Sidi Touré stand lange im Schatten eines übergroßen Paten: Ali Farka Touré. Wie dieser zieht der malische Singer-Songwriter Sidi Touré seine Inspiration aus der traditionellen Songhai-Musik, und wie der 2006 verstorbene Gitarristen-Kollege wird er im Westen gerne als Bluesmann bezeichnet. „Manche Hörer denken, wir würden afroamerikanische Musik einfach mit ein paar eigenen Zutaten aufkochen“, sagt der Songhai-Musiker, während er in seinem bescheidenen Zimmer in Bamako ein Kohle-Stövchen für den Minztee anfeuert: „Aber als mich ein amerikanischer Fan einmal auf die Ähnlichkeit eines meiner Songs mit ‚Boom Boom‘ hinwies, musste ich gestehen, diesen John Lee Hooker Song noch nie gehört zu haben.“ Sidi greift zur akustischen Gitarre, spielt ein paar der für ihn typischen Pentatonik-Riffs. Seine Musik hat die gleichen Wurzeln, aber doch nichts mit der afroamerikanischen Leidensgeschichte des Blues zu tun. Und doch wird jeder historisch gebildete Bluesfan bei einem der Auftritte von Tourés Band in staubigen malischen Hinterhöfen sich in das Mississippi der Vierzigerjahre versetzt fühlen. Es sind dieselben Klageschreie, die die Wut, die Lust und die Sorge tief aus dem Bauch hervorholen. Nun hat Touré mit „Toulbabero“ (Thrill Jockey) sein bisher rauhestes – und bestes – Album veröffentlicht. Statt in seinem eigenen Blechverschlag hat er es in den renommierten Bogolan-Studios eingespielt. Mit elektrifizierter Wucht. Und einer jungen, hungrigen Band: Während die Ngoni-Laute wie ein wild gewordenes Banjo dahinpluckert, Sidi Tourés Soulstimme im Wechselspiel mit einem Frauenchor von Liebe und Widerstand singt, schiebt der Groove unwiderstehlich nach vorne. Trance-Musik, die alles Krisengerede mindestens eine Nacht lang vergessen macht.
Mit Ebo Taylors Comeback hätte noch vor zehn Jahren kaum jemand gerechnet. Der ghanaische Highlife-Veteran hatte sich lange vom Musikgeschäft zurückgezogen, als seine Musik – eine Mischung aus Sechziger-Highlife und Siebziger-Afrobeat – im Westen zur Hipster-Ware aufstieg. Schuld daran sind unter anderem ein paar deutsche Enthusiasten: 2008 hatten Ben Abarbanel-Wolff und Jan Weissenfeldt Taylor zu Sessions mit der Berliner Afrobeat Academy geladen. Am Ende stand nicht nur Taylors erstes internationales Album „Love and Death“, sondern auch eine Wiederveröffentlichung seiner historischen Aufnahmen (Taylors Song „Heaven“ sampelte der amerikanische R’n’B-Star Usher 2010 sogar für seinen Hit „She Don’t Know“ und bescherte dem alten Mann so unverhofft viel Geld). Nun veröffentlicht der 81-jährige sein viertes Werk auf dem englischen Funk-Soul-Afro-Label Strut Records: „Yen Ara“ erfindet den Afrobeat nicht neu. Aber es zeigt, wie viel Platz für Variationen und Rekombinationen diese Musik lässt: von den harten Discobeats in „Krumandey“ bis zum jazzig-schmutzigen Bläsersatz. Mit von der Partie: Taylors stark vom Hip-Hop beeinflusste Söhne Henry and Roy an Klavier und Schlagzeug, neben Taylors offensichtlich nicht nur mit heimischem Palmwein geölte Saltpond City Band. Produziert hat das Ganze der britische Gitarrist Justin Adams, der ansonsten seine weltmusikalischen Ideen gerne mit Robert Plant, Brian Eno, Tinariwen oder Rachid Taha teilt. Hier beschränkt er sich darauf, Taylors Ideen zu verstärken: So hört man in den besten Momenten eine frenetische, alle Stile verschlingende und doch höchst eigenwillige Musik. Wen stört es da, wenn Taylor nicht nur pflichtschuldig von „Poverty“ sondern auch von gut gekleideten Zwergen und anderen irren Sagengestalten der Fante singt?
Auf der anderen Seite des Kontinents festigt der Rapper Diamond Platnumz gerade seinen Status als größter Star Ostafrikas. Bongo Flava heißt die lokale Hip-Hop-Spielart. Und wenn Diamond Platnumz frühe Tracks noch lokale Pop-Idiome aufnahmen, so klingt er auf „A Boy From Tandale“ (digital etwa über Spotify) panafrikanischer, man könnte auch sagen: kommerziell beliebiger denn je zuvor. Autotune-Gesänge und Reggaeton-Beats, Gastspiele des Jamaikaners Morgan Heritage, von Gangsta-Rapper Rick Ross sowie der Nigerianer Davido und P-Square stehen für das Missverständnis so vieler afrikanischer Künstler: Wer klingt wie alle anderen, kann auch weltweit in den Charts fischen. (Aber wie lange kann man sein Publikum mit Videos beeindrucken, die Sekt-trinkende Erste-Klasse-Passagiere zeigen?) Seine Ehre rettet Diamond Platnumz mit ein paar Kisuaheli-Nummern. Immerhin geht es um die Jugend des Rappers in Dar Es Salaams Slum Tandale. Ein wehmütiger, traditionell produzierter Song wie „Kosa Langu“ zeigt da: Die besten Ideen liegen nicht in Lagos oder Miami, sondern vor der eigenen Tür.
JONATHAN FISCHER
SZ 24.4.2018