Monatsarchiv: Mai 2011

Der Großstadt-Griot: Rap-Pionier Gil Scott-Heron, einer der einflussreichsten Poeten und Musiker Amerikas, ist mit 62 Jahren gestorben

Gil Scott-Herons Album „I’m New Here“ aus dem letzten Jahr enthält als zentrales Motiv das Zitat eines alten Bluessongs: „Me And The Devil“. Vier Jahrzehnte lang hatte der Großstadt-Griot in den bedrohlichen Abyssus der amerikanischen Gesellschaft geschaut, Gedichte von gleißender Schönheit und der Schärfe von Rasierklingen vorgetragen. Und am Ende forderte der Teufel seinen Preis.

Die sozialen Übel, die er so hellsichtig sezierte, fielen auf Gil Scott-Heron zurück. Fraßen ihn von innen auf. Seine ihn in den letzten Jahrzehnten dominierende Kokainsucht, mehrere Gefängnisaufenthalte wegen Drogenbesitzes und eine HIV-Erkrankung ließen den schlaksigen Sänger mit dem volltönenden, fatalistischen Bariton bei seiner Europa-Tournee 2010 nur noch als Schatten seiner selbst erscheinen. Sein großartiges, auf düsteren Dub-Beats rollendes Comebackalbum sollte auch sein letztes sein. Der 62-jährige Rap-Pionier, der seit den siebziger Jahren als einer der einflussreichsten Poeten und Musiker Amerikas gilt, erlag vergangenen Freitag in seiner Heimatstadt New York einer Infektion.

Es gehörte zu den Widersprüchen von Gil Scott-Herons Leben, dass er in der Popwelt ikonisch verehrt, zitiert, und von Hip-Hop-Jüngern wie Kanye West gesamplet wurde – menschlich allerdings in der zweiten Hälfte seiner Karriere eine eher bemitleidenswerte Figur abgab: ausgemergelt vom Drogenmissbrauch. Zu erschöpft, um noch einmal die Höhen solch phantastischer Songs wie „Angel Dust“ oder „Who’ll Pay Reparations On My Soul?“ zu erklimmen.

Und doch schwebt Scott-Heron als Geist über jedem informierten Hip-Hop-Song, jeder komplexen Neo-Soul-Ballade, jedem Polit-Hipstertum der letzten Jahrzehnte. Sein Kollege Kalamu ya Salaam bezeichnete ihn einmal als „Verkörperung der Post-Bürgerrechtsbewegungs-Erfahrung der Afroamerikaner“. Musste da seine Tragödie wirklich erstaunen?

Wer „Home Is Where The Hatred Is“ so überzeugend singt wie Gil Scott-Heron, der hatte mehr gesehen, als er sehen wollte. Dem steckte der „Winter in America“ tief in den Knochen. Auf seinem letzten, nach 16 Jahren des Abtauchens in Drogenhöhlen und Knastzellen kaum noch erwarteten Album hat der Poet diese dunkle Seite seines Landes noch einmal auf den Punkt gebracht: „You can’t name a place where I ain’t been down / cause there ain’t no place I ain’t been down“. Und doch stand der resignierten Wut und der coolen Kommentierung des gesellschaftlichen Untergangs immer auch eine Hoffnung zur Seite.

Die Jugend des 1949 in Chicago geborenen Gil ist von der Fürsorge seiner Großmutter Lillie geprägt. Nachdem sich die Eltern, eine Sängerin und ein Fußball-Profi, trennen, wächst er bei der Oma in Tennessee auf. „Von ihr lernte ich“, sollte der Dichter später erklären, „die Wahrheit im eigenen Herzen zu finden – und sie auszusprechen“. Seine Großmutter führt Gil auch an die Dichtung von Langston Hughes heran und kauft dem Enkel für sechs Dollar ein Klavier. Als Lillie stirbt, zieht Scott-Heron zur Mutter in die Bronx. Durch Empfehlung einer seiner Lehrer kommt der literaturbegeisterte Schüler an die renommierte Fieldston School, später studiert er an der Lincoln University in Pennsylvania, und schreibt zwei Romane: „The Vulture“ und „The Nigger Factory“. Mit seinem Kommilitonen und musikalischen Partner Brian Jackson veröffentlicht er von 1974 an eine Reihe von Alben, die afrikanische Perkussion, Latin Funk und fließende Improvisationen auf dem Fender-Rhodes-Piano zu einer Avantgarde-Musik mischen, die zwei Jahrzehnte später Pate für die Acid-Jazz-Bewegung stehen sollte. Selbst Gil Scott-Herons Wut schillert hier in vielen Farben: mal traurig, mal spöttelnd, mal euphorisch. Mit ganzer Seele kämpfend animiert die Disco-Nummer „The Bottle“ zum Tanzen, während der Sänger vor den Gefahren des Alkoholismus warnt. Dann wieder macht er – „What’s the word? Johannesburg!“ – das politische Tabuthema Südafrika zum Sommerhit. Oder schreibt 1977 nach einer Beinahe-Kernschmelze auf Three Miles-Island eine funkgetriebene Anti-Atom-Hymne: „We Almost Lost Detroit“. Protest ist ein zu schales Wort für Scott-Herons Songs. „Lady Day And John Coltrane“ und „I Think I’ll Call It Morning“ swingen mit einem zärtlichen Optimismus, dem selbst die Ungerechtigkeiten des Nixon- und Reagan-Amerika nichts anhaben können.

Gil Scott-Herons bekanntester und von der Popkultur meist zitierter Song allerdings erscheint bereits auf seinem 1970er Debüt „Small Talk At 125th and Lenox“: „The Revolution Will Not Be Televised“. Oft wurde er als Kritik an den Massenmedien und der Konsumhaltung seiner amerikanischen Mitbürger verstanden. Er selbst hat ihn als Aufruf zur Selbstbesinnung gedeutet: „Du musst erst eine Revolution in deinem Kopf vollbringen, bevor du etwas auf der Straße bewegen kannst.“ Der Soulpoet kritisierte seine Hip-Hop-Jünger, sie würden sich auf Posen beschränken, statt die Zuhörer „in sich hineinschauen zu lassen“.

Mit dem Titel „Godfather of Rap“ konnte sich Scott-Heron nie anfreunden. Er selbst nannte seine Musik „Bluesology“. In dem Song „Message To The Messengers“ forderte er die Rapper auf, wieder „die Selbstliebe und den Selbstrespekt in den Mittelpunkt zu stellen“. Ironie des Schicksals, dass gerade mit seinem letzten Album Scott-Herons entschieden erwachsene Popmusik anfing, weitere Kreise denn je zu ziehen. Am Ende hinterlässt Gil Scott-Heron uns nicht nur seine als Mischung aus „Mahagoni, Sonnenschein und Tränen“ beschriebene Stimme. Sondern auch die Erkenntnis, dass die Größe Afroamerikas immer darin lag, aus den dunkelsten Abgründen die wunderbarste Dichtung hervorzubringen.
JONATHAN FISCHER
SZ 30.5.2011

Ali Cukur über Schläger

Das Allstar-Sportcafé, eine triste Kneipe in einer Einkaufspassage in München-Milbertshofen. „Alles klar, Jungs?“ begrüßt der sportliche 50-jährige Ali Cukur zwei Rentner, die hier ihr Feierabendbier trinken. „Das Lokal gehört meinem Bruder“, erklärt er. Dann setzt sich Cukur seine Lesebrille auf. „Institut für konfrontative Handlungslehre“ lautet der etwas kantige Titel seiner Mappe, in der er Unterrichts-Material zum Anti-Gewalt-Training aufblättert. Foto: Hans-Bernhard Huber

von Jonathan Fischer

SZ: Herr Cukur, wie oft hören Sie die Einwände besorgter Mütter, Kinder würden erst bei Ihnen lernen, anderen richtig die Fresse zu polieren?

Ali Cukur: Ist doch verständlich, dass die das denken, wenn sie ihr Bild vom Boxen aus Schaukämpfen in deutschen Privatsendern beziehen. Profi-Boxen zieht mit seiner Brutalität, dem vielen Geld und der Zuhälter-Aura viele Zuschauer.

Auch die Öffentlichkeit ist hochalarmiert. Jede Woche hört man von Jugendlichen, die auf Bahnhöfen wehrlose Menschen zusammentreten. Sie behaupten, aggressive Jugendliche wieder in die Gesellschaft integrieren zu können; mit Boxtraining, ausgerechnet.

Das ist keine Theorie. Ich erlebe viele Boxschüler, die als Problemkinder zum Training kommen und plötzlich eine ganz neue Perspektive auf ihr Leben gewinnen. Einer meiner Schüler – er hatte einst einen Ruf als gewalttätiger Kleinkrimineller – studiert inzwischen Informatik und steht den Anfängern als Trainer zur Seite. Der hat sich dafür regelrecht bedankt. Oft rufen mich auch die Mütter von Jugendlichen an, die etwas ausgefressen haben: Ob ich nicht helfen könnte. Es spielt dann keine Rolle mehr, dass ich Türke bin und sie Kurden, Armenier oder Deutsche.

Klingt ein bisschen zu schön, um wahr zu sein.

Im Boxtraining spricht niemand von

Integration, aber: Wo bitte arbeiten deutsche Hauptschüler, türkische Gymnasiasten oder afrikanische Asylbewerber schon so selbstverständlich miteinander?

Einerseits gilt Boxen als Türöffner für unterprivilegierte Minderheiten. In Deutschland sind die meisten erfolgreichen Boxer Immigranten erster oder zweiter Generation.

Stimmt.

Andererseits hat Thilo Sarrazin mit seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ eine hitzige Debatte über die Bedrohung nicht integrierbarer Migrantenkinder entfacht. Kennen Sie sein Buch?

Mich ärgern Schlussfolgerungen, die da aus Einzelfällen abgeleitet werden. Klar gibt es Jugendliche, die sich verweigern. Aber dahinter steckt doch ein ganz anderes Defizit: mangelnde Anerkennung. Wer die nicht von Eltern und Lehrern bekommt, der verschafft sie sich womöglich auf krummen Touren. Warum schreit ein Kleinkind, außer es hat Hunger oder Schmerzen? Doch vor allem, weil es die Beachtung braucht. Weil es gesehen werden will.

Genau wie Ihre Schützlinge?

Absolut. Neulich hatte ich in einem Präventionstraining einen 13-Jährigen, der sich jeder Anweisung widersetzte.

Alle trainierten, er nicht. Ich fragte ihn: Glaubst du wirklich, deine Ehre wird

gekränkt, wenn du tust, was andere dir sagen? Treffer! Wir waren in Kontakt. Nächste Woche kam er wieder: Darf ich die zwanzig Straf-Liegestützen vom letzten Mal nachholen?

Sie sind einer der erfolgreichsten Amateurboxer Deutschlands und der Türkei. Einerseits trainieren Sie Boxer darin, ihre Gegner k.o. zu schlagen. Andererseits arbeiten Sie als Anti-Gewalt-Trainer. Wie lebt es sich mit diesem Widerspruch?

Boxtraining und Anti-Gewalt-Training beruhen doch auf demselben Prinzip: Lerne, deine Aggression zu kontrollieren! Wer sich nicht unter Kontrolle hat, verliert nicht nur unweigerlich einen Boxkampf, sondern auch im realen Leben.

Wie Mike Tyson, der als Außenseiter in der Schule von allen gehänselt wurde, nach einem hysterischen Wutanfall zum ersten Mal Respekt bekam und später, als Boxer, seinen eigenen Gewaltausbrüchen zum Opfer fiel . . .

Sie sprechen von den Geschichten, wie er seine Trainer verprügelte und einem Gegner ein Stück Ohr abbiss. Tyson wäre nie so tief gefallen, wenn er mehr an seiner Selbstkontrolle gearbeitet hätte. Dieses irrationale Gewaltding mag anfangs auch eine Masche sein, um sich Respekt zu verschaffen. Am Ende aber verlierst du. Als Boxer und als Mensch. Man kann diesen Mechanismus auch auf dem Schulhof beobachten: Wer sonst für nichts bewundert wird, kommt womöglich auf die Droge, anderen eine reinzuhauen.

Viele solche Jugendliche werden zu Ihnen geschickt, damit sie ein Anti-Gewalt-Training absolvieren. Auch der der wohl bekannteste minderjährige Schläger Deutschlands gehörte zu Ihren Klienten . . .

Sie meinen Mehmet? Eigentlich heißt er Mulis. Ein sehr labiler Junge, der im Grunde Zuneigung gebraucht hätte. Den ließ ich beim regulären Boxtraining mitlaufen – mit erstaunlichen Ergebnissen: Hier musste er bekennen, wer er wirklich ist. Als ich ihn etwa aufforderte, die Handschuhe für das Sparring anzuziehen, da druckste er plötzlich herum, er sei doch Anfänger, und ob er jetzt gegen einen Stärkeren antreten müsse. Das war das einzige Mal, dass ich ihn auf seine Berühmtheit als Schläger ansprach. Ansonsten ignorierte ich das Thema. Oft ist es ja gerade diese negative Aufmerksamkeit, die als Ersatz für echten Respekt herhalten muss.

Und Sie zollen Typen wie ihm echten Respekt?

Wenn zu mir ein Jugendlicher kommt und zwei, drei Schläge auf den Sandsack macht, dann sage ich: ,Hey Junge, das machst du wunderbar, du bist ja ein richtiges Talent.‘ Was meinen Sie, wie stolz der nach Hause geht? Mit ihm ist daheim oder an der Schule nie jemand zufrieden gewesen. Und dann sieht er plötzlich, dass er etwas kann. Das Boxen ist doch eine Parabel für das richtige Leben: Natürlich sage ich meinen Schülern, dass sie noch ihre Schritte, die Schläge, das Wegducken verbessern können. Aber vor allem brauchen sie Selbstvertrauen, den Glauben an sich selbst. Das motiviert mehr zum Arbeiten als alles andere.

Soziologen bringen Gewalttätigkeit von Migrantenkindern immer wieder mit der Macho-Kultur ihrer Familien in Zusammenhang. Oder erklären sie als Ventil für die Kränkung, in der Schule zu den Verlierern zu gehören.

In der Generation meiner Eltern haben die Väter zu ihren Söhnen gesagt: Du hast den Schwanz, du hast das Sagen, und lass dir bloß nichts gefallen. Heute läuft diese ganze Geschichte eher indirekt: Sie wird durch alte türkische Filme oder die Art, wie die Eltern über andere reden, vermittelt. Manche Gewalttäter reden sich auf solche Ehrvorstellungen heraus. Na und? sage ich dann, einer hat zu dir ,Fick deine Mutter!’ gesagt; hast du genug Selbstbewusstsein, um einfach darüberzustehen?

Wir reden die ganze Zeit von der Resozialisierung von Gewalttätern. Aber was ist mit ihren Opfern?

Wir mischen im Anti-Gewalt-Training oft eine Gruppe von Tätern mit einer Gruppe von Opfern – allerdings ohne direkten Bezug zueinander. Da geht es einerseits darum, die Täter selbst spüren zu lassen, wie sich Hilflosigkeit anfühlt. Andererseits werden die Opfer gewürdigt: Du hast Schlimmes erlebt, und bist dennoch auf den Beinen geblieben. Auch da kann Boxtraining helfen. Wer nicht so leicht umfällt, wird weniger gemobbt.

Wenn jugendliche Gewalttäter einen couragierten Mann wie Dominik Brunner totprügeln, bleibt meist eine Frage außen vor: Haben Sie als Anti-Gewalt-Trainer ein Patentrezept, wie man sich als Angegriffener verhält?

Keine Frage: Sich einmischen ist die erste Pflicht. Gleichzeitig sollte man auf jeden Fall vermeiden, die Täter zu beschimpfen oder schulmeisterlich aufzutreten. Erfahrungsgemäß sind es ja gerade die angehäuften Abwertungs-Erfahrungen, die Gewalttäter ausrasten lassen. Da müssen wir uns auch an die eigene Nase fassen: Wie respektvoll gehen wir mit Jugendlichen um? Wichtig ist, auf Augenhöhe mit ihnen zu reden. Wenn ich mit dem Täter einen Kontakt herstellen kann, dann würde ich ihm vielleicht eine Hand auf die Schulter legen – um ihn aus seinem Film zu reißen. ,Halt, kannst du dein Problem nicht mit Worten klären?‘ oder ,Lass das lieber, sonst kommst du noch in Teufels Küche . . .‘ Und wenn das nicht geht, die öffentliche Aufmerksamkeit herstellen.

Mehmet, oder auch Mulis, wurde dennoch rückfällig. Politiker fordern angesichts von Intensivtätern wie ihm eine Verschärfung des Jugendstrafrechts.

Dieselben Politiker sollten einmal darüber nachdenken, ob die Steuergelder nicht besser in Präventionsmaßnahmen angelegt wären. Mit dem Geld, das eine Handvoll Plätze im Jugendknast pro Jahr kosten, könnte man in einer Großstadt wie München flächendeckend mit gefährdeten aber noch nicht straffälliggewordenen Jugendlichen arbeiten. Boxtraining kann keine Erziehung rückgängig machen. Da gehört auch eine Veränderung des Umfelds dazu. Aber oft liefert es Erfolgserlebnisse, die genau dazu führen. Ich musste selbst als junger Mann für drei Monate hinter Gitter – die traumatischste Zeit meines Lebens. Glauben Sie, da kommt ein Jugendlicher gesünder im Kopf raus, als er reingegangen ist?

Wie sieht denn so ein Präventions-Training bei Ihnen aus?

In einem Team von Anti-Gewalt-Trainern und Sozialpädagogen vom Verein Brücke e.V. arbeiten wir in ganz Oberbayern. Demnächst starten wir einen Modellversuch mit Schülern, die uns ein Gymnasium an einem sozialen Brennpunkt in München schickt. Wir begleiten sie jede Woche – ein halbes Jahr lang. In meinem Fall heißt das, dass ich ihnen Boxhandschuhe anziehe . . .

. . . damit sie lernen, ihre Opfer noch besser zu verprügeln?

Das hören wir auch manchmal aus der Boulevardpresse. Dabei wird das Ganze natürlich von Gesprächen begleitet: Was läuft im Boxring anders als auf der Straße? Die Jugendlichen müssen selber draufkommen. Dass hier einer gegen einen boxt, dass es verbindliche Regeln gibt. Und vor allem, dass ich ihnen Gegner von gleicher Größe und gleichem

Gewicht zuteile. Damit packe ich sie meist: Was für eine Ehre hast du, wenn du dir auf der Straße Schwächere suchst?

Es gibt Fitness-Studios, Spielhöllen, Internet . . . Wie kann man Jugendliche überhaupt in heruntergekommene, nach Herrenschweiß riechende Turnhallen locken?

Das Interesse ist gewaltig. Der Nachwuchsarbeit im Boxen mangelt es vielmehr an Sponsoren und öffentlicher Anerkennung. Wir können froh sein, überhaupt noch Trainer zu finden, die ohne einen Euro Bezahlung zehn oder mehr Stunden pro Woche die Jugendlichen betreuen. Und dann müssen wir die Kommune regelrecht um die Bereitstellung von Trainingsräumen anbetteln.

Was schlagen Sie vor?

Wenn wir uns nicht Boxverein, sondern

Integrationsprojekt nennen würden – immerhin holen wir Jugendliche aus 40 verschiedenen Nationalitäten von der Straße – hätten wir wohl bessere Karten. Noch

effektiver wäre, Boxunterricht gleich an die Schulen zu bringen. In Amerika laufen solche Programme bereits.

Es ist wahrscheinlich trotzdem nicht ganz einfach, einem deutschen Politiker den gesellschaftlichen Nutzen Ihres Boxtrainings nahezubringen?

Vielleicht würde ich ihm einfach von den sieben straffälligen Skinheads erzählen, die ich ins Boxtraining aufnahm. Ich hatte anfangs Bedenken: Wie würden sich die Glatzen mit all den Türken, Schwarzen, Russen verstehen? Doch nach dem ersten Training war ich überrascht: Jeder der Skins bestand darauf, auf seinem Handy ein Erinnerungsfoto zu machen. Zusammen mit mir, dem türkischen Trainer. Arm in Arm. Ich hatte sie nach dem Training noch jahrelang am Telefon.

Sie selber müssten es ja eigentlich wissen: Hat das Boxen geholfen, Sie in die deutsche Gesellschaft zu integrieren?

Es hat mir jedenfalls einiges im Leben erleichtert. Etwa bei den Türstehern in Münchner Diskotheken. Sorry, nur für Stammgäste, hieß es immer uns Türken gegenüber. Dann gehörte ich urplötzlich dazu. Deswegen lege ich heute großen Wert darauf, dass es in unserem Boxclub anders als in der Diskothek zugeht. Jeder, egal welche Hautfarbe, welche Herkunft, ist willkommen.

Ali Cukur bringt Jugendlichen nicht nur im Ring Disziplin bei, sondern ermutigt sie auch, das Boxen als Parabel für ihr Leben anzunehmen; so könnte man seine Mission umreißen. Der gelernte Elektrotechniker und Cheftrainer der Box-Abteilung des TSV 1860 München hat einerseits Dutzende Meisterschaftspokale für sich und mit seinen Schülern errungen. Andererseits gehört er zu den ersten Anti-Gewalt-Trainern Deutschlands, die sowohl im Ring als auch im Therapie-Gespräch ausgebildet sind. Seit zehn Jahren arbeitet der türkischstämmige Familienvater im Rahmen von Resozialisierungsmaßnahmen mit gewalttätigen und verhaltensauffälligen Jugendlichen.
Daneben betreut er im Boxtraining seines Vereins einige hundert Jugendliche aus allen gesellschaftlichen Schichten und Migrations-Hintergründen.
SZ 28.5.2011

Stille Autorität: Nailah Porter war einmal eine erfolgreiche Anwältin und Washingtoner Polit-Lobbyistin. Als Jazzsängerin hat sie jetzt ihr hochgelobtes Debüt-Album aufgenommen

Ihre Songs wehen aus einer Welt herüber, in der noch John Coltranes Saxophon, die kosmischen Chants Pharoah Sanders und die politisch aufgeladenen Stimmen von Abbey Lincoln und Nina Simone nachhallen. Darf man also für Nailah Porter die Soul-Jazz-Schublade aufmachen? Sie in die Tradition afroamerikanischer Politbarden stellen? Oder genügt es, mit dem britischen DJ und Musik-Trendsetter Gilles Peterson aus ihren Balladen, die „Jazzstimme des Jahres“ herauszuhören, und eine Überzeugungskraft, der kein noch so verknöcherter Misanthrop widerstehen könne? „Ich mache Musik, die in der Seele wurzelt, aber auf Jazz basiert“, versucht die Mittvierzigerin aus dem kalifornischen Culver City dem Journalisten auf die Sprünge zu helfen – und schiebt ein warmes, kehliges Lachen nach: ihr mit eurem Schubladendenken! Die Plattenindustrie hat in den vergangenen Jahren entdeckt, dass ein junges Gesicht und ein Cocktail aus Softpop und Sexappeal die wichtigsten Zutaten sind, wenn ein gesangsbegabtes Model als neue Jazzdiva gelten soll. Nailah Porter ist dafür zu alt, zu eigensinnig, zu eklektisch. Nein, Nailah Porter würde wohl auch nicht die tausendunderste Version von „Summertime“ einsingen – sie hat ihre eigene Geschichte zu erzählen.

Es ist die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter von zwei Kindern, die tagsüber Gesetzesvorlagen verfasste und Lobbyarbeit auf dem Capitol Hill in Washington betrieb, und abends in Jazz-Clubs ihre eigenen Lieder präsentierte. Nailah Porter findet das keinen allzu großen Widerspruch. Sie spricht lieber darüber, wie Jazz schon immer die Erfahrungen der Afroamerikaner transzendierte. Oder über „die Erinnerung an den Kampf meiner Vorfahren“. „Conjazzness“ (Universal) nennt sich das Debütalbum der schmalen Frau mit der Zöpfchenfrisur. Und wenn diese Paraphrasierung von „Consciousness“ auch ein wenig bemüht wirkt: Nailah Porters aus Folk-Melodien, Soul-Rhythmik und Gesellschaftskritik gespeisten Gesänge fließen mit der stillen Autorität einer Kirchenzeremonie. Sind gesättigt von den Sinneseindrücken ihrer Jugend in Winston Salem, North Carolina, von „baumwollgegerbten Fingern, die mich in die Wangen kneifen“, dem Fußstampfen und den afrikanischen Harmonien des Kirchenchors. Die LA Weekly umschrieb Nailah Porters Gesang treffend als eine „ungeschliffene, aber dennoch seidige Kreuzung aus Sarah Vaughan und Cassandra Wilson“. Ihre Songs sind leise – und schrauben sich doch in die Höhe. Porter hat die Lyrics geschrieben, Melodie und Basslinie vorgegeben. Und dann ihrer Band unter Leitung von Pianist Deron Johnson, freie Hand gelassen.

Zuerst aber musste sich die Juristin selbst von der Leine lassen. Vor einigen Jahren gab Porter ihren gut dotierten Job als Anwältin und Politlobbyistin in Washington auf, wo sie auch an der Verabschiedung von Gesetzen wie der Brady Bill – der Überprüfungen vor jedem Waffenkauf vorsieht –, der Hate Crimes Bill und dem Assault Weapons Ban mitgewirkt hatte. Ermüdet von den endlosen Kompromissen des politischen Geschäfts, entschloss sie sich, „der Schönheit den Vorrang zu geben“. Was das bedeutete? Mehr Zeit für die Kinder und die Musik, aber eben auch Jobs als Schuhverkäuferin und Sekretärin neben Gigs in kleinen Clubs. Bisweilen wurde sie als Backgroundsängerin für Rapper Warren G, für John Cale, Beck oder Nicola Conte engagiert und von Jazzgrößen wie Tom Scott und Jeff Lorber auf die Bühne geholt. Nur Porters eigene Kompositionen blieben unerhört.

Bis Gilles Peterson ihre Songs auf Myspace entdeckte und in die Playlist seiner einflussreichen „Worldwide“-Radiosendung bei der BBC aufnahm. „Ich habe bei ihr viel Freiheit, Hingabe und Leidenschaft gehört“, schwärmte der Hipster-DJ. „Es gibt so viele hübsche junge Mädchen da draußen, die Standards singen. Aber über Nailah Porter zu stolpern, bedeutete für mich, die Goldader im Geröllhaufen zu finden.“

Dass die Sängerin anschließend von Erfolgsproduzent Guy Eckstine unter Vertrag genommen wurde, und Einladungen zu Festivals in aller Welt erhielt, zeigt vor allem, welche Lücke Nailah Porter füllt: Ihre Vorbilder heißen nicht umsonst Abbey Lincoln, Nina Simone, Bill Withers und Gil-Scott-Heron. Und gelegentlichen Flirts mit Smooth Jazz zum Trotz strahlen ihre Songs Persönlichkeit und politische Relevanz aus, sie thematisieren die Katrina-Folgen in New Orleans („Lillies And Birds“) , kommentieren gesellschaftliche Missstände („Jesus Wept“) und erzählen „von der Erfahrung, als ein dunkelhäutigeres Mädchen aufzuwachsen, dem stets vermittelt wurde, dass es seiner afrikanischen Gesichtszüge wegen nicht hübsch genug sei“ („Beautiful Anyway“). Eine Wunde, sagt Porter, „die auch heute noch schmerzt“.

Den tiefsten Eindruck aber hinterlässt ihr Song „Uncle Coo’ Jack“: Er handelt von einem Moment existentiellen Zweifels, als Porter bereit war, den Traum vom Musikerleben in Los Angeles aufzugeben und in ihrer Kinderstube in Winston-Salem Zuflucht suchte.

Onkel Cool Jack habe sie daraufhin zur Seite genommen und von seinem Leben im Süden vor der Bürgerrechtsbewegung erzählt: „Weißt du“, sagte er, „dass ich 45 Jahre alt werden musste, um einem weißen Mann in die Augen schauen zu können? Du hast keine Ahnung von Schmerzen. Also steh auf, und bringe zu Ende, was du angefangen hast!“ Seitdem, sagt Nailah Porter, nütze sie den Schmerz als Kraft. Um Uncle Coo’ Jack und ihrem Vornamen gerecht zu werden: Nailah kommt aus dem Arabischen und bedeutet „eine, die es vollbringt“.
JONATHAN FISCHER
SZ 28.5.2011

Disco Tropical @ Import Export Fr. 3.6.11

Fürchtet Euch nicht! Pharoahe Monch und die Midlife-Crisis im Hip-Hop

Laut, brutal und sexy! Das waren einmal die Vorsätze jedes anständigen Hip-Hoppers, bevor einige Rapper beschlossen, erwachsene Themen in Familienwohnzimmer zu tragen, mit mehrschichtigen Metaphern statt Knall-Bonbons zu werfen, und Midlife-Crisis auf Funk zu reimen oder auch Asthma auf Krieg: So wie Pharoahe Monch auf seinem neuen Album „W.A.R.“ (Duck Down Music). Das Album zeigt den aus Queens stammenden Rapper nicht zufällig mit Atemmaske nebst einem Stapel Inhaliersprays: Krieg heißt hier auch die Konfrontation mit eigenen Unzulänglichkeiten und Gebrechen. „Pardon if it sounds a little weezy / not Wayne motherfucker, it’s I got asthma it’s not easy“. Wann durfte sich Rap je Intimitäten wie den Nahtod- und Erstickungs-Traumata eines asthmatischen Kindes so nähern? Und in den Abgrund der eigenen Ängste blicken? Dass Pharoahe Monch aus solchen Tabubrüchen sein Meisterwerk strickt, hat mit der kommerziellen Krise des

Albums zu tun.

Der von Kollegen und Fans als einer der besten Lyriker des zeitgenössischen Hip-Hop gefeierte Rapper wurde nach seinem weltweit „nur“ 80 000-mal verkauften Album „Desire“ (2007) vom Major Universal geschasst. „Ich musste mich also entscheiden“, sagt Monch: „Kunst oder Teenie-Mucke.“ Für seinen großen Hit „Simon Says“ hatte der ehemalige Kunststudent die Komplexität noch bewusst zurückgefahren. Kompromisse dieser Art hat er als Indie-Rapper jetzt nicht mehr nötig: Geld verdienen lässt sich in diesem Bereich ohnehin nur noch über Auftritte, Alben sind die künstlerische Visitenkarte. Monch vergleicht den Mainstream-Hip-Hop mit einer Fastfood-Kette. Die Liebe der Fans aber gehöre den „kleinen Boutiquen“. Das Album ist dementsprechend voller abstrakter Hochstapeleien wie in „Haile Selassie Karate“, voller Old-School-Beats wie in „Assasins“ mit Jean Grae, und voller Durchhalteparolen wie „Shine“ und „Still Standing“, die Jill Scott und Mela Machinko mit zärtlichem Soul-Gesang untermalen. Eine Baptistenpredigt gibt es natürlich auch, im Gospel-Rap „Let My People Go“.

Wie einst Soulmann Curtis Mayfield versteht es Pharoahe Monch, einen unwiderstehlichen Flow mit einer zutiefst humanistischen Botschaft zu verbinden: „Don’t be afraid to be yourself!“ Dabei kommt er von der persönlichen Desillusion zu den politisch-gesellschaftlichen Leiden Amerikas. Das gelingt ihm besonders effektvoll in dem von Vernon Reids Rock-Gitarre befeuertem Titelsong. Oder in „Clap“ und dem dazugehörigen elfminütigen Video: Cops stürmen darin ein verdächtiges Apartment und töten versehentlich ein Kind. Danach versammelt sich eine stumme Menschenmenge vor dem Haus. Sie klatschen rhythmisch. Clap! Es ist ein sarkastischer Kommentar zur alltäglichen Polizei-Brutalität.

Der Clip kam innerhalb weniger Tage auf 100 000 Youtube-Clicks. „Ein Major Label hätte mir so einen kompromisslosen Film nie durchgehen lassen.“ Monch aber zeigt, dass gutgemachte Politik immer noch mit dem Limousinen-Service zur nächsten Party konkurrieren kann, dass John Coltrane – sein erklärtes Vorbild in Sachen Flow – durchaus neben Lil Wayne sitzen kann, und selbst die Dramen des durchschnittlichen, über dreißigjährigen Hip-Hop-Hörers guten Stoff hergeben.

Auf die Generation Midlife-Crisis zielen auch Atmosphere aus Minneapolis. Ihr Album „The Family Sign“ (Rhymesayers) streift über entspannten, melodischen Beats Themen wie Elternschaft, Partnerglück und unerwiderte Liebe. Besonders stark: „The Last To Say“, in dem der Protagonist die Geschichte eines ehelichen Missbrauchs erzählt.

Ähnlich trickreich zieht der kanadische Rapper Luke Boyd alias Classified die Hörer in seine Familiengeschichten hinein: „Handshakes And Middlefingers“ (Halflife Records) klingt mit poppigen, orchestralen Arrangements erst einmal nach leichter Kost. Bis der Alltag eines Familienvaters Hip-Hop als Startrampe für Superheldenabenteuer dekonstruiert. Und nur noch – wie es Gastrapper Brother Ali vormacht – spirituell gesinnter Aktivismus hilft.

das ist eigentlich die Spezialität des Kanye-West-Schülers, Polit-Rappers und skatenden Intellektuellen Lupe Fiasco. Doch dessen drittes Album „Laser“ (Atlantic) ist eine große Enttäuschung. Lupes Flow wird unter Synthie-Grooves begraben. Sein Nonkonformismus wirkt so glaubwürdig wie ein von 50 Cent geschriebener Soundtrack für Schwangeren-Gymnastik. Wurde der Mann – wie er selbst behauptet – wirklich von Atlantic erpresst? Oder lockten die großen Scheine? Vielleicht sollte er seinen Kumpel Pharoahe Monch anrufen und darüber nachdenken, ob er nicht lieber aufs Geld verzichtet. Wie hatte Pharoahe prophezeit? „Angesichts des Rap-Overkills im Internet werden die originellsten Texter den Unterschied machen. Das ist unsere Chance!“
JONATHAN FISCHER
SZ 26.5.2011

Der Pionier: Kool G Rap rollt den Hip-Hop von hinten auf

Der inzwischen 42-jährige Kool G Rap wird gerne als „Der Lieblingsrapper deines Lieblingsrappers“ beschrieben, was einerseits zeigt, welchen Einfluss dieses aus Queens, New York, stammende Urgestein des Hip-Hop auf nachfolgende Superstars wie Jay-Z, Nas, Notorious B.I.G., Eminem oder RZA ausübte, andererseits aber auch beweist, dass der Pionier der realistischen Straßenreportage lange als Relikt einer goldenen Hip-Hop-Ära galt und unfähig, die Genie-Streiche von einst zu wiederholen. „Riches, Royalties & Respect“ (Fat Beats), Kool G Raps erstes Album seit neun Jahren, widerlegt nun alle Kritiker. Das Album rollt den Hip-Hop von hinten auf und bringt – dank Produzenten wie De La Souls Supa Dave – die ausgefeilte Sound-Ästhetik der frühen neunziger Jahre zurück: zu hören sind also staubtrockene Beats, Moll-Streicher, ein Takt Schweineorgel hier, ein jazziges Vibraphon dort, bisweilen auch eine verzweifelt flehende Soulstimme. Die knisternde Kulisse für den Hauptakt ist Kool G Raps sonore, abgebrühte Raps, die in typisch vielsilbigen, oft ganze Satzteile zusammenziehenden Reimen nicht nur Pulp-Fiction vortragen, sondern auch überraschend melancholische Rückblicke wie „Sad“ oder „Pages Of My Life“, in dem es autobiographisch um eine triste Ghetto-Kindheit geht. Mit den richtigen Produzenten werden Rap-Originale nicht älter, sondern besser!
JONATHAN FISCHER
SZ 25.5.2011

Shout! Ronald Isley wird 70

Schwarzer Pop lebt von seiner ständigen Häutung und Erneuerung. Entsprechend kurz ist die Halbwertzeit seiner Stars bemessen. Wer in den fünfziger Jahren seine ersten Rhythm’n’Blues-Hits feierte, den darf man heute mit ziemlicher Sicherheit – wenn nicht auf dem Friedhof – dann doceeh im Ruhestand oder als Reue-Prediger auf Kirchenkanzeln suchen. Nur Ron Isley wird man kaum in dieser Senioren-Liga finden. Der Leadsänger und Komponist der Isley Brothers bäumt sich auch nach über 50 Jahren Bühnenpräsenz gegen die Gesetzmäßigkeiten seines Genres auf, wirft ein Chart-Album nach dem anderen auf den Markt und zieht bei seinen Konzerten eine HipHop-Crowd, die ihn seit seinem legendären „Low Down“-Video mit R. Kelly in der Rolle als scharf gekleideter Aufreißer und Gangster „Mr. Biggs“ verehrt.

Ronald Isley kam 1941 in Cincinatti zur Welt. Nach den üblichen Gospel-Anfängen in der schwarzen Kirche zog er 1957 mit seinen Brüdern Kelly und Rudy nach New York, um eine Karriere im Show-Business zu verfolgen. Doch nach „Shout“ und „Twist And Shout“ schien die Hitsträhne der Isley Brothers zu versiegen. Erst ein Zwischenspiel bei Motown brachte den Durchbruch: 1966 stieg die Mitklatschnummer „This Old Heart Of Mine“ in die Charts auf. Drei Jahre später wiederbelebten die Isley Brothers ihr Label T-Neck und fanden endlich zu ihrem ureigenen Stil: Zusammen mit den jüngeren Brüdern Marvin, Ernie und Schwager Chris Jasper spannten sie den Bogen von treibendem Funk über Soulballaden bis zu rockigen Gitarrensoli und landeten Hits wie „Summer Breeze“ oder „Fight The Power“.

Nach dem Tod von Kelly Isley und Rudys Spätberufung zum Prediger Ende der achtziger Jahre führte Ronald Isley den Bandnamen fort, nahm ein Solo-Album mit Burt Bacharach auf und wurde von HipHop-Acts wie R. Kelly oder Tupac oft als Sänger für die gefühlvollen Refrains gebucht. Ironie des Schicksals, dass seine Zweitkarriere als „Mr. Biggs“ von einem realen Knastaufenthalt gekrönt wurde.
JONATHAN FISCHER
SZ 21.5.2011

Diese unwiderstehlichen, sündigen Versprechen: Wem der Neo-Soul schon zum Hals heraushängt, der sollte im Reich des Rhythm & Blues tiefer graben. Die Wiederveröffentlichungs-Labels HooDoo und Kent heben weitere Schätze

Indem die Retro-Welle im schwarzen Pop dank Adele, Raphael Saadiq oder Aloe Blacc längst bis in die Mainstream Radios überschwappt und immer neue Bands auf den Soultrain von gestern aufspringen, droht dem Genre eine gewisse Übersättigung. Ja, selbst dem Soulliebhaber können die Motown-Pastiches schon einmal zum Hals heraushängen. Hat man das nicht alles schon mal so oder sehr ähnlich gehört? Die Zeiten, da man nach Soul-Originalen jagen musste wie nach einem scheuen und seltenen Wild sind sowieso längst passe, begraben unter einer Flut von Wiederveröffentlichungen, obskuren Werkschauen, willkürlich geplünderten Archiven. Unzählige Sampler haben sich am großen Funk- und Soul-Steinbruch bedient: Was die frühen Hip-Hop-Discjockeys noch von eifersüchtig behüteten Vinylscheiben abspielten, denen sie zum Schutz vor Nachahmern die Label-Beschriftungen abgewaschen hatten, steht längst fein säuberlich katalogisiert in jedem Kaufhausregal.

Die Avantgarde der Soulsammler und Discjockeys muss tiefer wühlen und abseits der funky Spätsechziger und Frühsiebziger nach den letzten unberührten Schätzen suchen, in denen der schwarze Pop von gestern seiner Wiederentdeckung durch die Trendsetter von morgen harrt. Tatsächlich scheint in der Clubszene gerade nichts hipper als rarer, rumpelnder, rollender Rhythm & Blues, schwarze Tanzmusik ohne Glättung für den Crossover-Markt. All die rohen Blues-Bastarde, die dem geschmeidigeren Soul von Sam Cooke und Jackie Wilson vorangingen und die in den fünfziger und frühen sechziger Jahren in den Ohren weißer Teenager wie ein unwiderstehliches, sündiges Versprechen geklungen haben müssen.

Das Wiederveröffentlichungs-Label Hoodoo Records gräbt genau in dieser Goldmine und holt viele der halbvergessenen Helden von damals mit aufwändig gestalteten Kompilationen in die Gegenwart zurück: Chuck Willis, Bobby Blue Bland, Dee Clark, Ruth Brown, Hank Ballard – um nur einige der bekannteren Namen aufzuzählen. Auch wer glaubt, deren Repertoire bereits zu kennen, findet hier noch das eine oder andere Nugget, das locker den Kauf der ganzen CD rechtfertigt: Etwa Ruth Browns „I Don’t Know“, eine Ballade, die die zwischen Unschuld und Aufsässigkeit oszillierende Stimme der Atlantic-Sängerin in ein auch für einen David-Lynch-Soundtrack taugliches Blues-Arrangement verpackt. Oder die mit ihren Flöten-Riffs und Frauenchören ähnlich verspukt daherkommende Dee-Clark-Nummer „Blues Get Off My Shoulder“. Oder Hank Ballards „Rock Granny Roll“, ein bisher kaum erhältlicher Titel, der zeigt, wie der Leadsänger der Midnighters den rohen, erdigen Sound vorausnahm, der später zum Markenzeichen eines James Brown werden sollte.

Besonders zwei dieser Hoodoo-Alben gehören in die Sammlung jedes feinfühlenden, für ästhetische Zwischentöne empfänglichen Bluesfans: „Little Boy Blue“ von Bobby Blue Bland und „Rockin‘ with The Sheik of the Blues“, eine Chuck-Willis-Kompilation der Okeh- und Atlantic-Aufnahmen aus den fünfziger Jahren. Der Turban tragende Sänger und Songwriter beeindruckt durch Vielseitigkeit: Da sind seine Rock’n’Roll-Glanzlichter wie „C. C. Rider“, ein unwiderstehliches Remake der gleichnamigen Folk-Blues-Nummer, oder das später von Elvis Presley bis Little Milton gecoverte „Feel So Bad“. Doch mindestens so hypnotisierend wie die Uptempo-Rocker à la „Lawdy Miss Mary“ bohren sich seine jazzigen Blues-Fingerschnipper ins Ohr, etwa „Whatcha Gonna Do When Your Baby Leaves You“ – melismatischer Klagegesang, perlende Jazz-Gitarren, ein unwiderstehlicher Schlürf-Rhythmus. In der selben Liga glänzt Bobby Blue Bland mit „You Did Me Wrong“ oder „Wishing Well“, frühen Aufnahmen, in denen Blands grunzender, klagender, falsettierender Bluesgesang von B.B.-King-Gitarren-Riffs und raffinierten Big-Band-Bläsern zum Swingen gebracht wird. Niemals klang der Bluessänger expressiver und selbstbewusster.

Auch die restlichen Nummern entstammen Blands Fünfziger-Jahre-Singles für Duke Records und zeigen, wie der Mann die hohe Kunst des empathischen Schnurrens und Gurrens perfektioniert und sich mit einer phantastischen Combo zum Frank Sinatra des Blues emporknödelt.

Ein weiterer Hoodoo-Sampler „No Buts, No Maybes“ deckt die afrokaribischen Wurzeln des New Orleans Blues auf und versammelt 28 der Aufnahmen, die Professor Longhair zwischen 1949 und 1957 für Plattenfirmen wie Atlantic, Federal und Mercury aufnahm. Henry Roeland Byrd alias Professor Longhair gehörte zu den originellsten und einflussreichsten Musikern einer an Legenden nicht gerade armen Stadt. Der Booklet-Text bringt es auf den Punkt: „Wenn Sie noch nie von ihm gehört haben, wissen Sie nicht so viel, wie Sie sich einbilden.“ Prägte doch der funky, rumba-basierte Pianostil des Professors in Verbindung mit seinen tiefen, wilden Gesängen die kollektive DNA moderner Popmusik. „Einen Guru, Paten und spirituellen Wunderheiler für alle die nach ihm kommen“, nannte Dr. John ihn. Der Song „Tipitina“ allein rechtfertigt diese Aussage. Ein Who Is Who der frühen Rock’n’Roll-Szene von New Orleans begleitet Professor Longhairs durch rollende Boogie-Woogies und karibisch synkopierte Party-Hymnen à la „Mardi Gras in New Orleans“ – extrem originell.

Das darf man auch von der Musik des Gitarristen und Sängers Ray Sharpe behaupten. Die Anthologie „Gonna Let It Go This Time“ (ebenfalls auf Hoodoo Records) zeigt den schwarzen Texaner als Grenzgänger zwischen Rock’n’Roll, Blues und Country. Wer Charlie Feathers und Johnny Cashs Sun-Records-Phase schätzt, den werden auch Sharpes treibende Uptempo-Nummern wie „Monkey’s Uncle“, „Kewpie Doll“ oder „Long John“ auf die Tanzfläche katapultieren. Eine raunzende Bluesgitarre wechselt da mit swingenden Rockabilly-Rhythmen. Hinzu kommen Ray Sharpes offensichtliche Gabe für Wortspiele wie „Silly Dilly Millie“, Begleitmusiker wie Duane Eddy oder Al Casey und ein Produzent namens Lee Hazlewood. Pflichtanschaffung für jeden DJ-Koffer. Ähnlich vielseitig zwischen Country, Blues und Funk bewegt sich die Soulsängerin Etta James. Unter dem Titel „Who’s Blue? Rare Chess Recordings of the 60s and 70s“ haben die englischen Soul-Archivare von Kent Records das Kunststück fertiggebracht, der ausführlich dokumentierten Karriere der Chicago Queen Of Soul noch ein paar neue Seiten abzuringen. Etwa auf raren Single B-Seiten wie dem dramatischen 1967er-Stomper „I’m So Glad“ oder „Fire, einem monströsen Muscle Shoals-Groove nach Art von „Tell Mama“. Dazu gesellen sich bisher nie auf CD erschiene Albumtitel: „Only a Fool“ etwa oder „Take out Some Insurance“, blues-getränkte Funknummern, auf denen James Gospelgesang Aretha Franklin jede nur erdenkliche Konkurrenz macht.

Ihre Kollegen Doris Troy und Jerry Williams alias Swamp Dogg dagegen sind für viele Soulfans immer noch Unbekannte. Ein Glück, dass Kent auch diesen unbesungenen Soul-Titanen großartige Anthologien widmet: „I’ll Do Anything“ reicht von Troys Früh-Sechziger Soulklassikern für Atlantic Records über Northern Soul-Hymnen wie „I’ll Do Anything“ bis zum bluesigen 1996er James Hunter-Duett „Hear Me Calling“. Und warum nur bleibt Swamp Dogg ein ewiger Geheimtipp? Müsste den Mann hinter Southern Soul Meilensteinen von Irma Thomas, Sandra Phillips oder Doris Duke nicht längst eine 10-CD-Box mit Goldschnitt ehren? „It’s All Good – Swamp Dogg: A Singles Collection 1963 bis 1989“ macht schon einmal einen Anfang.

Gut, Jerry Williams alias Swamp Dogg mag nie als Sänger allein überzeugt haben. Doch seine Kompositionen und Arrangements tragen eine originelle Handschrift und einen Witz, der den meisten Retro-Soul-Stars von heute verdammt gut zu Gesicht stehen würde. „The 1965 King Size Nicotin Blues“ oder „Silly, Silly, Silly, Silly Me“. Adele und Co, wo bleiben Eure Coverversionen?
JONATHAN FISCHER
FAZ 14.5.2011

Soul Allnighter 14.5.

Soul Allnighter 14.5. Loft

So klingt die Zukunft des Hip-Hop: Hin und wieder kommt eine Gruppe Halbwüchsiger und erneuert Popkultur von Grund auf, so wie es der Rapper Tyler The Creator und sein Freunde gerade in Los Angeles tun

Eine Kakerlake, ein Schwall Erbrochenes und eine Schlinge für den finalen Abgang: Das sind die Elemente von „Yonkers“ des Rappers Tyler the Creator, des verstörendsten Hip-Hop-Videos der letzten 15 Jahre. Während er frenetisch in die Kamera rappt, krabbelt die Kakerlake über seine Hand, um schließlich in den Mund geschoben, zerkaut, geschluckt und wieder ausgekotzt zu werden. Etwas ist mit ihm da passiert: Seine Pupillen verdunkeln sich, Blut fließt ihm aus der Nase, er legt die Schlinge um den Hals, springt vom Hocker.

Als der 19-jährige Tyler The Creator, Kopf des aus Los Angeles stammenden Rap-Kollektivs Odd Future Wolf Gang Kill Them All, im Februar sein „Yonkers“-Video, zur ersten Vorabsingle seines neuen Albums „Goblins“ (XL Recordings) ins Netz stellte, erntete er nicht nur acht Millionen Klicks in ein paar Wochen, sondern auch eine Schar von Anhängern, die die frohe Botschaft in sämtlichen Hipster-Blogs und Lifestyle-Magazinen verkündeten: Die innovative Zukunft des Hip-Hop kommt von einer Horde Teenager aus Los Angeles. Und sie meinten damit auch die feuchten Handflächen und Adrenalinschübe, die Hip-Hop-Fans seit den dunkel aggressiven Kung-Fu-Mythologien des frühen Wu-Tang-Clans, Eminems Mutterkiller-Fantasien oder den sich in Ghetto Fiction suhlenden NWA Anfang der Neunziger Jahre vermissen mussten. Dabei braucht der ehemalige Filmstudent Tyler The Creator nicht viel: Sein Schwarz-Weiß-Clip funktioniert mit einer einzigen immer wieder ins Unscharfe gleitenden Kameraeinstellung, einem düster rumpelnden Beat und einer autoritären Bass-Stimme.

Eine so elementare grenzüberschreitende Wucht hat Hip-Hop seit seinen rauen Anfängen in der Bronx selten entwickelt. Die zehnköpfige Nachwuchs-Crew aus LA bricht mit all den Gewissheiten des Genres. Ghetto-Realismus war gestern. Das neue Grauen entstammt nicht Pistolenläufen sondern psychopathischer Komik, der Darstellung dysfunktionaler Persönlichkeiten und paranormaler Phänomene. Tyler und seine Odd Future Crew, begeistert sich das führende englische Popmagazin NME, „sind der ultimative Anti-Establishment-Act, der die Welt einreißen und wieder aufbauen will“. Das Magazin hat den jungen Rapper auf dem Cover seiner aktuellen Ausgabe denn auch als neuen Punk-Gott inszeniert: In Prinz Williams Hochzeitskostüm mit schiefer Krone und vulgär-despektierlichem Gesichtsausdruck. Was wir noch erfahren: Dass Sid Vicious auf dem Handy des Rappers klebt. Dass seine „Bande hyperaktiver, angepisster, hormonell aufgeladener Teenager“ ihr Publikum zu „kill people, burn shit, fuck school“-Gesängen animiert. Und OFWGKTA wohl noch heute nichts als eine Gruppe renitenter Skater wäre, die auf den Parkplätzen von West Hollywood abhingen, wenn sie nicht irgendwann Spaß daran gefunden hätten, ihre von Kritikern als frauenfeindlich, homophob, mörderisch, unchristlich oder auch nur Jackass-doof gescholtenen Teenager-Fantasien in Raps zu verpacken, mit satten, verzerrten Basslinien zu unterlegen, und sie in Form von einem Dutzend Singles und drei Alben frei verfügbar ins Internet zu stellen – Tylers Debüt „Bastard“, Earl Sweatshirts „Earl“ und Frank Oceans R’n’B-Mixtape „Nostalgia/Ultra“.

Aber ist reine Provokation schon Zweck und Ende der Odd Future-Geschichte? Woher speist sich das Rebellentum dieser lyrisch talentierten schwarzen Mittelschichts-Kinder? Und wie kann ihre offensichtliche Freude an der sinnfreien Provokation in der Verwertungs-Mühle der Hip-Hop-Industrie überleben? Das alles will man den im März 20 Jahre alt gewordenen Tyler Okunma aka Tyler The Creator fragen.

Der maßgebliche Autor, Video-Dirigent und Grafiker des OFWGKTA-Outputs, der nun für das „Goblins“-Album bei XL Records erstmals bei einer regulären Plattenfirma unterschrieben hat, aber versetzt den Interviewer ganz ungeniert: Lieber noch mal eine Runde mit den Kumpels skaten, bevor er zur ersten Europa-Tournee aufbricht. Bleibt der Blick auf das Studio der Odd-Future-Crew, ein Gartenhaus in einer hübschen Villen-Gegend in Washington-Crenshaw, wo Sydney Bennett alias Syd the Kid, das einzige weibliche Mitglied der Truppe, seit jeher die markerschütternden Beats für ihre rappenden Kumpels zusammenschneidet.

Man wusste es ja schon vorab: Dass Tyler, eigenen Angaben nach Sohn eines nigerianischen Vaters und einer halb-kanadischen Mutter, der bei seiner Großmutter in Inglewood am Rande der Ghettos von South Central aufgewachsen ist, einer ist, der niemandem nachläuft. Der sich gerne mal spontan auf dem Boden wälzt anstatt für seinen Geschmack dämliche Fragen zu beantworten.

Tatsächlich wirkt es erfrischend, wie er systematisch jede Hip-Hop-Etikette untergräbt, herausblökt, was ihm als erstes durch den Kopf schießt, und politische Korrektheits-Regeln genauso ignoriert wie die Dollar-protzenden Selbstdarstellungs-Riten doppelt so alter Rapstars. Am Ende lässt er einen mit der Auskunft zurück, dass er gerne masturbiert, Bücher sammelt, und „außer Ritalin, Albuterol und Predinisone keine Drogen konsumiert“.

Und, ach ja: „Free Earl!“ Der neue Kampfruf der Odd Future-Crew gilt Earl Sweatshirt, Tylers rappendem Halbbruder, der von der Mutter auf ein Internat nach Samoa verbannt wurde, nachdem diese die Vergewaltigungs- und Mordfantasien des 16-jährigen als Youtube-Hit wiederfand. Das „Earl“-Video zeigt den milchgesichtigen Rapper mit seinen Odd Future-Kollegen in einem Friseursalon, beim Skateboard-Fahren und Mischen von Drinks aus Bier, Marihuana und anderen toxischen Substanzen. Am Ende winden sich die berauschten Kids in Gift-Krämpfen, fließt Blut aus Zahnfleisch, Ohren und Brustwarzen – ein Voodoo-Kurzfilm voller Teenage-Angst, dunkler Anspielungen und Exorzismen, der zusammen mit dem Video „French“ die Odd Future-Rapper als virales Internet-Phänomen etablierte und Kollegen wie Flying Lotus, Kanye West, GZA zum Schwärmen brachte.

„Sie präsentieren sich nicht nutzerfreundlich“, erklärte Roots-Schlagzeuger Questlove nachdem er einen Auftritt der Truppe bei der Fernsehshow „Late Night With Jimmy Fallon“ begleitet hatte. „Und genau das hat Hip-Hop die letzten 20 Jahre gefehlt“. Während das Poetry Magazin ihnen eine wohltuende „Abwesenheit moralischer Schwerkraft“ attestierte.

Letztlich scheint auch das Wort Rebell zu blass. Nein, Tyler und seine Odd Future Crew auf „Anti-Helden für abgefuckte Kids rund um die Welt“ (NME) zu beschränken, ihre Zeilen auf die üblichen Teenage-Schocker zu durchforsten würde ihrer künstlerischen Tragweite kaum gerecht. „Warum“, schimpft Tyler, „beschwert sich denn niemand über die ganze Gewalt in den Tarantino-Filmen? Wenn ich einen Song schreibe, dann gehe ich ihn wie ein Buch oder einen Film an. Als verdammtes Kunstwerk.“ Das Gros seiner High School – Jahre verbrachte Tyler nicht umsonst damit, Cartoons anzuschauen, Bilder mit Photoshop zu manipulieren, und Mode für sich und andere zu entwerfen.

Auch Tylers Reime gehen weit über krude Sex-Fantasien hinaus: Sie schillern mit esoterischen Andeutungen und doppeldeutigen Wortspielen, befreien Hip-Hop aus seinem Straßen-Journalisten-Käfig, inszenieren Stil als reine, sinnliche Lust. Ein Prozess, der sich auf kein Produkt festlegen will. Wer weiß schon, welche Haken der rappende Hipster als nächstes schlägt?

„Die Essenz der hippen Sprache“, schreibt John Leland, „liegt nicht in Vokabular oder Syntax, sondern in der Fähigkeit, diese immer wieder neu zu erschaffen.“ Genau dieses Maskenpiel beherrscht Tyler mit seiner Crew – wie vor ihm Miles Davis, Bob Dylan oder Muhammad Ali. Sie unterminieren alle abgesteckten Positionen der Popwelt. In ihrem Chaos lauert jede Menge Potential: Erst recht, wenn Tyler ein Interview mit dem Satz abbricht, er müsse jetzt wieder dringend „Trampolin springen und Comics schauen“.
JONATHAN FISCHER
SZ 5.5.2011