Seit geschlagenen vierzehn Jahren lebt die HipHop-Welt mit der Ankündigung eines neuen Dr. Dre-Albums. Und nur ein Statement grandiosen Ausmaßes konnte die Wartezeit rechtfertigen. Ein neuer Meilenstein der HipHop-Geschichte musste es sein. Mindestens. Alles andere würde „Compton“ im Vergleich mit Dr. Dres zwei bisherigen Solo-Alben blass aussehen lassen. Immerhin hat kein HipHop-Künstler mit so wenig eigenen Veröffentlichungen so viel Wegstrecke zurückgelegt. Hat niemand das Spiel so vom Kopf auf die Füße gestellt wie der inzwischen 50-jährige Andre Young aus Compton. Als Dr. Dre 1992 sein Debut „The Chronic“ veröffentlichte, überfuhr es wie eine Dampframme all die komplexen, lyrisch und artistisch ausgefuchsten Rapper, die dem intellektuellen Mainstream ans Herz gewachsen waren. „Dieses Album war so gerade und einfach gestrickt und anti-HipHop“, erinnert sich der HipHop-Produzent und The Roots-Drummer Ahmir „Questlove“ Thompson in seiner Biographie „Mo Meta Blues“: „Ich war mir nicht sicher, ob irgendjemand die Erlaubnis hatte, das zu tun“. Dr. Dre aber brauchte keine Erlaubnis. Er hatte ein Gespür für Stimmungen. Für genial primitive Grooves. Und er strahlte unzähmbares Selbstbewusstsein aus. Das reichte, um HipHop zu revolutionieren.
Produced by Dr. Dre, das bedeutete drei Jahrzehnte lang: Breitreifige Basslinien; sexy federnde Brutalität. Dabei glänzte Dr. Dre selbst nie als Rapper oder Song-Komponist. Er war derjenige, der das Genie der anderen inszenierte. Der Ideen sortierte, bündelte und zu einem überzeugenden Klangbild komponierte. Angefangen hatte er als Produzent von NWA. Mit Suge Knight gründete er Death Row Records. Danach machte er Snoop Dogg zum Superstar. Schnitt Eminems Provokationen den passenden Mörder-Wumms zu. Unterfütterte mit seinen Beats den Aufstieg von 50 Cent und The Game, und prägte die kommerziell erfolgreichste Phase von HipHop. In diese Pop-Mitte strebt Andre Young aka Dr. Dre jetzt zurück. Nachdem er das letzte Jahrzehnt offensichtlich mehr Zeit mit Gewichte heben und dem Management seines Labels Aftermath verbrachte als im Studio, einige vorab veröffentlichte Tracks des ewig angekündigten Albums „Detox“ bestenfalls als altbackenes Selbstzitat durchgingen, trauten viele dem Mann keinen großen Wurf mehr zu: Schließlich brauchte er das Geld nicht, war er längst – dank der von ihm mit seinem Namen gesegneten Kopfhörer-Marke „Beats by Dre“ – zum reichsten Musiker der Forbes-Rangliste aufgestiegen. Bis die Vergangenheit den Doktor noch einmal einholte: Die Arbeit am Film „Straight Outta Compton“, ein Porträt der kurzlebigen und kontroversen Karriere von NWA, ließ ihn spontan ein völlig neues Set von Songs aufnehmen. Über Mythos und Tragik von Compton. Es würde sein Vermächtnis sein, verkündete Young.
Das war nicht zuviel versprochen: Dr. Dres Kalifornien hat sich verändert – und mit ihm die Musik. Statt dem sonnigen G-Funk seiner 90er Jahre-Hits, dominieren auf „Compton“ eher kantige, düstere Grooves. Im offenen Jeep unter Palmen am Joint ziehen: so mag das Ideal von gestern ausgesehen haben. Heute hat der Post-Ferguson-Blues auch die Westküste erreicht. Dr. Dre besohlt ihn gewohnt fett. Und gibt ein paar große Melodien obendrein. Wer hatte schon von einem 50-jährigen Gangsta-Rap-Veteranen so viel Emotion erwartet? So viel Bereitschaft, noch einmal mit Neuem zu experimentieren? Zum Beispiel „Deep Water“: Da entwickeln die zerhackten, Stop-And-Go Rhythmen eine bedrohliche Dynamik, lassen jazzige Akkorde den Track langsam zerfallen, und akzentuieren die Panik in Kendrick Lamars Stimme. Seine Raps stellen den Tod durch Ertrinken nach, bis hin zu dem Ausruf „I can’t breathe“ – eine Anspielung auf die letzten Worte des von einem New Yorker Polizisten zu Tode gewürgten Afroamerikaners Eric Garner. The Game nimmt ein ähnliches Thema auf: Über dem brachialen Bläser-Funk von „Just Another Day“ lässt er Polizei-Morde wie auch die tagtäglichen Erniedrigungen schwarzer US-Bürger Revue passieren. Ein Album über „Compton“ heute: Das funktioniert nicht ohnen einen Querverweis auf die „Black Lives Matter“-Bewegung. Auch wenn der große Bogen von Dr. Dres HipHop-Erzählung natürlich von ihm selbst handelt, seinem Aufstieg von einem „mit Sozialhilfe aufgewachsenen Produkt des Systems“ zum Exekutiv-Direktor und Groß-Unternehmer.
Während eine Armada von Gast-Rappern und Ghostwritern die Biographie Andre Youngs mit ihren Reimen ausfüllen, beschränkt sich der Held der Erzählung auf die Rolle des Side-Kicks. Des Mit-Rappers. So wie er immer den Platz hinter der Bühne bevorzugte: Lieber überlässt Dr. Dre ehemaligen Schützlingen wie Snoop Dogg, Eminem, Ice Cube, The Game und X-Zibit das Rampenlicht. Schiebt er verheißungsvolle Newcomer wie Anderson Paak oder Jon Connor nach vorne. Delegiert er den Seelenausdruck an die Soulstimmen von Jill Scott und Candice Pillay. Dass Eminem – mal wieder – mit einer gerapten Vergewaltigungs-Fantasie einen Mini-Skandal verursacht. Nun ja, die Gangsta-Rap-Tradition verpflichtet. Ansonsten sprechen Dr. Dres Songs eine seriöse, ja manchmal fast nachdenkliche Sprache: „Though I gave everything to the game/ they still complain“, mokiert er sich auf „All In A Day’s Work“ über den Größenwahnsinn des eigenen Genres. Und erzählt in „Talking To My Diary“ wie HipHop ihm eine von wenigen legalen Auswegen aus der Ghetto-Armut bescherte – und, last not least, seiner Mutter ein schönes Haus. Dr. Dre darf nun beruhigt wieder ins Fitness-Studio. Eine junge Garde um Kendrick Lamar, Anderson Paak und A$AP Rocky treibt mit ihren letzten Alben den Post-Gangsta-Rap in ganz neue ästhetische und lyrische Gefilde. Der beste Zeitpunkt also, einen Schlusspunkt unter die alte „Compton“-Saga zu setzen.
JONATHAN FISCHER