Gründer von Yamarou, hat über die Biennale Kontakte zu Kollegen in Europa und Amerika geknüpft und zeigt seine Werke auch im Ausland.

Seydou Camara (links), der Gründer von Yamarou, hat über die Biennale Kontakte zu Kollegen in Europa und Amerika geknüpft und zeigt seine Werke auch im Ausland.(Foto: Jonathan Fischer)

„Unser Ziel ist es, diese Mauern einzureißen.“ Deshalb gingen die Yamarou-Aktivisten in die Armenviertel Bamakos, wo sie Jugendlichen Fotoapparate leihen, sie unterrichten und anschließend deren Werke auf der Straße ausstellen. Die Kunst müsse raus aus den Hotelfoyers, Chichi-Bars oder Galerien. „Die Menschen in den Vierteln sollen sich ihre eigenen Geschichten erzählen können.“

Viele der zwei Dutzend Yamarou-Aktivisten, die ihre Fotos an Hauswänden präsentieren, stießen auf diese Weise dazu. „Ich habe als Hochzeitsfotograf gearbeitet“, erklärt Al Fousseny Konaté. „Erst als ich Seydous Kurs besuchte, lernte ich, dass man mit dem Fotoapparat auch Kunst machen kann.“ Heute, sagt der 24-Jährige, mache er beides. Mit Hochzeitsbildern verdiene er seinen Unterhalt, während er bei Yamarou seiner Leidenschaft nachgehe. Inzwischen ist er selbst als Kursleiter tätig. „Es ist wichtig, das schlechte Image der Fotografie hierzulande zu korrigieren. Die meisten kennen nur Hochzeitsfotografen. Sie gelten als bloße Dienstleister, als Fototala.“ Seine Familie habe ihm geraten, lieber „etwas Anständiges“ zu machen. Über Kunst zu sprechen – das gelte mehr oder minder als „verrückt“. Aber: „Müssen wir Fotografen nicht zwangsläufig Perspektiven verrücken?“

In seinen Kursen ermutige er Kinder und Jugendliche, alles zu fotografieren, was ihnen wichtig ist. Das sei oft das erste Mal, dass sie sich bewusst mit ihrer familiären und gesellschaftlichen Umgebung beschäftigen. Zwar mangele es malischen Kindern nicht an Kreativität. Ständig bauten sie aus Fundstücken Autos, Motorräder oder Häuser. Aber ein Großteil von ihnen könne, wie 70 Prozent der Bevölkerung, weder richtig lesen noch schreiben. „Bilder spielen da eine große Rolle. Besonders wenn man lernt, ihre Sprache zu lesen.“

Yamarou, der Name der Initiative, bedeutet „Schöpfer“

Ein weiß gestrichener Neubau im Viertel Boukoba im Norden Bamakos: das Hauptquartier von Yamarou. Gegenüber spielen Kinder Fußball, aus den Moscheetürmen dahinter schallt das Nachmittagsgebet. Im Innenhof sitzen ein halbes Dutzend Fotografen auf Plastikstühlen um ein Teestövchen. Egal, ob es um die nächste Ausstellung oder defekte Kameras geht – die Teerunde, ein paar Gläser des schaumig-süßen Minztees, ist in Mali obligatorisch. Was es mit dem Namen Yamarou auf sich habe? Camara erzählt von Mandé Boukary, dem jüngeren Bruder des legendären malischen Königs Soundiata Keïta, Begründer des Mali-Imperiums im 13.Jahrhundert. Boukary habe ständig neue Musikinstrumente, Stücke und Tanzschritte erfunden. Sein Künstlername lautete „Yamarou“. Zu Deutsch: Schöpfer.

Als solche sehen sich auch dessen heutige Jünger, die Yamaristen. Sie nehmen jeden auf, der fotografieren will und sich für mehr als nur Blende und Belichtungszeit interessiert. „Wir diskutieren nicht nur über Fotos“, sagt Camara, „sondern über Ethik und gesellschaftlichen Zusammenhalt.“

Kani Sissoko weiß, was Fotos auslösen können. Bei einer Ausstellung in Wagadugu in Burkina Faso hätte ihre Serie über Beschneidung eine hitzige Diskussion ausgelöst. Männer gegen Frauen. Traditionalisten gegen Liberale. „Es motiviert mich, wenn ich als Künstlerin das Schweigen überwinde. Ein Trauma zur Sprache bringe, das mich und viele andere Frauen betrifft.“ Sissoko hat erst auf Umwegen zur Fotografie gefunden. Früher, sagt die Frau mit den Rasta-Zöpfchen, sei sie in Theatern und Comedy-Veranstaltungen aufgetreten.

Man kann sie sich – forscher Blick, schnelle Zunge – gut als Komödiantin vorstellen. Heute liegt es an Lehrerinnen wie ihr, dass sich immer mehr malische Mädchen für die Fotografie interessieren. In den Yamarou-Kursen stellen sie sogar die Mehrheit – und das, obwohl Fotograf traditionell als Männerberuf gilt. Sissoko kennt das Vorurteil zur Genüge. Bis sie ein Fotokurs bei Seydou Camara überzeugte: „Mit der Kamera kann ich endlich meine ureigene Geschichte erzählen.“ Sissoko, die inzwischen weltweit ausstellt, machte zuletzt eine Serie über die alte afrikanische Religion. „Im Verborgenen praktizieren auch die meisten von uns Muslimen ihre Opfer-Riten. Deshalb habe ich die Verdammung dieser Praktiken nie verstanden. Meine Bilder wollen das zurechtrücken.“

Fotografie in Mali: Die Yamarou-Aktivisten gehen in die Armenviertel Bamakos, wo sie Jugendlichen Fotoapparate leihen, sie unterrichten und anschließend deren Werke auf der Straße ausstellen.

Die Yamarou-Aktivisten gehen in die Armenviertel Bamakos, wo sie Jugendlichen Fotoapparate leihen, sie unterrichten und anschließend deren Werke auf der Straße ausstellen.(Foto: Jonathan Fischer)

Wie aber könnten Malier den Anschluss an die internationale Fotografenszene halten? In Bamako, sagt Yamaristen-Chef Camara, gebe es nach der Schließung des „Centre de Formation de Photographie“, wo er und die meisten Kollegen gelernt hatten, keine Fotografenschule mehr. Das müsse sich ändern: „Bis 2025 wollen wir eine international besetzte Akademie auf die Beine stellen.“ Finanziert wird Yamarou durch eine schweizerische und eine niederländische Stiftung. Auch Donko Ni Maaya, eine Initiative der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, hilft und gibt Fortbildungen in Kulturmanagement. Mit diesen Partnern, so hofft Camara, könne eine Schule einen gesellschaftlichen Impuls setzen.

Im Moment suche er noch nach ausländischen Dozenten. „Wir malischen Fotografen leben in einem Zwiespalt“, sagt er. „Unsere Fotos werden in Europa oder Amerika ausgestellt – aber wie können wir der eigenen Bevölkerung etwas von ihrem Wert vermitteln? Ihnen beibringen, dass es sich lohnt, Ausstellungen anzuschauen, ja Geld für den Kauf von Bildern auszugeben?“ In Mali dekoriere man die Wohnung lieber mit chinesischer Serienware. Oder bestenfalls einem Foto der eigenen Hochzeit. „Wenn man aber ein Bild etwa von Kani kauft, dann hat man gleich noch eine Wertanlage dazu.“ Gelächter. Händeklatschen. Eine Runde Tee für alle.

Das westliche Klischee sieht Afrika als Ort der Katastrophen

Die Yamarou-Fotografen könnten vieles beklagen: ihre materielle Situation, die Fotografie-Unkenntnis ihrer Landsleute, die politische Instabilität in einem der ärmsten Länder der Welt. Stattdessen verstehen sie sich als Agenten des Wandels. Zukunftsbeschwörer. Afro-Optimisten. Denn wer genau hinschaut, kann auch in Mali jede Menge hoffnungsvolle Geschichte entdecken: „Wir Malier „, sagt Sissoko, „finden auch in den schlimmsten Situationen Freude, Glück, Harmonie. Das beflügelt mich auch in meiner Arbeit.“

Seydou Camara nickt. Immer wieder diskutiere er mit den Teilnehmern seiner Workshops, „welche Ideen wir transportieren“. Wolle man westliche Klischees bestätigen, Afrika als Ort voller Katastrophen, Krankheiten und Schmutz porträtieren? Ein negatives Image weiter verstärken? Überhaupt störe ihn dieser Trend zum Tabubruch. Auf jeder Biennale sehe er ausländische Fotografen, die etwa die LGBT-Community porträtieren. Junge Malier glaubten, dass sie das Gleiche tun müssten, um Erfolg zu haben. „Ich frage sie dann, worum es ihnen eigentlich geht: Urteilen sie ? Gerieren sie sich als Voyeure? Oder bilden sie tatsächlich ihre persönliche Lebenswirklichkeit ab? Wir malischen Fotografen müssen unsere Werte respektieren.“

Seydou Camara hat eigentlich Jura studiert, wollte Anwalt werden, bevor er sich entschied, mit der Kamera zu argumentieren, die sehr malische Idee von der cohésion sociale zu verteidigen. „Ich habe Bilder von berühmten westlichen Fotografen gesehen, die malische Kinder mit Schmutz im Gesicht und rotunterlaufenen Augen zeigen. So etwas stößt mich ab.“ Er selbst habe immer versucht, den Abgebildeten ihre Würde zu lassen. Etwa in einer von ihm realisierten Serie über Albinos. Sie seien zwar in der malischen Gesellschaft oft Diskriminierungen ausgesetzt, aber warum als Fotograf nicht ihre ureigene Schönheit feiern? „Mit Yamarou vermitteln wir auch ein Menschenbild. Ich bin in meinem Herzen immer Anwalt geblieben“, sagt er. „Der Anwalt der Menschen auf den Bildern.“

JONATHAN FISCHER

SZ 14.1.2021

GUTER STOFF

Mali ist eines der ärmsten Länder der Welt. Dennoch ist dort der edle Damast beliebt, den wir nur noch von Omas Bettwäsche kennen. Das Rohmaterial stammt: aus Deutschland und Österreich.

Bamako, an der großen Kreuzung des Viertels Garantibougou: Vor den Ampeln klopfen bettelnde Kinder mit Blechnäpfen an Autoscheiben, Mädchen balancieren Tabletts voller Wasserbeutel oder Sesamkeksen zwischen den Passanten, die Busjungen schreien und schlagen aufs Blech der buntbemalten „Sotrama“-Kleinbusse, um einen Halt zu signalisieren. Ohrenbetäubendes Gehupe, Motorengebrüll, Staubwolken. Afrikanisches Megacity-Chaos. Und mittendrin: Frauen in grellblauen, grellgelben und grellgrünen Kostümen und Turbanen schlendern mit der Lässigkeit geborener Königinnen durch den Tumult. Männer in glänzenden, bestickten Boubous lassen ihre Gebetsketten klackern. Und weil heute Sonntag ist, der Tag der Hochzeiten, wirken selbst die Mofatrauben noch bunter und leuchtender als sonst – als ob sich die Fahrer gegenseitig in einem Wettbewerb um das prachtvollste Kostüm übertrumpfen wollten.

Wie kommt es, dass gerade in Mali, einem der ärmsten Länder der Welt, die Menschen am liebsten in edle Stoffe investieren? Welche Geschichten erzählen die handgeschneiderten Kostüme? Und was hat Deutschland damit zu tun?

Getzner, bitte! In Damast-Fragen gilt die Vorarlberger Firma in Mali als erste Adresse

Das sind die Fragen, die ich mir stelle, als ich das Stoffgeschäft mit den überdimensionalen Schaufenstern an besagter Ampel betrete. Wie ein moderner Supertanker ruht es im archaischen Tumult. Bazin riche, Damast, verkündet die Leuchtreklame – gerahmt von österreichischen und deutschen Flaggen. „Tatsächlich würden viele Malier lieber hungern, als an ihren Kleidern zu sparen“, sagt Soya Bathily, der 35-jährige Ladeninhaber. „Und wer Eindruck schinden will, kauft auf jeden Fall deutsche oder österreichische Stoffe. Die erste Qualität.“

Hinter dem Kontor hat Bathily eine ganze Wand voll glänzender Stoffe. Bazin riche aus Weberei-Betrieben in Gera, Augsburg oder Bludenz, dort wo der dicht gewebte Stoff mit dem typischen reliefartigen Fadenmuster seit vielen Jahrhunderten produziert wird. Dass aber ein Hochlohnland wie Deutschland ausgerechnet nach Westafrika exportiert! Glaubt man Bathily, hat das mit örtlichen Qualitätsstandards zu tun. Einer Liebe zu extravaganten Stoffen und Schnitten, die niemals von der Stange kommen dürfen.

Eine Kundin, eine ältere Dame, die wie sie sagt für eine Hochzeit einkauft, zeigt auf ein rosafarbenes Stoffbündel. Einer der Angestellten holt es mittels einer Leiter aus den Regal, entnimmt es der Plastikhülle, faltet es auf, und lässt es durch die Finger gleiten. Der Glanz stimmt. Das leichte Rascheln auch. Die zwei Qualitätsmerkmale, auf die es in Mali ankommt.

Mode in Afrika: Für jedes Fest ein Kostüm: Eine Taufe in Mali.

Für jedes Fest ein Kostüm: Eine Taufe in Mali.(Foto: Jonathan Fischer)

„Wie viel Meter Getzner darf es sein?“ Getzner – das Wort gilt im örtlichen Bamana inzwischen als Synonym für hochwertigen Damast. Die Firma Getzner in Vorarlberg ist seit knapp einem Jahrzehnt Marktführer in Westafrika. Auch die deutschen Firmen HC, Dierig oder Barilux konkurrieren um die Gunst der malischen Kundschaft. „Ich reise jedes Jahr zu Getzner nach Vorarlberg und auf Textilmessen in München und Hamburg“, erklärt Bathily, der, wie es sich für einen weltgewandten Geschäftsmann gehört, ein Damast-Boubou trägt. „Die Farben auf den Fotos entsprechen oft nicht der Realität. Da ist es besser, alles vor Ort zu prüfen.“

Handelszentrum für Westafrika: An den Stoffen hängt in Mali eine regelrechte Industrie

Bathily ist einer von einem knappen Dutzend Großhändlern aus Bamako, die ihre Ware direkt aus Deutschland und Österreich importieren. Um sie an Hunderte von Boutiquen in ganz Westafrika weiterverkaufen. „Damast ist der Mercedes unter den Stoffen“ sagt Bathily. „Und Mali ist das Zentrum des Damasthandels. Geschäftsleute aus Senegal, Burkina Faso oder der Elfenbeinküste reisen hierher, um den Stoff einzukaufen. Oder gleich fertige Kostüme zu bestellen.“ Am Bazin hänge eine regelrechte Industrie: Die Importeure, die Marktverkäufer, die Färbereien, die individuelle Designs fertigen, die Werkstätten, die den Damast glänzend klopfen, die Stickereibetriebe und dann noch all die Schneider, die jedem Kunden sein ganz persönliches Design verpassen. „Wir Malier tragen den Bazin nicht nur freitags für den Moscheebesuch“, erzählt Dandara Traore, eine von Bathilys Stammkundinnen, „sondern auch zu allen anderen Festtagen. Wenn du hier zu einer Hochzeit oder Taufe geladen bist, dann brauchst du auf jeden Fall ein neues Kostüm. Eines aus deutschem bazin riche.

Was afrikanische Haute-Couture-Phantasien befeuert, gilt im Westen seit langem als Ladenhüter. Damast: Das steht hierzulande für Omas Servietten, Tischtücher und Bettwäsche. Brav. Und ungefähr so altmodisch wie gehäkelte Tischtelefon-Überzüge. Tatsächlich ist das Know-how der Damastherstellung vor knapp 900 Jahren aus Damaskus – daher der Name – nach Mitteleuropa gelangt. Ein Stoff für gehobene Ansprüche. Gewebt nur aus reinster Baumwolle, extrem dünnen Garnen und in raffinierten Webmustern. Als in den 1970er-Jahren das Geschäft mit der Damast-Bettwäsche zusammenbrach, und günstigere, bunt bedruckte Baumwollwäsche modern wurde, hatten ein paar findige Manager der Firma Getzner die rettende Idee: Warum nicht den afrikanischen Markt beliefern? Nigerianische Kaufleute hatten als Erste Kontakte in die damalige DDR zu Damastwebereien in Sachsen und Thüringen geknüpft. Andere Hersteller bekamen Wind von der Afrika-Connection. Besonders für Getzner erwies sie sich als Glücksgriff. Heute gehen 98 Prozent der Damast-Produktion in den Export, das Vorarlberger Unternehmen expandiert und ließ neue Webereien im thüringischen Gera errichten.

Der Trend begann, als Geschichtenerzähler und Sänger in neuen Gewändern auftraten

Der Siegeszug des Damasts in Westafrika, erinnert sich Bathily, kam mit der Plötzlichkeit einer Flutwelle. Lange dominierten die bedruckten Wax-Stoffe den Markt. Doch dann zeigten sich immer mehr Griots, die traditionellen Sänger und Geschichtenerzähler Westafrikas, in glänzendem Damast. Politiker, Popstars und Entertainer folgten. Und selbst im Radio besang man leidenschaftlich diesen einen speziellen Stoff – wie etwa die Chanteuse Safi Diabate mit ihrem Song „Nuit de Bazin“. Heute kommt kein Malier mehr um ein Damast-Kostüm herum. Das war einst auch Bathilys Wette. 2014, nach Abschluss seines Jura-Studiums in Tunis, stand er vor der Wahl: Sich als Rechtsanwalt mit einem korrupten System herumschlagen – oder Schönheit zu Geld machen. Bathily eröffnete auf dem zentralen Markt von Bamako sein erstes Stoffgeschäft. Inzwischen hat er zwei weitere Boutiquen eröffnet, der Umsatz sei fantastisch. Vor allem wenn man statt chinesischer Billig-Imitate deutsche und österreichische Traditionsnamen wie Getzner, Fussenegger, HC oder Dierig anbieten könne.

Mode in Afrika: Pracht aus Deutschland und Österreich: ein blaues Festgewand.

Pracht aus Deutschland und Österreich: ein blaues Festgewand.(Foto: Jonathan Fischer)

Die Deutschen und Österreicher brauchen im Gegenzug die Rückmeldung von Großeinkäufern wie Bathily. „Sie richten ihr Farbangebot nach unseren Bestellungen“, sagt der Damast-Kaufmann. Normal koste ein Meter der rund 1,60 Meter breiten Stoffbahn 10 000 Francs. Deutsche Qualität, das bedeute, dass die Stoffe auch nach mehrmaligem Waschen ihren Glanz behielten. Dann faltet er ein mit Pflanzenmotiven bunt bedrucktes Tuch auf. „Das ist der teuerste Damast im Angebot. Der Meter für 15 000 Francs.“ Das entspricht etwa 23 Euro. Angesichts eines Monatsgehalts von etwa 100 Euro für einen staatlich angestellten Lehrer ein Vermögen. „Manche Leute sparen jahrelang, um dann auf einen Schlag eine Million CFA (über 1500 Euro) für eine Kleiderbestellung auszugeben. Besonders mit den Hochzeiten mache ich viele Geschäfte: Das Brautpaar gibt ein Modell und eine Farbe vor. Und erwartet von den Geladenen, sich entsprechende Uniformen schneidern zu lassen.“

Ist hier Kulturimperialismus am Werk? In Mali betrachtet man den Damast als Rohmaterial

Der Damast-Boom wirft allerdings auch unbequeme Fragen auf: Bereichert sich der Westen womöglich ein weiteres Mal am wirtschaftlichen Gefälle zu Afrika? Schaden europäische Stoffe – analog zu den aus der EU exportierten überschüssigen Tomaten oder Gefrier-Hähnchen – dem heimischen Markt? Steckt dahinter gar so etwas wie Kulturimperialismus? Zumindest letztere Frage kann Sale Dembele eindeutig verneinen: „Den Bazin sehen wir als unseren ureigenen malischen Stoff an“, sagt die 50-jährige Betreiberin einer Stofffärberei in Bamakos Stadtteil Badalabougou. „Der weiße Getzner-Damast ist nur das Grundmaterial. Denn die Kunden kommen mit ihren ganz eigenen Vorstellungen, was Farbgebung und Muster betrifft. Am Ende gleicht kein Tuch dem anderen.“

Ein staubiger Platz am Straßenrand, ein halbes Dutzend große Bottiche, ein paar Wäscheleinen: Das ist die ganze Ausstattung von Dembeles Unternehmen. Sie und ihre Schwester beschäftigen ein Dutzend Frauen, die bewehrt mit Gummihandschuhen und Mundschutz große Stoffbündel in die brodelnden, dampfenden Farbbäder eintauchen. Zuvor haben die Färberinnen die Stoffrollen kunstvoll mit Schnüren abgebunden: So entstehen die batikähnlichen Marmorierungen und Muster – wenn gewünscht auch in mehreren kombinierten Farben.

„Durch das Färben und anschließende Bearbeiten gewinnen die Stoffe an Wert“, sagt Dembele, die ihre Färberei in zweiter Generation führt. Sie selbst rührt die Farbtöpfe allerdings nicht mehr an. Die Farbe selbst sei ungiftig, sagt sie, nicht aber das hinzugerührte Fixiermittel. Weil sie sich früher zu wenig gegen die giftigen Dämpfe geschützt habe, sei ihre Gesundheit angeschlagen – Haut- und Lungenbeschwerden, die sie in Paris behandeln lasse. Dembele kann sich das dank ihres florierenden Betriebes leisten. 10 000 CFA pro Meter kostet das Färben. Dafür ist die anschließende Hochglanzbehandlung im Preis inbegriffen. Ein junger Mann auf dem Mofa übergibt Madame Dembele, die in einem Plastiksessel ihre Geschäfte überwacht, ein Dutzend Plastiktüten. Ein paar Straßen weiter haben zuvor ein paar muskulöse Jungs unter einem Strohdach die gefärbten aber stumpf gewordenen Stoffbahnen bearbeitet. Mit fünf Kilogramm schweren Holzschlegeln auf einem Baumstamm behämmert. Glänzend geklopft. In einem Rhythmus, der wie handgemachter Techno durch das Karree donnert. Stundenlang. Nun geht es zur Qualitätskontrolle. Einzeln reißt die Unternehmerin jede Tüte auf. Behutsam streicht sie über die gefalteten Stoffbahnen. Der Damast glänzt speckig, knirscht zwischen den Fingern, fällt seidig leicht. Sie nickt zufrieden. „Jetzt müssen nur noch die Schneider und Sticker ihre Arbeit machen.“

Wenn es nach Soya Bathily geht, wird sich auch der Rest der Wertschöpfungskette nach Mali verlagern. „Mali ist einer der größten Baumwollproduzenten Afrikas“, sagt der Kaufmann. „Bis in die 70er-Jahre hatten wir eine eigene Textilindustrie, produzierten malische Wax-Stoffe.“ Dann legten Ersatzteilmangel, Korruption und Handelsschranken den Betrieb lahm. Der Damast-Boom aber könnte nun neue Voraussetzungen schaffen. Bathily jedenfalls hat einen Plan: „Die Webmaschinen für Damast sind zwar sehr teuer. Aber ich verhandele mit einigen Betrieben in Europa über den Kauf gebrauchter Webstühle.“ Könnte die Einrichtung einer eigenen Weberei vor Ort mit den deutschen und österreichischen Produkten in den Boutiquen Westafrikas konkurrieren? Noch ist es ein Traum. Am Ende aber werden die westafrikanischen Kunden entscheiden: „Jeder Malier“, sagt Bathily, „erkennt auf den ersten Blick die Qualität eines Stoffes. Und wer es sich leisten kann, wird niemals Zweitklassiges kaufen. Dein Bazin ist deine Visitenkarte.“

JONATHAN FISCHER

SZ 11.1.2022

Der HipHop-Mönch

RZA hat als Gründer des Wu-Tang Clan Popgeschichte geschrieben. Inzwischen pflegt er neben harten Rhymes auch fernöstliche Meditation.

Kann unter der harten Fighter-Schale ein weicher Kern stecken? Oder gar so etwas wie Spiritualität? Das sind Fragen, die sich bei einem Gespräch mit Robert Fitzgerald Diggs alias RZA aufdrängen.

Der weltbekannte Rapper, Schauspieler und Kopf der New Yorker Rap-Crew Wu-Tang Clan hatte mit seiner furchteinflössenden Truppe gerade einen Auftritt in Ostdeutschland absolviert und Tausende von Fans zum Mitbrüllen animiert: „Wu-Tang Clan Ain’t Nothin‘ To Fuck With“. Nun aber wirkte RZA – den langen drahtigen Körper auf dem Rücksitz eines VW-Busses ausgestreckt – entspannt wie ein Wanderer nach einem Wellnessbad.

Er zeigte auf den Vollmond am Abendhimmel über Thüringen: „Schau nicht auf meinen Finger, du verpasst das himmlische Schauspiel da draussen“. Eine Art Koan, das auf den qualitativen Unterschied zwischen dem Vermittler einer Botschaft – in diesem Fall dem Rapper RZA – und deren größerem Hintergrund anspielt. Er sagt das im Brustton eines routinierten Anführers. Und nach einer kurzen Pause: „Das habe ich von Bruce Lee“. Vom Kampfsportler? Ja! Neben der Bibel und buddhistischen Schriften sei Bruce Lee sein grösster Lehrmeister.

Über acht Jahre ist das her. RZA hatte damals gerade angefangen, sich auch als Autor philosophischer Hip-Hop-Fibeln zu profilieren: „The Tao of The Wu“ etwa enthielt eine Menge fernöstlicher Weisheiten, garniert mit ein wenig Wu-Tang-Folklore, abgepackt in Rap-kompatibler Sprache. Auch auf das Wu-Tang-Album „A Better Tomorrow“ (2014) liess er ein paar Songs mit untypischen (und von Kollegen mit Unmut quittierten) Weltfriedens- und Hoffnungsbotschaften einfliessen.

Unterdessen hat RZA keine Camouflage mehr nötig. Der stilbildende Musiker postet in den Social Media seit Neuestem regelmässig Achtsamkeits-Aufrufe: „Let’s Meditate“ – lasst uns Meditieren. In den entsprechenden Videos (etwa auf wutangclan.net) rät er seinen Millionen Follower, in sich zu gehen, zumindest für ein paar Minuten: „Wenn wir von der Aktivität zur Ruhe übergehen“, lässt er verlauten, „führt das zu bewussterem Verhalten“. Oder: „Meditation kann dir helfen, deine positiven Eigenschaften zu entdecken“. Oder auch: „Meditation kann die Rezeptoren im Hirn verändern, die für Alkohol – und Drogensucht veranwortlich sind“.

RZA meint das ernst. „Ich bin in einem Alter“, sagte er unlängst in einem Telefongespräch, „in dem man versucht, Wissen weiterzugeben, anderen Menschen zu helfen, die Blockaden ihrer Kreativität zu lösen“. Wie aber kann man sich den Clan-Paten als Meditations-Coach vorstellen? Hat der 52-jährige Wu-Tang-Star einen Weg gefunden, um in Würde zu altern? Ähnlich wie Mitstreiter Ghostface Killah als praktizierender Muslim oder wie Kanye West, der sich mittlerweile als christlicher Prediger in Szene setzt?

RZA hatte schon immer einen Hang zur Esoterik. Das zeigt schon der Künstlername RZA – beim Akronym von „Ruler Zig Zag Allah“ handelt sich um ein Zahlen- und Buchstaben-Mysterium der islamisch geprägten Five-Percenter-Sekte. Später nannte er sich in Anspielung auf die buddhistischen Shaolin-Mönche auch „The Abbott“ und liess sich dazu in entsprechendem Kapuzengewand ablichten.

Rückblickend darf man vermuten, dass es sich bei der ganzen Wu-Tang-Geschichte um das geniale Selbstfindungs-Unterfangen eines 21-jährigen, musikverrückten Kleindealers aus den Projects von Staten Island handelte. Nach einer Anklage wegen versuchten Mordes – RZA wurde freigesprochen – mag er sich geschworen haben, sein Leben wie einen Kung-Fu-Film zu gestalten. Einen Film, der Bruce Lee die Ehre erweisen sollte.

1993 debütierte der Wu-Tang Clan mit „Enter The Wu-Tang: 36 Chambers“. Die billige Produktion klang düster, die Texte wirkten surreal, die Songs kamen bisweilen ganz ohne Melodie oder Chorus aus. „Ich wollte keine Tanzmusik machen, sondern andere zu einem Gefängnisausbruch inspirieren“, sagt RZA. Das Debütalbum schlug ein, es machte den Wu-Tang-Clan zur erfolgreichsten Hip-Hop-Band. Als Bandleader schrieb RZA einerseits den Rapper-Kollegen je eine spezielle Rolle auf den Leib, andrerseits sorgte er für Lyrics mit üppigen Slang- und Kung-Fu-Einschüben sowie für dunkle, soulige Soundscapes.

Wenn sich Hip-Hop bisher zwischen Dance-Tracks und Gangster-Hedonismus bewegte, dann brachte der Wu-Tang-Clan nun jede Menge Rätsel ins Spiel. Die Geschichten von brennenden Mülltonnen, gescheiterten Überfällen, Armut und den Projects funktionierten auf mehr als nur einer Ebene. Sie verwandelten Staten Island in den Klosterbezirk Shaolin, sie überhöhten alles Profane mit Zahlenmystik, stets machten sie einen höheren Sinn geltend im weltlichen Chaos. Wann hatte Hip-Hop schon einmal so viel Mythisches transportiert?

Seitdem hat sich RZA konstant bewegt: Als Rapper aus dem Ghetto fand er einen Weg in ein Hip-Hop-Schamanentum, das sich bei Indianer-, Buddhisten- und Aborigines-Weisheiten bediente. RZA gründete überdies die Hip-Hop-Chess Federation, eine Initiative, die Schulkindern eine Kombination aus Schach, Kampfsport und Hip-Hop anbietet – „um Geist und Körper zu formen“. Er spricht nun an Schulen über die „kreative Umwandlung von Aggressionen“. Als Veganer propagiert er, „Tierleben nicht mehr für den schnellen Profit zu opfern“.

Über allem aber steht RZA‘s Engagement für einen Crossover-Buddhismus, in dem Hip-Hop ebenso Platz hat wie Kung Fu. Bereits 2012 hat RZA mit seinem Lehrmeister und Freund Jim Jarmusch einen Hollywood-Kung-Fu-Film gedreht. „Man With The Iron Fists“. Der Hip-Hop-Produzent lieferte dabei die Musik, gab selbst den Hauptdarsteller – einen Schmied, der die Armen und Unterdrückten verteidigt – und legte sich Sätze in den Mund, die an Bruce Lee erinnerten: „Ertrinke im Teich und werde wie Wasser“.

RZA liebt solche Sentenzen. Ihn hätte die philosophische Botschaft von Bruce Lee stets mehr berührt als die Kampfszenen. Das gilt auch für die Sequenz aus ‚36 Chambers‘, die den Jungen aus dem Ghetto einst zur Gründung des Wu-Tang Clan inspiriert habe: „Da trifft ein junger Mönch auf seine Meister: Er will kämpfen, für sie aber zählt allein die geistige Haltung.“

RZA hat aber auch jahrzehntelang Kung Fu trainiert. Wie hat ihn das verändert? Der zertifizierte Kung-Fu-Meister lächelt, lässt kurz die Goldzähne aufblitzen: „Ich habe gelernt, meine Gedanken zu zähmen.“ Wie das funktioniert, zeigt sein vor einem Jahr inmitten der ersten Corona-Panik veröffentlichtes Album „Guided Explorations“. Tazo, eine grosse Tee-Firma, übernahm die Promotion und organisierte ein zweitägiges „Tazo Camp“ auf Staten Island, wo ausgewählte Teilnehmer unter RZAs Anleitung meditieren, Schach spielen, philosophieren und zeremonielles Teetrinken lernten.

Unterdessen richten sich RZAs Predigten auch gegen viele Hip-Hop-typische Egomanien. So erklärt er auf „Guided Explorations“ Techniken, die helfen sollen, mit vergiftenden Gedanken und Gefühlen umzugehen: „Der Druck der Konkurrenz kann dich stagnieren lassen.“ Oder: „Versuche nicht dem Chaos zu entfliehen, sondern finde die Ordnung darin“. Man mag das so oder ähnlich schon in mancher Selbsthilfefibel gelesen haben. Aber im Bariton des Wu-Tang-Abbott klingt das dann doch irgendwie überzeugender und smarter. Eines macht RZA allen Fans klar: Spiritualität ist nicht nur für Sitzkissen-Softies.

JONATHAN FISCHER

NZZ 5.1.2022