Von malischen Dorfplätzen in westliche Clubs: DJ Diaki zeigt mit hochgepitchten Folk-Rhythmen
und lärmenden Loops, warum elektronischer Musik aus Afrika die Zukunft gehört



Die Ankunft in Diakis Heimatdorf Sanakoroba ist ernüchternd und extrem zugleich. Das Taxi, ein zerbeulter Mercedes 190, hatte sich von Malis Hauptstadt Bamako gut 30 Kilometer seinen Weg zwischen Lastwagen mit Achsenbruch, überfüllten Kleinbussen, Melonenbergen und Kohlesäcken gebahnt. Roter Staub wirbelt von den Schlaglöchern auf und dämpft das Sonnenlicht zu einem matten Orange. Umso krasser die hereinwehenden Soundfetzen: Muezzin-Rufe, brüllende Dieselmotoren, der Sirenengesang der Musikerin Oumou Sangarés, übersteuertes Balafon-Geklöppel von Hochzeitsgesellschaften am Straßenrand. Ein Frontalangriff auf das Nervensystem. Oder doch der Grundstoff für die hochtourigen Rhythmen, mit denen sich DJ Diaki einen Namen gemacht hat?
Wenn die Zukunft elektronischer Musik in Afrika liegt, dann muss DJ Diaki zu ihren künftigen Superstars gezählt werden. Der englische Guardian führte sein Debütalbum „Balani fou“ in den Top Ten seiner Jahresbestenliste von 2020. Zu Recht. Die Musik: vitales Chaos. Rumpelrhythmen. Dancefloor, aber eckiger, kantiger als der oft geleckte Four-to-the-floor-Wumms westlicher Technoproduktionen. Erst vor etwa acht Jahren hat elektronische Musik aus Afrika ja auch ein Hipster-Publikum im Westen erreicht. Seitdem hört man in immer mehr Clubs auch nigerianische Afrobeats, Kuduro aus Angola oder Gqom aus Südafrika. Doch keiner beschwört noch mal so körnig wie DJ Diaki den Enthusiasmus aus der Gründerzeit des Techno. Mehr als 250 000 Follower haben über Facebook Diakis tägliche Radiosendung abonniert. Seit er 2019 beim führenden afrikanischen Technolabel Nyege Nyege Tapes in Kampala unterschrieben hat, erhält er weltweite Buchungen. Zuletzt war er im Januar 2020 auf der CTM, einem der führenden elektronischen Musikfestivals, in Berlin zu Gast. Chicago, Detroit, Sanakoroba?
Der Ort hat auf Google Maps genau einen Eintrag: „Discotheque DJ Diaki“ , heute geöffnet bis 18 Uhr. An einer unscheinbaren Ladenfront an der Route National 7 findet sich der Schriftzug wieder. In verwitterten Buchstaben. Rechts ein Kohlenhandel, links eine Schlosserei. Keine Limousinen. Aber Eselsgespanne parken am Straßenrand. Diaki, ein kurzer, drahtiger Typ in Jeans und fadenscheinigem Hemd streckt seine Faust zum Gruß entgegen. „Bienvenue!“
Der 45-Jährige hat sich auf den Besuch vorbereitet. Obwohl zwischen Lautsprecherboxen und Generator kaum drei Menschen Platz finden, steht seine Anlage aufgebaut und verkabelt im Laden. „Normalerweise“, sagt er, „spiele ich draußen. Bis zu fünf Abende die Woche packe ich die Ausrüstung zusammen und fahre mit meinem Bruder zu irgendeinem Dorf, wo wir dann bis zum Morgengrauen auflegen.“ Sein Bruder, DJ Iba, nickt und tippt auf seinen Laptop.
Sofort geht eine Lärmlawine ab. Kollektive Krachmacher-Traditionen prallen aufeinander. Die Rohheit von frühem House, das Chaos des Jungle, der Dreck malischer Folk-Musik. Hier klöppelt ein Balafon-Riff. Da sägt eine gesampelte Ngoni-Laute. DJ Diaki ruft auf seinem Touchpad ein Signalhorn ab, ein startendes Düsenflugzeug oder das Rattern eines defekten Nadeldruckers. Hochbeschleunigte Rhythmuspartikel, die sich zu einem sensorischen Overkill addieren. Diaki reitet die Welle: Während sich seine Finger im Stakkato-Rhythmus bewegen, leuchtet ein 1000-Watt-Grinsen über sein Gesicht. „Warum sind Sie gestern nicht mitgekommen?“ Er zeigt Videos von Menschen, die Nachts im Dunkeln auf einem Feld tanzen und sich dabei gegenseitig mit ihren Handys filmen.
Gestern. Klar wäre man da gerne dabei gewesen. Techno-Avantgarde im Mondschein in einem Dorf am Niger-Ufer. Aber Mali ist seit 2012, als Dschihadisten vorübergehend die Hälfte des Landes überrannten, nicht mehr zur Ruhe gekommen. Die Botschaft hatte gewarnt: Bamako nachts auf keinen Fall verlassen. In den vergangenen Jahren hatten sich Überfälle und Entführungen gehäuft. Doch die Dörfer, der Busch oder „la brousse“, wie sie hier sagen, bilden die Basis für DJ Diakis Popularität: „Für die Leute in der Stadt sind meine Rhythmen zu wild. Sie folgen lieber den neuen Moden aus dem Westen …“
Mal wieder so ein großes interkulturelles Missverständnis: Diaki, der von den urbanen Landsleuten gemiedene Dorf-DJ, wird im Westen gefeiert.
Angefangen hatte Diaki vor 20 Jahren als Kassetten-DJ: mit zwei Kassettendecks und Songs, die er aus dem Radio aufgenommen hatte. Eine Mischung aus gerappten Ansagen, ivorischem Coupé Decalé und den rasanten Balafon-Rhythmen, die in Mali traditionellerweise Hochzeiten anheizen.
Eine kanadische NGO, die in seinem Dorf ein Informationsradio für die ländliche Bevölkerung aufbaute, war Diakis große Chance: Er hatte schon vorher als Hobby einen lokalen Sender betrieben – und bekam einen Moderatorenjob. Was ihn aber noch mehr interessierte: seine Musik endlich live auf einem Computer zu komponieren. Malische DJs hatten in den Neunzigerjahren begonnen, die Balafon-Rhythmen auf den Hochzeiten elektronisch zu simulieren – war günstiger als echte Musiker. DJ Diaki ließ sich von einem kanadischen Entwicklungshelfer das Tractor-DJ-Programm erklären, lieh sich Boxen und Verstärker. Der Start eines der aufregendsten Soundsysteme Westafrikas.
Und der Kurzschluss zwischen archaischen Dorftraditionen und Club-Futurismus. „Ich komme aus einer armen Familie. So wie mein Vater und mein Großvater bestelle ich Felder mit Maniok und Mais.“ Um seine zwei Ehefrauen und fünf Kinder zu ernähren, arbeitet Diaki zusätzlich als Lagerarbeiter. Die DJ-Gagen reichen nicht. 30 000 CFA, nicht mal 50 Euro. Dafür muss er manchmal ein paar Hundert Kilometer durch den Busch fahren, aufbauen, morgens wieder abbauen. Wenn er und sein Bruder Pech haben, streikt der Generator während eines Sets. Dann werden sie ohne Gage und Essen wieder heimgeschickt. La brousse eben.
Und dann plötzlich: Hamburg, Paris, Warschau. Das waren einige der Stationen seiner zweiwöchigen Tour durch Europa.
„Ich war noch nie im Westen. Und dann bekomme ich letztes Jahr ein Flugticket erster Klasse nach Berlin.“ Diaki drückt den Arm seines Gegenüber. „Sie haben mich dort behandelt wie einen König.“ Verwirrend war noch einiges mehr: die viele nackte Haut. Die Transvestiten. Die grellen Kostüme. „Ich bin ein gläubiger Muslim, wir denken hier sehr konservativ. Ich fand diese Freiheit trotzdem faszinierend …“ Diaki sagt, dass ihm klar geworden sei, dass DJs, jenseits bloßer Tanzanimation, auch Freiräume schaffen, damit sich Menschen eine Nacht lang anders geben können, als die Gesellschaft es erlaubt. Sie dürfen dann neue Rollen probieren.
Genau aus diesem Grund gefällt in Mali nicht allen DJ Diakis Musik. Konservative Imame geißeln die „Balani Show“ als Frevel. Angeblich vergessen die Leute das Beten. Außerdem tanzen Männer und Frauen sich gemeinsam in Ekstase. Entnervt trommelt der DJ auf seinem Pult: „Aber bin ich etwa ein Dieb? Stehle ich jemandem das Geld? Ist das Musik des Teufels, bloß weil die Leute sich amüsieren?“
Diaki nimmt ein Klebeband, befestigt einen der lose herabhängenden Zettel am Ladenfenster, auf denen er in Regenbogenfarben „Discotheque DJ Diaki“ und seine Telefonnummer geschrieben hat. Auf einem anderen steht: Fax, Scan, Kopierservice. Noch ein Zusatzgeschäft. Mit der DJ-Gage aus dem Westen konnte er sich immerhin zum ersten Mal einen eigenen Gebrauchtwagen leisten – bisher musste Diaki seine Anlage in klapprige Buschtaxis verladen.
Der Höhepunkt des vergangenen Jahres aber war sein eigenes Festival: Die Macher von Nyege Nyege hatten ihm vorgeschlagen, als Ersatz für das wegen der Pandemie ausgefallene Event in Uganda eine kleinere Variante in Sanakoroba zu organisieren. Er zeigt auf einen staubigen Platz, jenseits der Teerstraße: Dort sei die Bühne gestanden. Hunderte frenetischer Tänzer, ein Clash der besten elektronischen Soundsysteme des afrikanischen Kontinents. Vor allem aber: der Segen seiner Familie. „Sie haben endlich gesehen, dass ich mit der Musik etwas auf die Beine stellen kann.“ In Mali muss man die Eltern auch als erwachsener Mann um Erlaubnis für Reisen bitten. Als er seine erste Festival-Einladung bekam, habe sich der Vater dagegengestellt. Was, wenn ihm, dem Erstgeborenen, im Ausland etwas zustoße? Wer werde dann dessen Familie ernähren? Erst mit religiösen Argumenten konnte Diaki seinen Vater überzeugen. Gott habe ihm ein Talent gegeben. Jetzt sei es seine Pflicht, dieses zu nutzen, Insch’allah.
Eine Woche später, ein Anruf von DJ Diaki: Er spiele auf einer Hochzeitsfeier, in einem Dorf südlich von Bamako. Zur sicheren Tageszeit. Der gepanzerte Wagen der deutschen Botschaft – die Kulturreferentin plant einen DJ-Austausch zwischen Berlin und Sanakoroba – braucht fast zwei Stunden für die 40 Kilometer Teerstraße. Neben der Dorfschule steht ein großes weiß-blaues Zelt, eine Hundertschaft Gäste wartet auf Plastikstühlen im Schatten. Frauen in bunt glänzenden Damastkostümen, Männer in traditionellen Boubous. Begrüßungsrufe. Mädchen, die Schüsseln mit Wasserbeuteln oder Orangen auf dem Kopf balancieren, machen die Runde. Bei 35 Grad im Schatten bewegt sich niemand mehr als nötig.
Bis DJ Diaki und sein Bruder ihre Anlage anwerfen: Krwitt krwitt, bongbong, rattatattatatatat …
Ein paar der jüngeren Frauen springen in den Halbkreis vor dem DJ-Pult. Nehmen mit minimalen Hüftbewegungen den Rhythmus auf. Verdrehen die Schultern. Stampfen mit ihren Füße im roten Staub.
DJ Diaki greift zum Mikro, ruft wie sonst Rapper ihre Viertel die umliegenden Dörfer aus. Zustimmendes Gejohle. Bei 170 Beats per Minute können Altersgrenzen schnell gleichgültig werden. Großmütter im Wickelrock zucken rhythmisch neben Scharen kleiner Kinder und Jugendlichen im Hip-Hop-Outfit. Ein Sound für alle. Der akustische Bombast aus Achtzigerjahre-Drum-Pads, Synthesizer-Arpeggien und Balafon-Samples. Überwältigende Präsenz.
Diaki hat keine vorgefertigten Stücke. Er komponiert seine Krach-Variationen im Moment. Schleife um Schleife. Loop um Loop. Man ahnt es: Schöpfen die elementaren Bestandteile westlicher Clubkultur nicht schon immer aus diesem urafrikanischen Prinzip? Taumelnd sinken die Tänzer nach zwei, drei Stücken zurück in ihre Plastikstühle. „Niemand kann länger als eine Stunde zu meinem Sound durchhalten!“ Für andere DJs wäre das ein Anreiz, leisere Passagen oder Spannungsbögen einzubauen. Diaki aber hackt wie ein delirierender Reiseschriftsteller auf seine Tasten ein. Findet den Groove im Chaos. Grinst. Richtig getanzt, sagt er, wird sowieso erst, wenn es dunkel ist.
Jonathan Fischer
SZ 1.6.2021