Monatsarchiv: August 2015

Letzte Fahrt auf breiten Reifen – Der legendäre Hip-Hop-Produzent Dr. Dre wurde als Mitglied der Rap-Formation NWA bekannt. Später verhalf er Musikern wie Eminem zum Durchbruch. Nun legt er «Compton» vor, ein Vermächtnis.

Seit geschlagenen vierzehn Jahren lebt die HipHop-Welt mit der Ankündigung eines neuen Dr. Dre-Albums. Und nur ein Statement grandiosen Ausmaßes konnte die Wartezeit rechtfertigen. Ein neuer Meilenstein der HipHop-Geschichte musste es sein. Mindestens. Alles andere würde „Compton“ im Vergleich mit Dr. Dres zwei bisherigen Solo-Alben blass aussehen lassen. Immerhin hat kein HipHop-Künstler mit so wenig eigenen Veröffentlichungen so viel Wegstrecke zurückgelegt. Hat niemand das Spiel so vom Kopf auf die Füße gestellt wie der inzwischen 50-jährige Andre Young aus Compton. Als Dr. Dre 1992 sein Debut „The Chronic“ veröffentlichte, überfuhr es wie eine Dampframme all die komplexen, lyrisch und artistisch ausgefuchsten Rapper, die dem intellektuellen Mainstream ans Herz gewachsen waren. „Dieses Album war so gerade und einfach gestrickt und anti-HipHop“, erinnert sich der HipHop-Produzent und The Roots-Drummer Ahmir „Questlove“ Thompson in seiner Biographie „Mo Meta Blues“: „Ich war mir nicht sicher, ob irgendjemand die Erlaubnis hatte, das zu tun“. Dr. Dre aber brauchte keine Erlaubnis. Er hatte ein Gespür für Stimmungen. Für genial primitive Grooves. Und er strahlte unzähmbares Selbstbewusstsein aus. Das reichte, um HipHop zu revolutionieren.

Produced by Dr. Dre, das bedeutete drei Jahrzehnte lang: Breitreifige Basslinien; sexy federnde Brutalität. Dabei glänzte Dr. Dre selbst nie als Rapper oder Song-Komponist. Er war derjenige, der das Genie der anderen inszenierte. Der Ideen sortierte, bündelte und zu einem überzeugenden Klangbild komponierte. Angefangen hatte er als Produzent von NWA. Mit Suge Knight gründete er Death Row Records. Danach machte er Snoop Dogg zum Superstar. Schnitt Eminems Provokationen den passenden Mörder-Wumms zu. Unterfütterte mit seinen Beats den Aufstieg von 50 Cent und The Game, und prägte die kommerziell erfolgreichste Phase von HipHop. In diese Pop-Mitte strebt Andre Young aka Dr. Dre jetzt zurück. Nachdem er das letzte Jahrzehnt offensichtlich mehr Zeit mit Gewichte heben und dem Management seines Labels Aftermath verbrachte als im Studio, einige vorab veröffentlichte Tracks des ewig angekündigten Albums „Detox“ bestenfalls als altbackenes Selbstzitat durchgingen, trauten viele dem Mann keinen großen Wurf mehr zu: Schließlich brauchte er das Geld nicht, war er längst – dank der von ihm mit seinem Namen gesegneten Kopfhörer-Marke „Beats by Dre“ – zum reichsten Musiker der Forbes-Rangliste aufgestiegen. Bis die Vergangenheit den Doktor noch einmal einholte: Die Arbeit am Film „Straight Outta Compton“, ein Porträt der kurzlebigen und kontroversen Karriere von NWA, ließ ihn spontan ein völlig neues Set von Songs aufnehmen. Über Mythos und Tragik von Compton. Es würde sein Vermächtnis sein, verkündete Young.

Das war nicht zuviel versprochen: Dr. Dres Kalifornien hat sich verändert – und mit ihm die Musik. Statt dem sonnigen G-Funk seiner 90er Jahre-Hits, dominieren auf „Compton“ eher kantige, düstere Grooves. Im offenen Jeep unter Palmen am Joint ziehen: so mag das Ideal von gestern ausgesehen haben. Heute hat der Post-Ferguson-Blues auch die Westküste erreicht. Dr. Dre besohlt ihn gewohnt fett. Und gibt ein paar große Melodien obendrein. Wer hatte schon von einem 50-jährigen Gangsta-Rap-Veteranen so viel Emotion erwartet? So viel Bereitschaft, noch einmal mit Neuem zu experimentieren? Zum Beispiel „Deep Water“: Da entwickeln die zerhackten, Stop-And-Go Rhythmen eine bedrohliche Dynamik, lassen jazzige Akkorde den Track langsam zerfallen, und akzentuieren die Panik in Kendrick Lamars Stimme. Seine Raps stellen den Tod durch Ertrinken nach, bis hin zu dem Ausruf „I can’t breathe“ – eine Anspielung auf die letzten Worte des von einem New Yorker Polizisten zu Tode gewürgten Afroamerikaners Eric Garner. The Game nimmt ein ähnliches Thema auf: Über dem brachialen Bläser-Funk von „Just Another Day“ lässt er Polizei-Morde wie auch die tagtäglichen Erniedrigungen schwarzer US-Bürger Revue passieren. Ein Album über „Compton“ heute: Das funktioniert nicht ohnen einen Querverweis auf die „Black Lives Matter“-Bewegung. Auch wenn der große Bogen von Dr. Dres HipHop-Erzählung natürlich von ihm selbst handelt, seinem Aufstieg von einem „mit Sozialhilfe aufgewachsenen Produkt des Systems“ zum Exekutiv-Direktor und Groß-Unternehmer.

Während eine Armada von Gast-Rappern und Ghostwritern die Biographie Andre Youngs mit ihren Reimen ausfüllen, beschränkt sich der Held der Erzählung auf die Rolle des Side-Kicks. Des Mit-Rappers. So wie er immer den Platz hinter der Bühne bevorzugte: Lieber überlässt Dr. Dre ehemaligen Schützlingen wie Snoop Dogg, Eminem, Ice Cube, The Game und X-Zibit das Rampenlicht. Schiebt er verheißungsvolle Newcomer wie Anderson Paak oder Jon Connor nach vorne. Delegiert er den Seelenausdruck an die Soulstimmen von Jill Scott und Candice Pillay. Dass Eminem – mal wieder – mit einer gerapten Vergewaltigungs-Fantasie einen Mini-Skandal verursacht. Nun ja, die Gangsta-Rap-Tradition verpflichtet. Ansonsten sprechen Dr. Dres Songs eine seriöse, ja manchmal fast nachdenkliche Sprache: „Though I gave everything to the game/ they still complain“, mokiert er sich auf „All In A Day’s Work“ über den Größenwahnsinn des eigenen Genres. Und erzählt in „Talking To My Diary“ wie HipHop ihm eine von wenigen legalen Auswegen aus der Ghetto-Armut bescherte – und, last not least, seiner Mutter ein schönes Haus. Dr. Dre darf nun beruhigt wieder ins Fitness-Studio. Eine junge Garde um Kendrick Lamar, Anderson Paak und A$AP Rocky treibt mit ihren letzten Alben den Post-Gangsta-Rap in ganz neue ästhetische und lyrische Gefilde. Der beste Zeitpunkt also, einen Schlusspunkt unter die alte „Compton“-Saga zu setzen.

JONATHAN FISCHER

NZZ 14.8.2015th

„Verzerrung bedeutet Harmonie“ – Der Produzent Doctor L über den Einfluss griechischer Volkslieder auf kongolesischen Pop und seine Arbeit mit der Band „Mbongwana Star“

hh03Liam Farrell alias Doctor L gehört zu den unkonventionellsten Electro-Produzenten. Gerade hat der 47-jährige Ire, der hauptsächlich in Paris lebt, das gefeierte Debütalbum der kongolesischen Band Mbongwana Star produziert. Auf „From Kinshasa“ (World Circuit) verbinden sich kongolesische Rumba und schroffe Postpunk-Ästhetik, weitab gängiger Weltmusik-Klischees. Farrell ist auch Gitarrist der siebenköpfigen Gruppe. Seine Karriere begann er als Schlagzeuger bei Les Rita Mitsouko. Anfang der Neunziger nahm er als Solokünstler erfolgreiche Trip-Hop-Alben auf und produzierte 1999 das Album „Black Voices“ des nigerianischen Schlagzeugers Tony Allen – ein Meilenstein in der Fusion von Elektronik und Afrobeat.

SZ: Als Ire stehen Sie in einer Tradition: Irische Einwanderer hatten bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung von Country, Blues und Reggae. Afroamerikaner, die irische Jigs tanzten, wurden „Jigaboos“ genannt. Woher kommt diese Affinität zur schwarzen Kultur?

Liam Farrell: Die Iren standen den Schwarzen stets nahe. Das hat mit einem geteilten Außenseiter-Wissen zu tun. Wir Iren lebten doch selbst 600 Jahre lang unter einem britischen Quasikolonialregime. Dasselbe gilt übrigens für die Juden. Michel Winter, der Manager vonMbongwana Star und den meisten kongolesischen Straßenorchestern, ist da nur einer von vielen.

Sie haben in den letzten Jahren mit Dutzenden Projekten in Mali, Senegal und der Elfenbeinküste gearbeitet. Was hat Sie nun nach Kinshasa geführt?

Die Energie. Kinshasa könnte vom kulturellen Potenzial her ein Ort wie London, Paris oder New York sein. Man findet hier unglaublich punkmäßige Schrottkunst. Und eine Untergrundszene von Künstlern, Filmemachern und Musikern, die sich alle gegenseitig beflügeln. Es fehlt nur das Geld.

Der kongolesische Schriftsteller Muepu Muamba schrieb einmal, seine Landsleute würden sich eher über ihre Träume als über ihre Besitztümer definieren.

Er hat recht. Hier gab es schon in den Siebzigern ein Raumfahrtprogramm. Leider waren die Kongolesen zu lange vom weltweiten Informationsfluss abgeschottet. Das erklärt, warum sich der Pop-Mainstream in dem Land seit den Achtzigern kaum weiterentwickelt hat. Erst jetzt mit dem Internet landet alles in Kinshasa, entstehen hier selbst Metal- und Punk-Bands.

„From Kinshasa“ von Mbongwana Star transzendiert alles, was das westliche Publikum bisher musikalisch mit dem Kongo verband.

Das liegt auch an der Offenheit der Bandmitglieder. Den Kern der Band stellen zwei Straßenmusiker, die schon als Staff Benda Bilili Erfolge im Westen feierten, bevor die Band am eigenen Erfolg zerbrach. Als Obdachlose und von Kinderlähmung Betroffene sind sie Außenseiter. Und doch haben sie sich mit Fantasie ein neues Leben erspielt. Sie kleben an keinem Stil, probieren gerne Neues aus, laden Freunde von der Kunstakademie zu Proben ein, um irgendwelche verrückten Sachen beizusteuern.

. . . wie zum Beispiel den Astronauten, der durch das Albumcover und das Video zum Song „Malukayi“ schreitet.

Er ist ein bekannter Straßenkünstler, der sich „Congo Astronaut“ nennt. Dazu erfinden Straßenkinder in Kinshasa neue Tänze zu unserer Musik. Da geht es nicht mehr um den Kongo. Wir sind ganz einfach Künstler und erschaffen Kunst.

Während die meisten afrikanischen Pop-Videos wie eine einzige Aneinanderreihung von sonnigen Partyklischees wirken, haben Sie Ihrer Band ein sehr viel düstereres Image verpasst. Apokalyptische Kulissen, dunkle Hallräume. Nehmen Sie da bewusst eine Stimmung aus dem New York der Achtzigerjahre auf?

Damals ging ich nach New York, um an diesem harten, verzweifelten und lebensgierigen Ort zu wachsen. 30 Jahre später finde ich dieselbe Stimmung in Kinshasa wieder: einen aufregenden Schmelztiegel der Traditionen und Stile. Und dazu dieser Soul! Ich muss da immer an die religiöse Verzückung der frühen House- und Garage-Partys mit dem New Yorker DJ Larry Levan denken. Ich sehe da eine Verbindung. Und als Produzent forciere ich dieselbe rohe Beseeltheit auch bei Mbongwana Star.

Auf welche Weise erreichen Sie das?

In Kinshasas Straßen plärren alle Geräte auf Anschlag: Radios, Fernseher, Handys. Man hört diese Übersteuerung auch in der Musik. Wer dieses Verzerrungselement zugunsten einer sauberen Studioaufnahme eliminiert, zerstört das Ambiente. Ich versuche als Produzent, diese Musik so einzufangen, wie sie gehört werden sollte: mit einem kaputten Soundsystem. Manchmal nehme ich auf der Straße nur Hintergrundrauschen auf. Und addiere das zur Musik. Weil Verzerrung Harmonie bedeutet.

Können Ihre kongolesischen Mitmusiker Ihre Ideen immer nachvollziehen?

Sie haben noch nie von Garage-Partys in New York gehört. Aber sie brauchen nur eine halbe Sekunde zum Verstehen. Afrikanische Kultur war immer schnell im Adaptieren: Wie etwa die Gitarrenmusik aus dem Kongo von den Griechen kommt . . .

Der ganz Afrika dominierende Soukous-Pop hat griechische Wurzeln?

Ganz im Ernst. Die ersten Musikproduzenten im Kongo waren Griechen. Sie brachten Platten mit Bouzouki-Musik in Umlauf – und die Skalen der kongolesischen Gitarristen basieren auf transponierten Bouzouki-Akkorden. Dann haben sie es mit importierten kubanischen Rhythmen verbunden. In Mali wiederum habe ich asiatische Musikelemente gefunden.

Die afrikanische Musik, die im Westen als „authentisch“ vermarktet wird, ist also alles andere als authentisch?

In den Achtzigerjahren haben englische und französische Produzenten diese „Weltmusik“ erfunden. Es war ein Käfig für afrikanische Musiker: „Bleibt bei euren ethnischen Musiken“, sagten sie. „Uns interessiert es nicht, wenn ihr Jazz, Funk oder psychedelischen Rock spielt.“ Ich habe eine Sammlung Tausender afrikanischer Platten aus den Sechzigern und Siebzigern, die genau diese Einflüsse auf Augenhöhe mit westlichen Bands wie Led Zeppelin oder Sly & the Family Stone verarbeiteten. Aber wir haben diesen Platten in Europa keine Beachtung geschenkt. Und nun spielen die afrikanischen Musiker, um dem „Weltmusik“-Markt gerecht zu werden, Stereotype ihrer selbst.

Nutzen Sie wie der Trickster der Yoruba-Mythologie die Provokation, um blockierte Energien wieder freizusetzen?

Mein Trickster-Ding ist die Ignoranz. Sie hilft mir eine Menge. Wer zu viel über eine Kultur weiß, hat zu großen Respekt vor ihr. Ich kenne Produzenten, die in den Kongo kamen und behaupteten, sie könnten bestimmte Musikstile aufgrund der schwerwiegenden Tradition nicht anrühren. Bullshit! Ich pfeife auf heilige Traditionen und mische Sounds von anderen Orten und Zeiten in den lokalen Groove. Das habe ich schon 1999 bei Tony Allens „Black Voices“-LP so gemacht. Erst hat er jede Note gehasst. Aber dann wuchs das Album zum Meilenstein seiner Karriere.

Damon Albarn von „Blur“ engagiert sich mit seinem Projekt „Africa Express“ in Mali. Nach seinem ersten Besuch dort behauptete er, wir „könnten alles von den Afrikanern lernen, und sie nichts von uns“. Teilen Sie diese Ansicht?

Nein, das halte ich für faschistoid. Ich muss mich nicht rechtfertigen, dass ich als Weißer neue Ideen nach Afrika bringe. Meine Mission ist, Brücken zu bauen. Raus aus dem Weltmusik-Ghetto. Hin zu vollkommener Ausdrucksfreiheit. Mit Mbongwana Star etwa würde ich viel lieber als auf Afrika-Festivals in Heavy-Metal-Clubs und in der Skateboard-Szene auftreten. Das würde sicher gut funktionieren.

Dabei stecken Sie schon längst in Ihrem nächsten Kongo-Projekt!

Ja, aber diese junge Band wird ausschließlich auf Schrott-Instrumenten spielen. Das hat im Kongo Tradition. Weil die Jugendlichen arm sind, ahmen sie die Sounds, die sie in amerikanischen Hip-Hop-Videos hören, auf eigene Weise nach: Sie scratchen etwa mit alten Tonbandmaschinen. Ich will das vermeintlich „Kaputte“ daran nicht reparieren. Sondern es stolz betonen.

SZ, 31.7.2015

JONATHAN FISCHER