Fast jede Woche entlädt sich das Misstrauen zwischen Schwarz und Weiß in Amerika in neuer Gewalt. Jamal Joseph kennt das Misstrauen, auch die Gewalt. Anfang der Siebzigerjahre war er einer der jüngsten Führer der Black Panther Party, wurde wegen Beihilfe zu einem Raubüberfall zu zwölf Jahren Haft verurteilt, machte im Gefängnis zwei Hochschulabschlüsse und schrieb dann Theaterstücke. 1999 gründete er das Impact Repertory Theatre für junge Schwarze, schrieb und drehte Kino- und Fernsehfilme, produzierte Hip-Hop-Platten. Er ist heute Dekan an der Filmabteilung der Columbia Universität in New York. Ein Gespräch über die Gewinner und Verlierer des Hasses.
SZ: Dass in Dallas und Baton Rouge afroamerikanische Heckenschützen neun Polizisten erschossen . . .
Jamal Joseph: . . . hat mich überhaupt nicht überrascht. Bei so vielen Waffen im Umlauf und einer Polizei, die sich in vielen schwarzen Vierteln aufführt wie eine Besatzungsarmee, ist es eher erstaunlich, dass es nicht viel eher dazu kam.
Auch die Black Panther trugen Waffen.
Wir haben uns damals zur Selbstverteidigung bewaffnet und haben niemals als erste das Feuer eröffnet. Wir hatten begriffen, dass ein offener Krieg mit der Polizei noch mehr Unterdrückung nach sich ziehen würde. Heute würden die Panther statt mit Gewehren und Gesetzbüchern eher mit Videokameras und Handys die Straßen patrouillieren.
Das scheint nicht zu reichen. Seit Ferguson ist Polizeigewalt ein öffentliches Thema, zuletzt wurden Videos von tödlichen Schüssen auf Schwarze millionenfach geteilt.
Die Medienaufmerksamkeit hat immerhin eine Diskussion entfacht: Über die Aufgabe und die Ausbildung der Polizei. Heute schützt die Polizei Eigentum, aber keine Menschen. Wenn jemand aus einem armen Viertel die Cops wegen eines Einbruchs ruft, lassen sie ihn eine halbe Stunde warten. Ruft jemand aus einem wohlhabenden Viertel oder ein Geschäftsmann an, sind sie schon da, bevor du den Hörer aufgelegt hast. Sie beschützen die Reichen.
Hilft es denn, gewalttätige Polizisten zu entlassen?
Nein, das ganze System ist krank. Vor drei Jahren wurde ein Lastwagen mit schwarzen Männern in New Jersey von Polizisten angehalten und drei von ihnen wurden angeschossen. Hinterher sagten die Cops, sie glaubten, es seien Drogendealer gewesen. Tatsächlich war es ein Basketball-Team auf dem Weg in ein Trainingslager, die angeblichen Drogen stellten sich als Vitamintabletten heraus. Ich machte einen Film daraus: Um zu zeigen, dass das Problem nicht zwei schießwütige Cops sind, sondern deren ausdrückliche Dienstanweisung, Afroamerikaner anzuhalten und auf Drogen zu kontrollieren.
Wie kann Präsident Barack Obama dieses System abschaffen?
Obama sagt, dass Weiße und Schwarze zusammenarbeiten müssen, um die Gewalt zu stoppen. Aber wir verfügen nicht über die gleiche Macht. Eine Gruppe wird vom Staat als Bürger ermächtigt, einer anderen werden die fundamentalen Bürgerrechte abgesprochen.
Daran hat sich nichts geändert?
Wir haben in Amerika seit jeher ein Klassenproblem. Die Angst vor dem schwarzen Mann stammt noch aus der Sklaverei, als Schwarze als eine Art gefährliche Tiere galten. Diese Einstellung wurde von Generation zu Generation weitergegeben, und Amerika fand immer neue Wege, aus dem Leiden schwarzer Menschen ein Geschäft zu machen. Nach der Sklaverei dienten Schwarze als billige Arbeitskräfte. Die moderne Plantage ist die private Gefängnisindustrie – und sie ist hochprofitabel.
Was hat das mit der Polizei zu tun?
Die Polizei dient als Zulieferer dieses Systems. Sie haben Verhaftungsquoten zu erfüllen – und da bedient man sich am leichtesten in der schwarzen Gemeinschaft.
Sind die schwarzen Viertel krimineller?
Nein, wenn die Polizisten genauso viele weiße Teenagerdurchsuchen würden wie schwarze, kämen sie auf dieselbe Zahl an Drogendelikten. Schwarze junge Menschen haben seltener das Geld für gute Anwälte. Für dasselbe Vergehen bekommen sie deshalb höhere Strafen.
Das klingt doch jetzt aber sehr nach einer Verschwörungstheorie.
Wenn mir jemand vor dreißig Jahren gesagt hätte, dass die Gefängnispopulation in Amerika von 500 000 auf das fünffache, also auf die zweieinhalb Millionen Insassen von heute anwachsen würde, hätte ich ihm das niemals geglaubt. Und das ist ja nicht das einzige! Nehmen Sie die steigende Zahl an schwarzen Arbeitslosen und Obdachlosen. Oder die Tatsache, dass heute nicht mehr weiße Schwule, sondern junge schwarze Frauen zwischen 18 und 25 am schwersten von Aids betroffen sind.
Verstanden, die Situation muss sich ändern. Aber wie? Welche Rolle könnten beispielsweise die Politiker spielen?
Immerhin kommen inzwischen Begriffe wie Masseninhaftierung, Polizeibrutalität oder „Black Lives Matter“ nicht nur Obama, sondern sogar republikanischen Politikern über die Lippen. Sie erkennen also zumindest, dass es ein Problem gibt. Um die Lage grundsätzlich zu verbessern, müsste allerdings auch die Wirtschaft mithelfen. Deshalb befürworte ich einen Bürgerboykott aller Unternehmen, die mit Polizei-Organisationen und der Gefängnisindustrie zusammenarbeiten. Googlen sie mal die entsprechende Liste von Firmen:Sie werden sehen, wer da von Telekommunikationsfirmen über die Textil- und Nahrungsmittelindustrie mitmischt.
Ist eine Protest-Bewegung wie „Black Lives Matter“ der richtige Weg, um in einer so komplizierten Situation zur Besserung beizutragen?
Es geht ja bei „Black Lives Matter“ vor allem darum, den vielen schwarzen Menschen, die das Gefühl haben, dass ihr Leben nicht zählt, wieder den Glauben an den eigenen Wert zu schenken. Andererseits könnten die jungen Aktivisten eine Menge von den Black Panthers lernen. Wir begnügten uns nicht mit Protesten, sondern organisierten ein kostenloses Frühstücksprogramm für arme schwarze Schulkinder, politische Abendschulen und Gesundheitsuntersuchungen für Afroamerikaner, die sich keinen Arzt leisten können. Wir brauchen solche Programme wieder: Damit das soziale Engagement nicht mit dem Teilen eines Videos auf facebook endet, sondern die Menschen ihren Wert darüber finden, leibhaftig füreinander einzustehen.
Wie bereiten Sie die jungen schwarzen Menschen, mit denen Sie im Impact Reporty Theatre in Harlem zusammenarbeiten, auf mögliche polizeiliche Übergriffe vor?
Wir predigen ihnen einerseits, dass sie alles erreichen können, wenn sie hart arbeiten und an etwas glauben, dass größer ist als sie selbst – aber dann verschonen wir sie auch nicht vor der anderen Seite der Realität: Dass sie als schwarze junge Menschen ein großes Fadenkreuz auf ihrem Rücken tragen, und deshalb der Polizei unbedingt Folge leisten müssen. Das stimmt mich oft ziemlich traurig. Besonders wenn ich an zwei junge Polizeianwärter denke, die Teil meiner Theatertruppe sind: Sie erzählen mir, welche Angst sie bei jeder Routine-mäßigen Verkehrs-Kontrolle vor ihren weißen Kollegen haben – weil sie nur zu gut wissen, was ein Cop denkt, wenn er einen Schwarzen anhält.
Sie thematisieren mit ihren HipHop-Produktionen wie „Politics“ auch Polizeigewalt und Gefängnissystem. Haben aber nicht gerade Rapper wie ihr Patensohn Tupac mit brutalen Gangster-Lyrics zu der Gewaltspirale beigetragen?
Ich sehe Rapper wie Tupac einfach als Zeitzeugen der Geschichte und der Brutalität auf den Straßen von Amerikas Ghettos. Manche Rapper spielen auch mit den Zuschreibungen ihrer Umwelt. Ist Ihnen schon aufgefallen, dass der Polizistenmörder von Dallas sofort als Terrorist bezeichnet wurde, während weiße Amokläufer, die etwa 30 Kinder einer Schulklasse umbringen, als psychisch verwirrte Einzelgänger durchgehen?
Manche schwarze Jugendliche äußern in sozialen Medien Sympathien für die Polizistenmörder von Dallas und Baton Rouge. Können Sie das nachvollziehen?
Ja, viele in der schwarzen Community glauben, dass solche Gewalttaten die natürliche Folge der ständigen Polizeibrutalität darstellen. Selbst meine weißen Freunde – und davon war ich überrascht – erklärten, dass so etwas passieren muss, wenn man Menschen unterdrückt, marginalisiert und ihnen nicht zuhört.
Haben Sie selbst Angst vor der Polizei?
Ja, das habe ich. Schaue ich mit meinem Anzug aus wie ein Professor von der Columbia University, dann fühle ich mich sicherer, als wenn ich in T-Shirt und Sneakers unterwegs bin. Mein letzter Zusammenstoß mit der Polizei liegt nur vier Monate zurück. Meine Frau und ich hielten an, als wir sahen, dass ein junger Afroamerikaner, der vermeintlich ein Fahrrad geklaut hatte, von Polizisten auf den Boden geworfen und getreten wurde. Ich filmte die Szene. Daraufhin schubste ein Polizist mich und meine Frau herum. Wenn ich nicht cool geblieben wäre, wäre die Situation wohl eskaliert. Leider gehört das martialische Auftreten der Polizei längst zu unserem Alltag.
INTERVIEW: JONATHAN FISCHER
in gekürzter Fassung veröffentlicht in der
SZ 22.7.2016