Monatsarchiv: Februar 2023

Die Kraft der Bilder in der Krise. Die „Rencontres de Bamako“, größte Fotobiennale Afrikas, zeigt wie der Kontinent und seine Diaspora sich selbst denken

Zunächst versucht die Eingangsdame im Distrikt-Museum von Bamako, dem Besucher ein Ticket zu verkaufen. Den Einwand, dass die Biennale kostenlos sei, kann sie nicht entkräften. Aber, so kontert sie, zumindest für jedes geschossene Foto sei ein Obulus zu entrichten. Da müsse sie aber schon reich sein! Treffer, Gelächter. Man ist sich nicht böse. Im Gegenteil. Die Dame, sie bezieht sicherlich wie die meisten staatlichen Angestellten Malis ein Hungergehalt, gibt anschließend dennoch ihr Bestes, hat auf Nachfragen sogar ein paar Erklärungen – „mehr hat mir mein Chef leider nicht gesagt“. 

Eine gar nicht untypische Anekdote. Denn Bamako, eine Stadt, in der Trauben von Mofas, Eselsgespanne und buntbemalte , aber marode Kleinbusse permanent die Straßen verstopfen, wo die Glas-Beton-Hochhäuser der Banken an Ziegenmärkte grenzen, und überall Verkäuferinnen-Mädchen Schalen voller Wasserbeutel auf dem Kopf balancieren, scheint vor allem damit beschäftigt, das eigene Überleben zu organisieren. Da kann es schon passieren, dass die größte Foto-Biennale Afrikas von vielen wie die Landung eines wunderlichen UFOs wahrgenommen wird. „Ich habe davon gehört“, erklärt etwa Amadou Traore, junger Inhaber eines der vielen digitalen Fotostudios am Straßenrand.  Ein Foto kostet bei ihm nicht mehr als ein Häufchen Mangos. Trotzdem ist damit nicht viel Geschäft zu machen „ Wie soll ich von Kunst leben?  Ich bin froh, wenn ich genug  Künden für  Bilder von Hochzeiten und Familienfeiern finde.“ 

Tatsächlich galt das Medium Fotografie in Mali lange als bloßes Dienstleistungsgewerbe. Es ist relativ neu, dass junge Fotografen, darunter auch Frauen, ihre Kameras auf die Welt außerhalb des Studios richten. Und  – wie etwa John Kalapo, Fatoumata Diabate oder Kani Sissoko – auch international Furore machen. Das ist auch ein Verdienst der Biennale. Zum 13. Mal bringt die „Rencontres de Bamako“ Intellektuelle und Künstler aus der ganzen Welt nach Mali, über 70 der interessantesten afrikanischen und afrodiasporischen Fotografen der Gegenwart stellen hier aus. Ihre Sujets und Diskurse zeigen dabei ein wachsendes Selbstbewusstsein. Den Willen, sich – parallel zum jüngsten politischen Prozess des Gastlandes Mali – von westlichen und postkolonialen  Bevormundungen zu verabschieden.  „Mali hat sich auf provokative Weise dekolonialisiert“, sagt Igor Diarra, Direktor der Galerie Medina , wo die Biennale einen von sieben über die ganze Stadt verteilten Ausstellungsorte unterhält. „Wegen der Spannungen mit Frankreich sind bestimmte westliche Medienvertreter nicht gekommen. Das ist schade. Aber man darf nicht vergessen, dass jede Krise auch eine Chance der Neuorientierung ist“.

Schon auf der Fahrt durch die Stadt wird sichtbar, von was er spricht. Mali hat in den letzten zwei Jahren zwei Militärcoups erlebt. Nun gilt der Putschisten-Oberst Assimi Goita mit seiner Übergangsregierung als starker Mann – und weil er anders als seine demokratisch gewählten Präsidentenvorgänger sichtbar Maßnahmen gegen die Korruption ergreift, feiert ihn die Bevölkerung. Sein Konterfei prangt auf Taxis und Kleinbussen. Eine Welle des Patriotismus überschwemmt das Land. Malische Flaggen flattern von Mopeds und Geschäften. Eine Unabhängigkeitserklärung. Vor einigen Jahren sah man auch noch die Trikolore der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Immerhin hatten französische Militärs den Norden des Landes 2012 von einer Okkupation durch Tuareg-Separatisten und Dschihadisten befreit. Doch dann fielen die Franzosen in Ungnade: „Weil sie die fortgesetzten Massaker und Überfälle der Dschihadisten nicht verhinderten“, erklärt der junge malische Journalist Youssef Koné,,“ machte sie die Bevölkerung mit verantwortlich dafür. Dazu kam der Ärger über die fortgesetzte Einmischung der Franzosen in die malische Politik“. Nun hat man sich neue Verbündete gesucht – und ausgerechnet die russische Wagner-Miliz zu Hilfe geholt, offizielle lediglich als „Ausbilder“. Man merkt die neuen Verhältnisse vor allem an den russischen Fahnen, die an großen Plätzen verkauft werden. Und den hitzigen Diskussionen der allabendlichen Grins oder Teerunden am Straßenrand: Ist es richtig, dass die Regierung die französischen Staatssender RFI und France24 im Land verboten hat? Wer sagt die Wahrheit und was ist nur Propaganda? Und:  Worauf können sich Malier in der Zeit der Krise noch verlassen?   

„Wo die Politik sich verfahren hat“, sagt Diarra, „kann die Kultur spontan Brücken bauen. “ Tatsächlich wird die Foto-Biennale seit ihrer Gründung 1994 gemeinsam von der französischen Kulturbotschaft „Institut Francais“  mit dem malischen Staat finanziert. Baut sie seit drei Jahrzehnten Brücken nicht nur zwischen Europa und Afrika, sondern auch innerhalb der Afro-Diaspora beziehungsweise zwischen verschiedenen Ländern Afrikas. Das ist beispielhaft in der Galerie Medina zu sehen. Dort sind historische Fotos des legendären malischen Porträtisten Seydou Keita Arbeiten von jüngeren westafrikanischen Fotografen gegenübergestellt. Seydou Keita und Malick Sidibe: Diese auch im Westen gefeierten  Studiofotografen hatten in den 60er und 70er Jahren mit ihren Kameras den Aufbruchsgeist der malischen Jugend eingefangen, einen Optimismus, der noch ungebrochen an die Fortschrittsversprechen der Unabhängigkeit glaubte. Man versuche gerade, erklärt der Galerie-Direktor, die  damals abgebildeten Personen ausfindig zu machen. Um auch hier die Geschichte fortzuschreiben.  Das passt zum Motto „Vielfalt , Differenz, Erbe und Werden“, das Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der aus Berlin kommende Chef-Kurator der Biennale ausgegeben hatte. So scheinen etwa die Bilder des  ivorischen Fotografen Ananias Léki Dago eine gewisse Ernüchterung auszudrücken: Sei es das Pokerface eines Mannes, der an seiner Zigarette zieht, der abgewendete Blick eines Trinkers, Frauen, die wie Gefangene durch ein Gitter blicken.  Dago illustriert hier eine Stimmung zwischen Bar-Coolness und Desillusion – und wirkt damit, neben seinem von afroamerikanischen Moden inspirierten Wegbereiter und Idol Paul Kodjo ganz im Hier und Jetzt.

Nächste Station, der alte Bahnhof von Bamako: Die Uhr steht, das prächtige Kolonialgebäude wirkt traumverloren.  Im Jahre 1924 war es  von den Franzosen als Zwischenstation einer Eisenbahnlinie zwischen dem senegalesischen Dakar und Niamey im Niger erbaut  worden. Später, in den 60er und 70er Jahren formierte sich im angeschlossenen Buffet de la Gare die Musikszene Malis mit der Rail Band und ihrem bis heute durch die Welt tourenden Superstar, dem Sänger Salif Keita.  Zugverkehr das bedeutete Zukunft. Doch seit dem Beginn der Krise vor über zehn Jahren sind die Bahnsteige verwaist  Zwischen den Schienen weiden Ziegen. Im Unkraut der Abstellgleise verrotten ein paar  Waggons. Während vor dem Haupteingang alte Männer in weiten, glänzenden Boubous-Gewändern  Domino spielen. Erst vor kurzem hat die Militärregierung mit einer Testfahrt angekündigt, zumindest den Zugverkehr bis in die westliche gelegene Stadt Kayes wieder herstellen zu wollen. Und auch die Biennale hat das historische Gebäude für sich entdeckt. Aber erst muss ein Wärter gefunden werden, der einem aufschließt.

Das Nebeneinander von Geschichte und Gegenwart hat seinen Charme: Neben einem Messing-Schild „Gepäckaufgabe endet 15 Minuten vor Abfahrt des Zuges“ etwa hängen Nourhan Maayoufs großformatige Schwarz-Weiß-Bilder von afrikanischen Wohnzimmern – dieser ständigen Verhandlungszone zwischen Gemeinschaft und Rückzug. Seif Kousmate sucht in seiner Serie nach den Spuren des Traumas vergangener ethnischer Konflikte im Zusammenleben von ruandischen Hutu und Tutsi. Andere Arbeiten spüren neben geschlossenen Kartenschaltern der Rolle der Frauen für die Gesellschaft in Trinidad und Tobago nach, oder überblenden die Aufnahmen des eigenen Körpers mit den von der Kolonialmacht ausgestellten Dokumenten des Großvaters.  

Diese thematische Vielfalt kann verwirren.  Und das soll sie auch. Denn auf diesem Treffen der Fotografen, Künstler und Intellektuellen geht es laut dem künstlerischen Direktor Ndikung um eine Sprache der Zwischenräume, Identitäten, die vermeintliche religiöse, politische, ethnische oder sexuelle Gewissheiten in Frage stellen.  „Unser Thema ist die Multiplizität“, erklärt Ndikung. Er hatte schon die letzte Rencontres de Bamako kuratiert und leitet seit 2023 das renommierte Haus der Kulturen in Berlin. „ Jeder Mensch trägt – das erklärte schon der  malische Schriftsteller Amadou Hampate Ba – eine Mehrzahl von Personen in sich.“ Zu Ende gedacht ist das eine nachdrückliche Toleranz-Botschaft. Ndikung hatte nicht ohne Hintersinn ein Biennale-Motto in der Landessprache Bamana gewählt: „Die Personen der Person sind in der Person mehrfach“ ließe es sich übersetzen. Oder: Jeder Mensch trägt viele Welten in sich. Physisch, psychisch, spirituell.

Daneben aber setze die Biennale auch konkrete wirtschaftliche Impulse: „Früher“, sagt Ndikung, „ließ man die Fotos in Frankreich drucken. Heute vergeben wir alle Aufträge an lokale Ateliers und Unternehmer.“ So sollten junge Fotografen ermutigt werden,  ihre Kunstwerke vor Ort zu produzieren. Und überkommene Minderwertigkeitskomplexe gegenüber dem „made in Europe“ ablegen.

Tatsächlich entwickelt die Biennale ihre stärksten Momente da, wo Fotos und Videos unmittelbar mit dem Alltag Bamakos korrespondieren. Etwa bei der multimedialen Installation „Koungo Fitini“, kleinere Probleme- des Belgiers Arnold Grojean. Im Distrikt-Museum porträtiert er die Straßenkinder der Stadt, ja lässt sie selbst zu Wort kommen. Viele von ihnen leben gleich nebenan rund um den großen Markt. Für den Rest der Gesellschaft aber bleiben sie Phantome. Hier aber öffnen sie sich in erschütternden Augenzeugenberichten und Zeichnungen. Es geht um kleinkriminelle Banden, sexuellen Missbrauch, die Betäubung durch Drogen und immer wieder rohe, lebensbedrohliche Gewalt. In ihren großformatig aufgezogenen Gesichtern spiegeln sich nicht nur Verlorenheit und Härte. Sondern auch ein wilder Lebensmut. Natürlich stellt sich die Frage: Wird hier das Leid der anderen exotisiert? Reduziert sich hier Afrika womöglich auf Negativ-Klischees? Immer wieder halten afrikanische Fotografen ihren westlichen Kollegen diese legitime Kritik entgegen. Hier aber gibt es einen entscheidenden Unterschied: Die Straßenkinder haben im Lauf mehrerer Jahre mit Grojean gelernt, mit Kamera und Fotoatelier umzugehen, und sie haben alle Medien genutzt, um ihre Geschichten selbst zu erzählen.

Sehr pittoresk geht es im Monument für den ersten malischen Präsidenten Modibo Keita, einem realsozialistischen anmutenden Palais am Niger-Ufer zu – und das nicht nur weil die Hitze schon einige der Fotos von den Stellwänden gelöst hat.  „Afrikaner sind Genies der Alltags-Improvisation“, sagt die malische Fotografin Fatoumata Diabate. Eine resolute Frau, die eigenen Angaben nach nur durch Vermittlung einer Tante einen Platz an einer der renommierten Fotoschulen in Bamako erhielt, und die lange kämpfte, um sich als Frau und Fotografin in einem von Männern dominierten Metier durchzusetzen. Mit der von ihr geleiteten „Association des Femmes Photographes de Mali“ hat sie nun einen der in Bamako allgegenwärtigen Kleinbusse in ein mobiles Fotoatelier verwandelt.  Wer  zur Arbeit oder zum Markt will, verbringt oft Stunden zusammengepfercht in der Enge und Hitze der sogenannten „Sotramas“ . „Es sind die Blicke der Passagiere, ihre Kraft, aber auch ihre Erschöpfung, die mehr über den Alltag Malis aussagen als jede Rede“, erklärt Diabate.  Vor einem schwarz-weiß-karierten Vorhang –  inszenieren sich nun die Passagiere selbst. Werden sie von Leidenden zu Helden. Durchaus komische Noten entwickeln  auch Diabates Portraits von improvisierten Corona-Maskierungen. Ein mit Gemüseblatt maskiertes Männergesicht, Taucherbrillen, Damenslips und Socken als  Behelfsschutzmittel, ja selbst Radios und Fernseher mit Atemschutz – das oszilliert  zwischen Erfindungsreichtum  und kreativem Wahnsinn.   

Seydou Camara streicht fast zärtlich über die Papierfahnen an den Wänden des Cinema Hilal. Zwischen Reihen von Eisenstühlen haben ein paar Männer ihre Gebetsmatten ausgerollt. Auf der anderen Seite waschen Frauen Geschirr in großen Plastiktrögen. Während ein Mechaniker unter den Fotos eines Schönheits-Salons an einem Motor herumschraubt. Gerade deshalb schätzt Camara, ein Macher-Typ mit gewinnendem Lächeln,  das alte Freiluftkino im Herzen der Medina Bamakos  als Ausstellungsort. Zusammen mit den jungen Fotografinnen seiner Initiative Yamarou hat er dessen Wände zu einer großen Straßen-Galerie umfunktioniert. Immer wieder bleiben ambulante Marktfrauen oder spielende Kinder vor den Fotos stehen. Es sind Themen mit denen hier jeder vertraut ist:  Der Blick eines Flüchtlingskindes aus einem mit Plastikplanen improvisierten Zeltes. Eine Fotografin, die die Inhalte des Schmuckkästchens ihrer  verstorbenen Mutter zeigt.  Oder Frauenkörper, die unter übereinandergelegten Schichten von Kleidung ersticken – Symbol für den sozialen Druck, sich für jedes Fest neue kostspielige Kleider schneidern zu lassen: „Wir von Yamarou“, erklärt Camara. „haben einen sozialen Auftrag: Vermeintliche Selbstverständlichkeiten und Rollenbilder in Frage zu stellen. Und die Menschen so zum Reden zu bringen“.

Auch deshalb veranstaltet Camara,  selbst ein international renommierter Fotograf,  mit Yamarou regelmäßig Fotoworkshops für Kinder und Jugendliche. Das Medium Foto sei nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil es in einer Gesellschaft von 70 Prozent Analphabeten von allen gelesen werden könne. Letztes Wochenende habe Yamarou ein Marionettentheater, eine Modenschau und  Musiker ins alte Kino gebracht. „Die Straßen ringsum sind aus allen Nähten geplatzt. Danach haben wir alle zusammen sauber gemacht“. Es sind solche Off-Aktionen, die das UFO der Biennale dann doch  in den populären Quartieren  der Stadt landen lässt. „Wenn in Mali etwas fuktioniert“, erklärt Camara, „dann ist es der Gemeinschaftsgeist. Deshalb habe ich trotz aller Krisen Hoffnung für unser Land“.     

JONATHAN FISCHER

In gekürzter Fassung erschienen in der NZZ 4.2.2023