BOOMT: ETHIOJAZZ

Stars wie Kanye West und Nas, aber auch europäische Hip-Hop-Größen wie Freundeskreis und Blumentopf haben Jazz aus Äthiopien schon seit den 90ern mit Samples ins Unterbewusstsein der Massen gepflanzt. Zeit, sich in Addis Abeba mal umzuhören, warum diese Musik nun gerade wieder so einen Lauf hat.

  Henock Temesgen ist eine gute erste Adresse. Der Mann ist 62 Jahre alt, Bassist und leitet als Musikprofessor die Jazz-Fakultät der Universität von Addis. Eine kurze Erklärung hat er nicht, aber er kann einen zumindest auf eine Spur bringen. „Äthiopische Musik hat ein paar Gemeinsamkeiten mit dem modernen Jazz“, sagt er. „Ihre pentatonischen Skalen, die Akkordschichtung im vierten Intervall findet man auch bei John Coltrane und anderen Jazzern. Wir sind wie Verwandte von einem anderen Stern.“

  Temesgen stand schon mit amerikanischen A-Liga-Musikern wie David Sanchez und Wayne Shorter auf der Bühne und spielte mit äthiopischen Legenden wie Mahmoud Ahmed und Aster Aweke. Egal, welchen Club in Addis Abeba man besucht, irgendwann taucht er immer mit seiner Häkelmütze über der Glatze, der schwarzen Hornbrille und dem sanften amerikanischen Akzent auf. Entweder den Bass umgehängt auf der Bühne, oder um seinen Studenten zuzuhören. Der Ethiojazz explodiere gerade, sagt er dann. Er kenne in Europa und den USA vier Dutzend Bands, die sich dem Sound verschreiben. Platten werden auf CDs gepresst. In Addis selbst boomt die Live-Szene. In Clubs und Hotels, aber vor allem im Fendika, einem Kulturzentrum, in dem Temesgen jeden Montag mit seinem Quintett Kaynlab auftritt.

  Hier im Kazanchis-Viertel ist noch ein wenig vom Geist des alten Addis zu spüren. Ziegel- und Wellblechbaracken säumen Straßen voller Schlaglöcher. Kioske verkaufen Kaugummi, Kaffee, koptische Kreuze. Wie ein großes Beduinenzelt wirkt das Fendika von außen, über einem Metalltor der Name in Leuchtschrift. Eine freundliche junge Frau in traditionellem Kostüm begrüßt die Gäste. Es riecht nach Weihrauch und äthiopischem Kaffee. Es ist noch Zeit bis zum Auftritt. Während die Band ihre Instrumente stimmt, wärmen sich Besucher an der Feuerschale neben der Bar die Hände, nippen an Honigbier oder schauen sich eine Ausstellung äthiopischer moderner Maler an.

  Betreiber des Zentrums ist Melaku Belay. Wenn der mit seinem Afro-Haarschnitt mit schwarzer Brille und Hoodie an den Plattentellern sitzt, könnte man auch in Brooklyn, im Marais oder in Friedrichshain am Clubben sein. Die Hipster-Boheme ist international. Er ist aber nicht nur ein Club-Besitzer und DJ. Er bringt eine ganze Tradition in die Zukunft. Dafür hat ihm das US-Ideenfestival TED Conference eine Fellowship gegeben und einen dieser TED Talks halten lassen, mit denen man weltweit viel Aufsehen erregen kann.

  Im Fendika lässt er Volksmusiker aus Äthiopien auftreten und fördert Fusionen mit modernem Jazz und Tanz. Letztlich gehe es ihm um den Geist der Azmari Bets. So heißen die traditionellen Musikläden, in denen Bänkelsänger über Eheprobleme und Politereignisse improvisieren. „Wir hatten vor dem Bauboom in Addis 17 Azmari Bets allein in unserem Viertel“, sagt Belay, „jetzt sind wir als Einzige verblieben.“ Auch das Fendika bekam einen Abrissbescheid. Der Staat wollte das Kulturzentrum zwangsräumen, Platz für neue Hochhäuser schaffen. Doch Belay nutzte seinen Ruhm als Tänzer, TED-Redner und Musikfestival-Organisator, mobilisierte seine Freunde im Westen. Am Ende intervenierte der Bürgermeister von Addis persönlich. Das Fendika bleibt.

  „Das gegenwärtige Revival des Ethiojazz“, sagt Belay, „ist für uns alle ein Wunder.“ Kaum jemand habe geglaubt, dass sich junge Musiker wieder für Traditionsinstrumente wie die Krar-Leier oder die Masinko-Laute interessieren würden. „Viele Äthiopier verwechselten modern mit westlich. Die eigenen Traditionen galten lange als rückständig.“ Er zeigt auf die Poster an seiner Bar. Ankündigungen für Gastspiele westlicher Bands im Fendika. Bob Marleys Sohn Julian Marley und Flea von den Red Hot Chili Peppers traten hier schon auf. Ständig kommen sie aus Europa und Amerika, um mit äthiopischen Musikern zu jammen. Erst durch die Wertschätzung des Westens hätten die Äthiopier den Wert ihrer eigenen Traditionen und Kultur erkannt, sagt Belay. Außerdem seien viele Musiker aus dem Exil zurückgekehrt. Vor allem nach 9/11, als es in Amerika plötzlich nicht mehr so viele Jobs gab für Leute aus Afrika. In den 60ern und 70ern war das noch anders. Da schielten sie in Addis nach London und New York. In den Nachtclubs tanzten Jugendliche in Schlaghosen und Miniröcken zu neuartigen Grooves, zahlreiche Bars und Hotels beschäftigten ihre eigenen Bands. Bis zum Militärcoup von 1974. Haile Mariam Mengistu stürzte die Monarchie, ließ den Kaiser Haile Selassie ermorden, und sein kommunistisches Derg-Regime überzog das Land anschließend 14 Jahre lang mit dem sogenannten „roten Terror“.

  „Es wäre lebensgefährlich gewesen zu bleiben“, sagt Henock Temesgen. Mengistu misstraute den freien Formen des Ethiojazz. „Hunderttausende Äthiopier, darunter viele Musiker, wurden ermordet, kamen ins Gefängnis oder mussten fliehen.“ Temesgen ging ins Exil, schloss sich in Washington, D. C., Ethiojazz-Bands an, spielte am Wochenende auf äthiopischen Familienfeiern und Hochzeiten. Nach einem Studium an der Berklee School of Music in Boston verschlug es ihn nach New York, wo sein Landsmann Mulatu Astatke den Ethiojazz in der Diaspora etabliert hatte.

  Astatke war während seines Musikstudiums in London jungen Ghanaern und Nigerianern begegnet, die stolz eigene Traditionen in ihre Kompositionen einbrachten. Warum sollte das nicht auch mit äthiopischem Folk funktionieren? Nach Begegnungen mit John Coltrane, Duke Ellington und anderen afroamerikanischen Jazzmusikern in New York reifte seine Idee, die beiden Welten zusammenzubringen. „New York“, erzählte Astatke einmal im Interview, „war Mitte der 60er-Jahre ein magischer Ort. Ich spielte dort mit Hugh Masekela aus Südafrika und Fela Kuti aus Nigeria. Wir alle hatten ein gemeinsames Anliegen: Afrika in das moderne Konzept von Jazzmusik einzubringen.“

  Jahrelang pendelte Astatke zwischen Addis und New York. Es ist die Musik dieser goldenen Jahre, die Melaku Belay im Fendika beschwört. Vor dem Auftritt der Band steht sein DJ-Set. Melaku Belay hockt zwischen Plattenkisten und DJ-Pult auf der Bühne, legt mit dem Gestus eines Hohepriesters eine Single auf den Plattenteller. Knistern, Knacken. Die ersten Takte eines Stücks von Alèmayèhu Eshèté. Orgel-Groove, Saxofon, schwermütig klagender Gesang. Er lässt seine Schultern kreisen, immer schneller, vor und zurück. Eskista. Die Ekstase. Funktioniert auch im Sitzen.

  „Unsere Musikkultur geht bis ins 6. Jahrhundert zurück“, sagt Temesgen. Er glaubt, dass der Ethiojazz noch durch viele Entwicklungen gehen wird. Allein, dass sich jedes Jahr an seiner Jazzabteilung mehr als 800 Studenten auf nur 60 Plätze bewerben! Wenn Mulatu Astatke einst Duke Ellington als Ehrengast an den Hof des Kaisers brachte, um der äthiopischen Szene neue musikalische Impulse zu geben, so habe sich die Beziehung heute umgedreht: „Westliche Musiker suchen uns auf, damit wir ihren Sound verjüngen. Das ist das Geheimnis der äthiopischen Skalen: Sie altern nicht. Sie klingen immer nach Zukunft.“

JONATHAN FISCHER

In leicht geänderter Form erschienen in der SZ 7.2.24

Wir feiern gerade die zweite Unabhängigkeit Malis

Hausbesuch in Bamako bei Tiken Jah Fakoly: Der internationale Reggae-Star über die Afrikanisierung seiner Musik, die Vertreibung der Franzosen aus Westafrika, warum die Bevölkerung im Sahel der westlichen Demokratie misstraut, und über die Notwendigkeit sich  gegen die Kolonisierung durch Christentum und Islam zu verteidigen 

„Sie wollen zu Tiken Jah?“ Das reicht dem Taxifahrer als Zielangabe vollkomen. Denn das Heim des Reggae-Stars gilt in Bamako als Ortsmarke, man sagt etwa „hinter Tiken Jah zwei Ampeln und dann nach links“, um die Adresse eines Restaurants oder Hotels anzugeben. 

Das ummauerte Grundstück im Viertel Bako Djocoroni ist denn auch kaum zu verfehlen. Auf dem Parkplatz ein getunter VW-Käfer in den Rasta-Farben Rot Gelb Grün, oder sind es die Farben der malischen Nationalflagge? „Sie stehen eh für dasselbe“, erklärt Tiken Jah Fakoly dann gleich selber. „Grün meint die Natur des Landes,  Gelb das Gold und andere Bodenschätze – und Rot steht für das Blut, das im Kampf um die Unabhängigkeit geflossen ist.“  

Der Handschlag des 1,90 Meter grossen Mannes im Muskelshirt hat die Qualität und Stärke eines Schraubstocks. Sein von einem weissen Bart und langen Zöpfen gerahmtes Gesicht aber strahlt vor Sanftmut.   

Dass Mali gerade in der grössten Krise seiner Geschichte steckt, die Wirtschaft nach dem erzwungenen Abzug der Franzosen und der UNO-Friedenstruppen stagniert, die Arbeitslosenzahlen nochmal gestiegen sind, während Dschihadisten im Zentrum und Norden Malis tödliche Attacken verüben – das alles merkt man den Strassen von Bamako nicht an. Die Männer hocken wie immer in ihren Teekreisen zusammen. Aus den Höfen dringt Gesang. Schulkinder spielen im Staub Fussball, hüpfen um die Wette.

Tiken Jah bittet den Gast, ihm zu folgen. Vorbei an einem Hummer-Jeep und einem Gartenpavillon geht es auf die Dachterrasse seiner Villa. Die Minarette des Viertels haben sich fantastisch gegen den rötlichen Himmel ab. Ein Muezzin singt. Lautes Vogelgezwitscher. Statt auf den in Bamako üblichen Müll und Staub, geht der Blick hier auf die ausladenden Baumkronen – und Solarpaneele. Der Reggae-Sänger, der auf  einem seiner letzten Alben über die globale Erwärmung gesungen hat, zeigt eben auch praktisch Haltung.   

„Unsere friedliche Idee, mit Gott und der Natur im Einklang zu leben,“ sagt Tiken Jah, „ist heute eher in Afrika zu finden als in Jamaika. In Kingston sind die Menschen schon zu sehr amerikanisiert. Ihre Musik und ihr Lebensstil zielen darauf,  das amerikanische Publikum für sich zu gewinnen und möglichst viele Grammys zu gewinnen.“

Tiken Jah hat zwar einige seiner berühmtesten Alben in Jamaika aufgenommen. Doch das sei eine Wallfahrt zur Heimat Bob Marleys und den Helden seiner Jugend gewesen. Inzwischen setzt er selbstbewusst auf Afrika. Die Songs seines neuen Albums „Acoustic“ sind mit lokalen Instrumenten wie Ngoni, Kora, Balafon und Tamani-Trommel aufgenommen: „Der Reggae gehört schon immer zu uns. Es ist Zeit, dass wir aus der Schuljungen-Rolle herauskommen und selbst zu Lehrern werden.“

Gilt das auch für die Politik? Was hält der Rasta-Mann von den Militärputschen, die nicht nur Mali , sondern auch die Nachbarländer Niger und Burkina Faso zuletzt erschüttert haben? Wie passen sie mit seiner Botschaft von Demokratie zusammen? Tiken Jah zündet sich einen Spliff an: „Darum ist der Reggae heute so relevant in Afrika. Die Verhältnisse, über die Bob Marley in den 1970er Jahren sang, die ganzen Bandenkriege und die Gesetzlosigkeit, das entspricht der heutigen Realität vieler afrikanischer Länder.“  

Der Sänger spricht vom Bürgerkrieg, der politischen Verfolgung und den Morddrohungen, die ihn vor zwei Jahrzehnten aus seiner alten Heimat der Elfenbeinküste, nach Bamako vertrieben. Er spricht auch von den Auftrittsverboten in Senegal, wo er korrupte Politiker kritisiert habe. Und davon, dass in Mali, einem Land, in dem Altersdurchschnitt gerade bei 16 Jahren liegt und 70 Prozent der Bevölkerung als Analphabeten gelten, Musik nicht nur eine der wichtigsten Nachrichtenquellen sei, sondern schlichtweg das Sprachrohr der Jugend.

„Schon Bob Marley hat es vorhergesagt:  Eines Tages würde Reggae nach Afrika zurückkehren, sagte er. Und dort würde die Musik ihre wahre Bestimmung finden.“ Tatsächlich hat der afrikanische Reggae seit den 1990er Jahren viel zum Kampf für die Demokratie beigesteuert. Reggae-Sänger wie Tiken Jah haben sich weder von Zensurgesetzen noch der Einschüchterung von Oppositionellen davon abhalten lassen, die Nöte und Hoffnungen der einfachen Menschen zu artikulieren.

Songs wie „Famicratie“ etwa geisseln die wie Familienunternehmen regierten Staaten Westafrikas. Kritik ist nicht selbstverständlich. „Die Griots, unsere althergebrachten Geschichtenerzähler, singen für Geld. Wer bezahlt, dessen Lob wird gesungen. Und es sind natürlich die Reichen und Mächtigen, die die Mittel dafür aufbringen.“  

Obwohl auch er aus einer Griot-Familie stamme, habe er sich nie auf dieses System eingelassen. Tiken Jah lacht, schenkt eine Runde Wasser nach. „Wenn die Leute mich heute sehen, dann erinnern sie sich, dass ich schon vor zwei Jahrzehnten über <Francafrique> und die  kommende Revolte dagegen gesungen habe. Heute sind die Jungen endlich aufgestanden, um die Franzosen aus Mali, Niger und Burkina Faso zu verjagen.“

Nach der Rückeroberung des von Dschihadisten besetzten Nordens Malis durch die französische Armee im Jahre 2012 flatterten noch überall Trikoloren an Taxis und Flusspirogen, schmückten Portraits von François Hollande die Kleinbusse in Bamako. Damals aber verpassten die Franzosen den Moment, um eine echte Partnerschaft mit den westafrikanischen Staaten zu etablieren. Stattdessen setzten sie auf einen überkommenen Paternalismus.

Tiken Jah erinnert an die Malier und Senegalesen, die im ersten und zweiten Weltkrieg für Frankreich gekämpft haben. „Als es dann 1945 die Siegesparade durch Paris gab, liess man aber nur weisse Soldaten teilnehmen: Ihr Schwarzen, wir brauchen euch nicht mehr, hiess es. Und jetzt brauchen wir die Franzosen nicht mehr.“

Sie hätten den Afrikanern immer nur ihre Politik diktiert, hätten Staatsstreiche organisiert, mögliche  Präsidentschaftskandidaten vorab genehmigt. „Im Elysee hat dann jemand gesagt: Ich glaube dieser Kandidat ist besser für Frankreich.“  Selbst wenn sich Mali an die UNO wenden wollte, habe es die Erlaubnis Frankreichs gebraucht. „Wir hingen wie Kleinkinder an Frankreichs Nuckel-Flasche. Nun aber wachen die Menschen auf. Und wollen einmal ihren Kindern erzählen: Wir haben es aus eigener Kraft geschafft“.  

Tatsächlich ist Assimi Goita, der einstige Putschoberst und Übergangspräsidenten für viele Malier so etwas wie eine Messias-Figur. Sein Porträt prangt auf T-Shirts, auf Tassen und Taxis,  während viele Strassenrand-Schneider davon leben, die französische Trikolore zur russischen Flagge umzuschneidern. Denn seit dem Rauswurf der Franzosen,hat man die alten, nach der Unabhängigkeit geknüpften Beziehungen zu Moskau wiederaufgewärmt, frei nach dem Motto: Meines Feindes Feind ist mein Freund.  Russland, das gerade seinen Einfluß in Afrika zielstrebig ausbaut,  nahm dankend an. Lieferte Waffen, militärische Ausbilder und gerade auch einen Frachter mit Weizen.

Nicht dass die Malier viel Ahnung von der russischen Politik hätten. Tiken Jah glaubt,  dass viele seiner Landsleute einfach eine Vorliebe für stärke Männer hegten. „Assimi Goita weiß schon, was zu tun ist“: Das sei so etwas wie das Glaubensbekenntnis der Strasse. Tatsächlich verdankt Goita seine Popularität vor allem dem Kampf gegen die Korruption. Selbst Unternehmer und Politiker mit Verbindungen nach ganz oben sind  zuletzt im Gefängnis gelandet. Tiken Jah schätzt dies als neugewonnene  Souveränität: die „zweite Unabhängigkeit Malis.“ Was nicht bedeute, dass er die Ideen der Miltiärjunta, ihre Repressalien gegen regierungskritische Blogger und Journalisten gutheisst. „Wir wollen Freiheit. Da kann einer wie Putin, der seine Opponenten töten lässt, kein Vorbild sein.“ 

Die Malier seien sehr leidensfähig. Sie warteten im Moment noch ab, ob die Regierung ihre Versprechen einlöse. „Ich sehe selbst, dass meine Mitbürger leiden, dass Schreiner und Schweisser tagsüber untätig vor ihren Geschäften ausharren, weil seit Monaten der Strom ausfällt, und der zuständige Minister nichts tut, ausser die Schuld auf die korrupten Lieferanten zu schieben, die den für die Stromerzeugung benötigten Kraftstoff angeblich entwenden.“  Irgendwann würden die Malier auch dagegen aufstehen, glaubt der Sänger.

Tiken Jahs Fakolys Traum eines unabhängigen Afrikas aber reicht  noch weiter. In vielen seiner Songs kritisiert er die Kolonisierung Afrikas durch Islam und Christentum. Er werde zwar von grossen Marabouts und Religionsanführern immer wieder zu ihren Auftritten eingeladen – aber diese Liebe beruhe nicht auf Gegenseitigkeit. „Muslimische Imame wie auch christliche Prediger reden von Moral, nehmen den Menschen aber im Namen Gottes ihr Geld weg. Sowohl Europäer als auch Araber haben uns mit ihrer Religion versklavt.“

Das reiche bis in die Kultur und Sprache hinein. Immer mehr Malier grüssten mit dem arabischen „Salam aleykum“ statt auf Bamana. Gotteskrieger aus dem 19. Jahrhundert wie Oumar Hadj Tall oder Samy Touré würden offiziell zu Helden erklärt. Aber seien das nicht die ersten Dschihadisten gewesen? Hätten sie nicht Zehntausende von animistischen Bambara ermordet, weil diese sich nicht dem Islam unterwerfen wollten?“

Der 55-jährige Rasta und Panafrikanist lässt zum ersten Mal Wut aufkommen. „La raison musulmane nous a bafoués, la raison chretienne nous a bafoués“, die christliche und islamische Lehre hat uns verachtet. Tiken Jah summt den Refrain seines Songs „Religion“. Welches Afrika schwebt ihm in seinen Träumen vor? „Wir sollten endlich gute Teerstrassen bauen anstatt dieser löchrigen Schlammpisten, wir sollten dafür sorgen, dass wir rund um die Uhr Elektrizität haben. Dass es Trinkwasser für alle gibt. Wir sollten sicherstellen, dass alle Menschen ausreichende medizinische Versorgung erhalten. Dass die Kinder vernünftige Schulen besuchen. Das wäre für mich das Paradies auf Erden.“ Tiken Jah nimmt einen letzten Zug. Drückt den Stummel im Aschenbecher aus. Draussen tönt der Ruf zum Nachtgebet.  

Im Sahel schüren die sozialen Netzwerke die Spirale der Gewalt. Nun kämpfen Influencer gegen den Hass

Religiöse und ethnische Konflikte verursachen in Mali und Niger viel Leid. Eine NGO schult nun lokale Journalisten, Bloggerinnen und Aktivisten, um gegen digitale Hetze und Fake News vorzugehen

Im Sahel herrscht Krieg. Jihadisten und Tuareg-Separatisten kontrollieren einen Grossteil von Mali, aber auch der angrenzenden Länder Niger und Burkina Faso. Bilder von niedergebrannten Dörfern, überfallenen Bussen und massakrierten Zivilisten gehören zu den täglichen Nachrichten. Ebenso die Meldungen über Vergeltungszüge der Armee, die oft Angehörige von Minderheiten treffen.Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen bei dieser Spirale der Gewalt die sozialen Netzwerke: Denn dem Morden geht stets digitale Hetze voraus. Falschnachrichten schüren Vorurteile. Hunderttausendfach geteilte Bilder und Videos suggerieren ihren Zuschauern verzerrte Realitäten. Und zwar von allen Seiten.

Jeder Malier ist täglich mit Fake News konfrontiert: Ein Post kombiniert ein Foto, das Jihadisten auf Motorrädern zeigt, mit Aufnahmen von der Verladung ähnlicher Maschinen in ein französisches Militärflugzeug. Beweis dafür, dass Frankreich die Jihadisten unterstützt? Das würde in die gegenwärtige Paranoia passen: Die Rebellen haben es geschafft, drei Viertel des malischen Territoriums zu erobern gegen eine von Wagner-Söldnern unterstützte malische Armee.

Auf der anderen Seite stehen Russland und chinafreundliche und möglicherweise auch von dort bezahlte Blogger, die alle westlichen Hilfsbemühungen und selbst die Uno-Friedenstruppen als «kolonial» diskreditieren. Pekings und Moskaus Freundschaft wird dagegen als Allheilmittel propagiert. Am nachhaltigsten aber vergiften wohl Posts, die bestimmte Ethnien ohne jeden Beleg anprangern und für Terror und Massaker verantwortlich machen, das Zusammenleben.

Die weltweit tätige Non-Profit-Organisation Search for Common Ground versucht, der digitalen Desinformation entgegenzuwirken. «Die Situation scheint hoffnungslos verfahren», sagt Charline Burton, die Europa-Direktorin. «Doch die Menschen müssen weiterhin Seite an Seite zusammenleben, egal, welcher Ethnie sie angehören.» Dabei gebe es Gemeinsamkeiten, und diese wolle man stärken.

Bei Anschlägen sterben immer wieder Zivilisten

So haben Burton und Search for Common Ground in der malischen Hauptstadt Bamako eine Konferenz unter dem Motto «Digitaler und sozialer Zusammenhalt» ausgerichtet. Geladen sind alle, die die digitale Meinungsbildung in den Bürgerkriegsländern Mali, Niger und Burkina Faso prägen: Journalisten, Blogger, Radio- und TV-Macher. Aber auch Regierungsvertreter sowie Repräsentanten von Frauen-, Männer- und Jugendorganisationen. Es soll dabei nicht um die Gräben gehen. Sondern um eine «geteilte Menschlichkeit», wie Burton sagt.

Das ist nicht immer einfach. Seit die Regierung die Franzosen sowie die Uno-Friedenstruppe zum Abzug gezwungen hat, hat sich die Lage in Mali dramatisch verschlechtert. Die französischen Militärs waren ihrer ehemaligen Kolonie 2012 zu Hilfe gekommen, um die Okkupation des Nordens durch separatistische und islamistische, mit al-Kaida verbündete Gruppen zu beenden. Anschliessend sorgte eine Uno-Mission zumindest für einen relativen Schutz der Zivilbevölkerung.

Nun aber setzt die durch einen Militärcoup an die Macht gekommene Übergangsregierung alle Karten auf russische Berater und Wagner-Söldner. Das scheint nicht nur militärisch bis jetzt kaum zu fruchten. Jedes Jahr vervielfachen sich die Anschläge auf Zivilisten. In ethnisch motivierten Auseinandersetzungen starben bereits Tausende Menschen. Hunderttausende mussten aus ihren Dörfern fliehen.

Workshops für Blogger und Journalisten haben zum Ziel, etwas gegen die Ohnmacht der Bevölkerung zu tun. «Man erzählt uns immer wieder, wie die sozialen Netzwerke für Hasspropaganda genutzt werden», sagt Burton. «Konflikte entwickeln sich von online nach offline, digitale zu physischer Gewalt.» Warum also nicht dort intervenieren, wo sich die Jugendlichen – über die Hälfte der Bevölkerung der Sahelländer ist unter 18 Jahre alt – informieren und austauschen? Und die sozialen Netzwerke für «peace-building», wie es im Englischen heisst, nutzen?

Gewalttätige Konflikte sind überall auf der Welt die primäre Ursache für Leiden und Armut. Eine NGO wie Search for Common Ground sieht sich da in der Pflicht, humanitäre Hilfe zu leisten. Die Arbeit der Organisation wird etwa von der kanadischen und der amerikanischen Regierung, der Europäischen Union und privaten Stiftungen finanziert.

Unterstützung vom Facebook-Konzern Meta

Um das Freund-Feind-Denken zu durchbrechen, wird auf verschiedenen Ebenen gehandelt: Man bietet Mediation an, bildet jugendliche Online-Influencer aus, veranstaltet Fussballspiele oder Theaterstücke.

In Kursen für Fact-Checking lernen Blogger, wie sie Informationen verifizieren können. Sie realisieren, welchen Einfluss sie auf ihre Community haben. An der Konferenz in Bamako nehmen auch Vertreter von Meta teil, dem Mutterkonzern von Facebook, Instagram und Whatsapp. Die Tech-Designer erforschen Wege, um entmenschlichende Inhalte und die Rekrutierung für gewalttätige Gruppen in den sozialen Netzwerken zu unterbinden.

Und wie steht es um den Erfolg, lässt sich dieser überhaupt messen? Das wollen auch die Geldgeber der NGO wissen. Zumal es sich bei den Projekten von Search for Common Ground nicht um Spitäler oder Schulen handelt, wo der Nachweis erfolgreicher Arbeit leichterfällt.

Also erforscht man vor Ort gesellschaftliche Strukturen. Wie polarisiert ist die Bevölkerung? Hält sie die Regierung für legitim? Glaubt man, an der eigenen Situation etwas verändern zu können? So hofft man, besser zu verstehen, wie die Bürger Konflikte lösen, auf deren Dynamik die Regierung keinen Einfluss mehr hat.

Zum Beispiel das Projekt Youth-Talk in Mali. Drei Jahre lang erhalten die Teilnehmer, unter ihnen Jugendliche, Frauen oder Behinderte, Schulungen, um anschliessend in ihren Communitys eigene Jugendklubs zu gründen. Man diskutiert online und offline gesellschaftliche Probleme – und ergreift Massnahmen gegen Fake News.

Anschliessend organisiert die NGO ein Treffen mit Ministern. Diese hören den Jugendlichen zu, was in einem Land, in dem die Alten das Sagen haben, nicht selbstverständlich ist. Aber Hoffnung macht. Denn die digitalisierte und über die sozialen Netzwerke verbundene junge Generation entscheidet langfristig über Krieg und Frieden im Sahel.

JONATHAN FISCHER

NZZ 13.11.2023

DAS  WUNDER VON BAMAKO

Militärputsch, Korruption, Stromausfälle und Wagner-Söldner: Im Westen wird das Bürgerkriegsland „Mali“ gern als Failed State abgeschrieben. Aber vor Ort erlebt man etwas anderes.Stolz auf die neue gewonnene Souveränität, jugendlichen Aufbruchsgeist und jede Menge Improvisationstalent. Ein Theater-Festival in Bamako erzählt davon.

Wer die Stimmung in dem Bürgerkriegsland ausloten will, aus dem die Bundeswehr gerade ihre letzten Soldaten abgezogen hat, der braucht nur mit offenen Augen durch die Straßen Bamakos gehen. Klapprige Mercedes-Kleinbusse, die sogenannten Sotramas, halten an jeder Ecke. Die Schaffner-Jungs klopfen auf die Blechdächer.  Schreien die Route aus. Schieben Frauen in bunten Damast-Kostümen ins überfüllte Wageninnere. Die Sotramas aber sind nicht nur Transportmittel.  In einem Land mit 70 Prozent Analphabeten geben sie so etwas wie die Nachrichtensendung der Straße. Auf vielen prangt das Konterfei des einstigen Putsch-Oberst und Übergangspräsidenten Assimi Goita.  Laut einer Umfrage des Friedrich-Ebert-Institus unterstützt ihn eine überwältigende Mehrheit der malischen Bevölkerung. Auf anderen Sotramas sieht man Bob Marley, Che Guevara,  islamische Prediger oder auch Wladimir Putin. Nach dem Zerwürfnis mit der ehemaligen Kolonialmacht  – Frankreich, so Goita, habe aus dem Elysee heraus die malische Politik zum Nachteil der Afrikaner manipuliert –  ist Moskau zum wichtigsten Verbündeten aufgestiegen.   Russische und malische Wimpel wehen an Bussen und Motorrädern. Obwohl das Land wegen der häufigen Attacken von Dschihadisten für Touristen als „rote Zone“ deklariert ist, eine Energie – und Versorgungskrise die andere jagt, verkündet der Präsident  auf großen Plakatwänden Zuversicht: „Unsere Souveränität ist unantastbar“ und: „Die Widerstandskraft der Malier lässt sich nicht brechen“

Wie diese Widerstandskraft funktioniert – das zeigt das zehntägige Theaterfestival  „Les Praticables“. „Mali ist an einem Wendepunkt seiner Geschichte angelangt“, erklärt Festival-Direktor Lamine Diarra. „Wir Künstler und Schauspieler wollen Teil dieser Wende sein. Sie unter Einbeziehung der Bevölkerung mitgestalten“. Nicht umsonst  nennt sich das Festival. „eine Fabrik der Bürger für ein neues Theater populärer Künste“ . Diarra, ein drahtiger Typ mit  Rastalocken und wachem Gesichtsausdruck, sitzt in seinem spartanisch eingerichteten Büro. Vor der Tür ein Hof unter Mangobäumen – das Open-Air-Theater KumaSo. Einige Schauspieler üben gerade für ihre nächste Performance. Sie werden später unter dem Motto  „Consultations poetiques“ eine Reihe von Tischen entlang der Straße aufstellen, an denen sich Passanten von Schauspielern im Arztkittel Rat und Rezepte für alle Probleme des täglichen Lebens holen können.  „Wir haben uns viel zu lange“, sagt Diarra, „in kolonialen Denkmustern bewegt. Jetzt fangen wir an, unsere eigenen Geschichten zu erzählen“

Wobei:  Theater hatte in Mali schon  immer eine große politische und gesellschaftliche Relevanz. Zum Beispiel das sogenannte Koteba. Dieses traditionelle Schauspiel gibt den Menschen die Möglichkeit, auf satirische Art, Staat und Gesellschaft zu kritisieren. In einem Land in dem die Älteren das sagen haben, das Durchschnittalter aber gerade mal 16 Jahre beträgt (zum Vergleich Deutschland: 45 Jahre) ist das Theaer eine der wenigen Orte, wo man – wie Diarra betont – selbst den Autoritäten die Meinung geigen darf:  „Die Kultur ist in Mali der Treibstoff für Veränderungen. Ohne die Mitwirkung der jungen Künstler kann nichts intelligentes Neues entstehen.“ Während bekannte Blogger und Politaktivisten wegen angeblich despektierlicher Äußerungen im Gefängnis sitzen, Journalisten sich vor heiklen Themen hüten, haben Theater und Kunst immer noch die Freiheit  alles  anzusprechen: Die Nöte der malischen Bevölkerung, aber auch die Aufbruchsstimmung, die das Land erfasst, seitdem die Regierung der von vielen als demütigend und arrogant empfundenen Politik der einstigen Kolonialmacht Frankreich die Stirn bietet.  „Im Theater“, sagt Diarra „wollen wir der gesellschaftlichen Wirklichkeit eine Utopie zur Seite stellen. Nur so lassen sich Wege aus der Krise entwerfen“. 

Die Krise: Sie hat sich mit Corona, dem auf den Militär-Coup folgenden Embargo Frankreichs und der westafrikanischen Staatengemeinschaft CDAO, und dem Wegfall tausender gutbezahlter Jobs durch den erzwungenen Abzug der UNO-Friedenstruppe verschärft. Mali gehörte schon immer zu den ärmsten Ländern der Welt. Doch seit zwei Jahren haben sich die Preise für Lebensmittel, Brennstoff, Baumaterial noch einmal verdoppelt. Die von den Militärs eingesetzte Übergangsregierung ist nach wie vor populär. Das verdankt sie militärischen Erfolgen wie der Befreiung der nördlichen Stadt Kidal aus der Hand der Tuareg-Separatisten, vor allem aber ihrem demonstrativen Durchgreifen  gegen korrupte Prominenz.  Viele der Funktionäre des Vorgänger-Regimes von Präsident Ibrahim Boubacar Keita sitzen deswegen hinter Gittern. Am Alltag aber hat das wenig geändert: Weiterhin halten Polizisten an jeder Straßenecke willkürlich die Hand auf, weiterhin werden Staatsgelder massiv veruntreut.  Eine Konsequenz davon sind die Stromausfälle. Seit September haben sie sich gehäuft, viele Quartiere sind täglich acht oder mehr Stunden nicht ans Netz angeschlossen. Die malischen Elektrizitätswerke schoben die Verantwortung auf die Lieferbetriebe: Die Tanklastwagen würden den bestellten Brennstoff ein zweites mal direkt an die Tankstellen verkaufen. Leiden aber tun vor allem die einfachen Malier:  Statt zu arbeiten und ihr Essen zu verdienen, sind viele der kleinen Schneider, Schweißer und Schreiner,  dazu verdammt, auf Bastmatten vor ihren Geschäften auszuharren, in Erwartung,  dass endlich der Strom wiederkommt.

Auch das Theater spürt die Krise: Wegen seit zwei Jahren ausstehender Gehälter sind sowohl das Konservatorium als auch das Institut National des Arts geschlossen. Man befinde sich im Krieg, so die offizielle Entschuldigung. Nun bietet zumindest das Theaterfestival einige Werkstätten und Fortbildungen für Regisseure und Schauspieler an. „Die Professionalisierung junger Theater“, hatte Diarra erklärt, „gehört schon immer zu unserem Programm.“  Fast genauso wichtig: Bei dem zum achten mal veranstalteten Festival können sich die jungen Malier mit ihren aus Burundi, Kongo, Guinea,  Senegal und der Elfenbeinküste angereisten Kollegen austauschen. Sich panafrikanischer Solidarität versichern. Und voneinander lernen – etwa was das Krisen-Management betrifft.   

Die Malier haben in dieser Beziehung eine große Gelassenheit entwickelt: Wenn  Veranstaltungsorte mal wieder wegen Stromausfall wechseln, die Lichter auf den staubigen, sonst als Fußballterrains genutzten Bühnenflächen wegen eines leergelaufenen Generators plötzlich erlöschen – macht niemand großes Aufhebens. Im Gegenteil :  Die Gäste nutzen die Gelegenheit um sich einer Teerunde anzuschließen. Warten geduldig, mit einem Fleischspießchen oder Maiskolben der lokalen Straßenküchen in der Hand, bis jemand Benzin von der nächsten Tankstelle geholt hat, Licht und PA wieder anspringen. Es ist das Wunder von Bamako: Wie dieses Festival mit geringsten  Mitteln und unter schwierigsten Bedingungen eine maximale künstlerische Sprengkraft entwickelt .

  „Wer will einen Staatsstreich kaufen, heute nur  50 Francs!“ Im Publikum platzierte Schauspieler wandern mit verschwörerischen Minen durch die Ränge. „Alles ist verkäuflich, alles ist verhandelbar, Visa, Gold,das Leben von 500 Millionen Afrikanern“, ruft einer.  „30 Francs für einen Terror-Anschlag, 100 Francs für ein bisschen Kolonialismus“ raunt ein anderer dem weißen Besucher zu:  „Welchen hätten Sie denn gerne: Den französischen, den amerikanischen oder den russischen?“ Als der Generator auf einen Schlag aufällt, verlagern sich die Scherze ins Publikum. Was für ein Mist! Die Kolonialisten haben uns den Strom abgestellt.  Gelächter im Dunkeln.

Das von malischen und kongolesischen Schauspielern inszenierte „Generation B“, ist vordergründig eine Hommage an die Schüler- und Studentenbewegungen Malis in den 70er Jahren, Jugendlichen die trotz Einschüchterung durch Prügel, Haft und Mord  für eine sozialistische Utopie kämpften. Sie hatten die selben Ziele wie vor ihnen Patrice Lumumba, Sekou Touré, Amilcar Cabral oder Thomas Sankara: die  Abnabelung von den ehemaligen Kolonialmächten, eine wirkliche Unabhängigkeit. Ermordet wurden sie alle – sie passten den ehemaligen Kolonialisten nicht ins Konzept. Dabei ist „Generation B“ ganz nahe dran am Diskurs von heute: „Man kann die Zukunft nur gestalten“, sagt die Regisseurin Christiana Tabaro, “wenn man die Vergangenheit kennt“. Ihr kongolesischer Kollege Michael Disanke spricht von einem „Phantom-Schmerz“, den mal heilen wolle. „Wir präsentieren keine Lösungen. Aber wir wollen die richtigen Fragen stellen, dazu beitragen, dass man nicht die selben Fehler zwei mal macht“.

Das Theaterfestival „Les Praticables“ bezieht die gesamte Bevölkerung von Bamakos Marktquartieren Coura und Fleuve mit ein. Marktfrauen essen mit Schauspielern und Gästen. Jugendliche aus dem Viertel animieren die Diskussionen und Tanzabende in der zum provisorischen Treffpunkt  umgestalteten Ruine des einstigen Tanzlokals Tempo. Viele der Vorführungen finden in  Werkstatt-Hinterhöfen und öffentlichen Plätzen statt. Wenn mehrere mit Antilopenmasken kostümierte Tänzer an einer Straßenkreuzung auftauchen, dann bleiben Passanten und Straßenverkäufer stehen, klatschen. Sie  lauschen den Tierfabeln, die der Marionettenmeister Yaya Coulibaly zum Besten gibt, während seine Puppen durch die staubige Arena tanzen. Und dann erst der nächtliche Auftritt der Schwertkämpfer!  „Yazuki Walks“, eine Hommage an die historische Figur eines schwarzen Samurei, lässt ein Dutzend Tänzer mit Lichtschwertern und fernöstlichen Phantasie-Kostümen durch die schwüle malische Nacht wirbeln..

 Westliche Theateretikette ist überflüssig:  Als im Institut Francais junge Laienschauspieler aus dem Viertel  um  Stimmen für ihr jeweiliges Zukunftsprojekt buhlen,  gerät der ganze Saal in Wallung. Freunde und Bekannten im Publikum applaudieren, rufen dazwischen, stellen ungeduldige Fragen, die die Bühnenakteure souverän in ihre Präsentation einbauen.  Einer fordert Geld für sein Viertel, „weil es doch unsere Nachbarschaft ist“. Seine Mitspielerin plädiert fast verzweifelt um eine Investition in den Frieden: „Wenn unsere Brüder im Krieg sterben, können wir dann noch ein schönes Leben führen?“  Dann sind da noch der Rapper, der Geld für sein nächstes – „ganz sichere Sache“ – Hitvideo braucht,  der hyper-patriotische Militärdienst-Freiwillige, und die einfache Haushaltshilfe: „Ich bin nur eine Bonne. Arbeite den ganzen Tag hart. Aber mit euren Stimmen, habe ich, die Ärmste von allen, eine Chance auch mal groß rauszukommen. Das wäre doch nur gerecht, oder?“

Festival-Direktor Lamine Diarra war lange in europäischen Theatern beschäftigt. Nun arbeitet er an der Renaissance urafrikanischer Traditionen. So hat er zur Eröffnung von „Les Praticables“ die Metzger seiner Geburtsstadt Mopti mit ihrer „Parade des Bouchers“ eingeladen: Behängt mit Faszien, Innereien und Gedärmen, die Köpfe unter präparierten Kuhschädeln, defilieren sie durch die Straßen von Bamako. Faszinierend und abstoßend gleichzeitig. Ein folkloristisches Spektakel. Am Abend darauf haben die Marktfrauen des Quartiers freie Hand:  Sie lassen an einer Straßengabelung unter großem Getrommel , lebensgroße , kostümierte Mensch- und Stiergestalten gegen und miteinander tanzen. Später tritt der weltberühmte Kora-Spieler Toumani Diabate, einst ein Kind des Viertels, mit seiner Familienband auf.

„Dieses Festival“ resümiert Sékou Traoré, der 92-jährige Chef du quartier, „bedeutet für uns alles. Es ist eine Begegnungsstätte für Menschen aller Berufe und Herkunft. Und es erlaubt uns, Mali ein positives Image zu verleihen – vergessen wir nicht, dass das Land immer noch als rote Zone klassifiziert ist“. Werden die Menschen hier die Ideen von der Bühne in ihren Alltag tragen? Gelingt es mit Hilfe des Theaters Anstöße für die Gesellschafti von morgen zu geben? Der junge Regisseur Michael Disanka ist überzeugt davon: „Wir Afrikaner warten immer auf einen Retter von außen. Hier aber besinnen wir uns auf unsere eigenen Kräfte, denken wir über ureigene Lösungen nach“.

JONATHAN FISCHER

In gekürzter Fassung erschienen in: Die Welt 10.1.2024

Der Schimmer,der die Welt bedeutet

In Mali ist Damast aus Deutschland ein
gefragter Luxusartikel. Zu Besuch bei Hassan Bathily,
dem größten Importeur Westafrikas

Guten Tag, wie geht es Ihnen?“, begrüßt der malische Geschäftsmann seinen Gast – in akzentfreiem Deutsch. „Wollen Sie ein Glas Wasser?“ Hassan Bathily, ein schmaler Mann in weitem, besticktem Damast-Boubou und Sandalen, greift zum Hörer seines Telefons und wechselt für seine Sekretärin kurz ins Bamana, die Umgangssprache Malis. Aus seinem klimatisierten Büro schaut der Firmenboss auf das Verkehrschaos von Malis Hauptstadt Bamako, wo sich zerbeulte Mercedes-180-Taxis, überfüllte Kleinbusse und ambulante Händler auf den Straßen drängen. Dennoch war es nicht schwer, die Firmenzentrale von Bathily Bazin im Viertel ACI 2000 gleich neben dem „grand marché“ zu finden: Der Stoff-Großhändler? Der Importeur von „bazin riche“, dem Damast der Reichen? Klar, gleich da vorne hinter der modernen Glasfassade.

  Wer in Bathilys Reich eintritt, verlässt den Staub und Lärm, betritt eine traumhaft luxuriöse Parallelwelt: Schaufensterpuppen tragen festliche Boubous und Roben. Dahinter stapeln sich im gut ausgeleuchteten Showroom Stoffballen in den verschiedensten Farben. Weiß, rosa, zartgrün, violett. Damast, gewebt aus extrem dünnen Baumwollgarnen und in raffinierten Webmustern. Erste Qualität, geliefert von Firmen mit Sitz in Vorarlberg, Hamburg oder Augsburg, letztlich alles „made in Germany“. „Bis zu 25 000 CFA, das sind über 35 Euro, kostet der Meter“, erklärt Bathily. „Dabei liegen die Gewinnmargen für uns nur bei zehn bis 15 Prozent.“ Der Preis ist für ein Land, in dem einfache Angestellte gerade mal ein- bis zweihundert Euro im Monat verdienen, enorm. Und dennoch: Bazin oder Damast aus den Fabriken in Aue oder Gera darf in Westafrika auf keiner Hochzeit, keiner Tauf- und Familienfeier fehlen. „Lieber würden die Leute hungern“, erklärt Bathily, „als sich nicht im bestmöglichen Gewand zu präsentieren.“ Dass ausgerechnet Mali, eines der ärmsten Länder der Welt, zum Zentrum des afrikanischen Damast-Handels aufstieg, hat einerseits mit der traditionellen Liebesbeziehung der Malier zu extravaganten Stoffen zu tun. Andererseits aber auch mit Hassan Bathilys Familie. Solange er denken könne, sagt der Kaufmann, sei sie schon im Textilgeschäft. Sein Vater habe 1975 als Pionier Handelsbeziehungen mit der Firma Ertex in Nürnberg aufgebaut. Die Deutschen sollen über die Nachfrage aus Afrika erfreut gewesen sein. Damast? Das erinnerte hierzulande nur noch an Omas Bettwäsche und Tischdecken. In Westafrika aber wurde er zum Hit: „Bazin riche“, so nannte man den Luxusartikel treffenderweise, ein Status-Symbol wie bei uns Armani-Hemden oder handgenähte italienische Schuhe.

  Noch vor wenigen Jahrzehnten hätten sich nur wenige Reiche, vor allem Politiker und Popstars, Bazin geleistet. Die außergewöhnliche Qualität des Damasts, sein Glanz, dieses für ihn typische Knistern und Rascheln, Fachleute nennen es „Knirsch“, aber zog in einer Gesellschaft, in der sich alles um die richtigen Kleider dreht, bald größere Kreise. „Mein Vater hatte damit angefangen, die deutschen Stoffe zu veredeln. Sie durch Klopfen zum Glänzen zu bringen.“ Bathily spricht von einer uralten afrikanischen Textiltechnik. In Bamako kann man sie vor allem hören. So dröhnt aus manchen Handwerkerquartieren Tag und Nacht ein Geklopfe wie handgemachter Techno, erzeugt von den „batteurs“, die unter Strohdächern die aus Deutschland gelieferten Stoffbahnen mit Fünf-Kilo-Holzschwengeln bearbeiten. Bathily seniors Idee brachte dem Bazin den Durchbruch: Denn ohne Schimmer geht hier gar nichts.

  Sein Vater habe Deutschland vor allem durch seine Geschäftsbücher gesehen, sagt der Sohn. Bathily junior aber wollte tiefer eintauchen. Die Deutschen verstehen. Letztlich folgt er damit einer Tradition seiner Kaufmannskaste, der Dyula. Dank ihrer Anpassungsbereitschaft und Mobilität haben diese Händler von der Ethnie der Soninke seit dem 14. Jahrhundert die regionalen Märkte entwickelt und zur friedlichen Ausbreitung des Islam in Westafrika beigetragen. „Alle mit dem Nachnamen Bathily gehören zu den Dyula“, sagt der Stoffkaufmann. „Du findest uns von Burkina Faso bis zur Elfenbeinküste.“ Wie mächtig diese Kaufmannskaste ist, das lässt sich an vielen Hundert Namensschildern von Textilien-, Elektronik- oder Solaranlagen-Geschäften in Bamako ablesen. Bei den Dyula, sagt Bathily herrschten strenge Traditionen: Das Firmenimperium wird vom Vater an den Sohn weitergereicht – und man heiratet nur untereinander, um das Vermögen in der Familie zu halten. Gleichzeitig seien die Dyula immer offen für alles Neue gewesen. Viele von ihnen haben Verbindungen nach Europa und Amerika – und schicken ihre Kinder zum Studieren ins Ausland. Bathily selbst hat ein halbes Jahr lang im Goethe-Institut in Hamburg Deutsch gelernt. Natürlich auf eigene Kosten. Und klar, dass auch mal seine Kinder – er hat zwei Söhne und vier Töchter von zwei Ehefrauen – später einmal im Land Schillers und Goethes studieren sollen.

  Alle zwei Monate reist der Kaufmann zu Damast-Firmen wie Wiese in Augsburg oder Getzner in Vorarlberg. Als Einkäufer. Oder auch Berater. „Die Hersteller laden mich ein, um die neuesten Produkte zu sichten: Passt die Farbe, passt das Material zu den Erwartungen der westafrikanischen Kunden? Was können sie noch verbessern? Auf welche Moden sollen sie reagieren?“ Denn das Geschäft mit dem Damast-Export floriert. Mehr als 90 Prozent der deutschen Produktion gehen nach Westafrika. Hassan Bathily ist stolz auf seinen Status als wichtigster regionaler Großhändler. Kaufleute aus ganz Westafrika beziehen ihre Ware über ihn. „Wollen Sie meine letzten Bestellungen sehen?“ Er holt einen Stapel Papiere aus der Schublade – Rechnungen deutscher Unternehmer, alle im oberen sechsstelligen Euro-Bereich.

  Wobei wir der Frage näher kommen, was Hassan Bathily, abgesehen vom Geschäft, eigentlich an Deutschland so interessiert. Bathily überlegt kurz, und ein Leuchten geht über sein glattes, jugendliches Gesicht: „Alles ist da so ordentlich“, sagt er. „Und die Städte so grün und gepflegt.“ Die Stärken afrikanischer Gesellschaften – ihr Miteinander, ihre Kultur des Feierns – möchte er zwar nicht missen. Trotzdem: Kann man mehr deutsche Sitten nach Bamako importieren als dieser Stoffkaufmann? Er beginne den Tag, erzählt Bathily, am liebsten mit selbst gebackenem deutschen Sauerteigbrot. Dazu liest er eine deutsche Tageszeitung. Am gründlichsten natürlich den Wirtschaftsteil: „Ich schätze deutsche Qualität. Und meine malischen Kunden verstehen, dass es sich lohnt, dafür Geld auszugeben.“ Klar, dass Bathily mehrere Mercedes-Modelle in seiner Garage stehen hat. Nebenbei, sagt er, vertreibe er deutsche Motorenöle. Und das ist noch längst nicht alles. Sein nächstes Projekt sei eine Bäckerei für deutsches Sauerteigbrot und bayerische Brezen in Bamako. Was seiner Familie schmecke, müsse doch auch eine breitere Kundschaft finden. Bathily grinst: „Alles nur eine Frage der Vermarktung.“

  Der Wachstumsmarkt Westafrika fordert die deutschen Hersteller heraus. Inzwischen produzieren sie auch vorgefärbte und bereits gemusterte Stoffe. „Am liebsten würden sie alles gleich fertig liefern“, sagt der Kaufmann. Er habe zwar mit Getzner Ware entwickelt, die man nicht mehr klopfen, sondern nur noch bügeln muss. Aber er erkläre ihnen auch ihre Grenzen. Die Grenzen: Zum einen ist die industrielle Hochglanzbehandlung viel teurer als die Arbeit der Batteurs. Andererseits hängt eine ganze Industrie am Bazin – viele Tausend Familien, die vom Färben und Veredeln der Damast-Rohware leben. „Die afrikanischen Kunden kaufen nichts von der Stange, sie wollen ihre individuellen Muster und Schnitte. Jede Hochzeitsgesellschaft etwa bestellt in den Hinterhof-Färbereien ihre eigenen Designs.“ Deshalb werde das Bazin-Geschäft auch in Zukunft eine deutsch-malische Kooperation bleiben. Ein Tausch von Ideen und Gütern. „So profitieren beide Seiten davon.“

JONATHAN FISCHER

SZ 22.8.2023

DIE WUT IST BERECHTIGT

Die Schriftstellerin Aya Cissoko über strukturellen Rassismus, verweigerte Würde und die Ursachen der aktuellen Ausschreitungen in ihrem Heimatland Frankreich

Aya Cissoko wurde1978 in Frankreich als Tochter malischer Arbeitsmigranten geboren. Sie studierte Politikwissenschaft und wurde 2006 Amateur-Boxweltmeisterin. Als Autorin befasst sie sich seit langem mit dem Spannungsfeld, in dem die Kinder von Migrantenfamilien in Frankreich aufwachsen. Ihr erstes 2011 veröffenlichtes Buch „Danbé“ wurde unter dem Titel „Wohin ich gehe“ verfilmt. 2017 erschien ihr zweites Buch „Ma“. Ebenfalls im Wunderhorn-Verlag veröffentlichte sie 2023 ihre Familiengeschichte „Kein Kind von Nichts und Niemand“. Cissoko lebt und arbeitet in Paris.  

Seit letzte Woche bei einer Verkehrskontrolle im Pariser Vorort Nanterre ein Polizist den 17-jährigen Nahel Merzouk erschoss, wird Frankreich von gewalttätigen Unruhen erschüttert.  Autos brennen, Geschäfte werden zertrümmert, die Polizei liefert sich Straßenschlachten mit Jugendlichen. Sind Sie überrascht von diesem Ausbruch der Gewalt?

Nein, kein bisschen. Viele haben schon lange davor gewarnt und ich selbst habe in meinen Büchern über die fortgesetzte Ungerechtigkeit geschrieben, denen nicht  nicht-weiße Franzosen ausgesetzt sind. Die Wut ist berechtigt. Wir Abkömmlinge von Migranten,egal ob Männer, Frauen, Kinder haben genug von diesem unwürdigen Leben. Sind frustriert von der täglichen institutionellen Gewalt. Das kocht jetzt alles hoch, weil der Staat das Problem totgeschwiegen hat.

Heißt das, dass die Ermordung des 17-jährigen Autofahrers nur eine Wut sichtbar macht, die sich bei den Jugendlichen bereits seit Jahren angesammelt hat?

Ja, die Entfremdung und Enttäuschung hat schon vorher stattgefunden. Wir haben in Frankreich eine ungerechte und hierarchisierte Gesellschaft, von der viele aufgrund gesellschaftlicher, rassischer und ökonomischer Marker von Geburt an ausgeschlossen bleiben.

Offiziell gilt ja immer noch diese speziell französische Spielart des Säkularismus, die behauptet, dass man unabhängig von Religion, Rasse oder Klasse erstmal ein gleichberechtigter französischer Bürger ist…

Der Staat und die Schulen propagieren ein Ideal des Universalismus, der aber an der Wirklichkeit längst gescheitert ist.

Wollten Sie deshalb als Kind lieber eine Weiße sein, wie sie in Ihrer Familiengeschichte „Kein Kind von Nichts und Niemand“ schreiben?

Ein Kind kann viele Dinge noch nicht verbalisieren. Aber ich habe schon in jungem Alter gespürt, dass die Behandlung von Schwarzen und Weissen nicht die selbe ist. Und natürlich wollte ich zur stärkeren, respektierteren Gruppe gehören.        

Gleichzeitig, schreiben Sie, hätten Sie sich als Kind für Ihre aus Mali eingewanderte Mutter geschämt. Warum?

Die Helden, die uns im Alltag und in der Schule vorgesetzt wurden, hatten nicht unsere Abstammung, nicht unsere Hautfarbe. Wie konnte ich überhaupt jemand sein, wenn ich nicht reich, wichtig und mächtig war? Meine Mutter aber war schwarz und arm. Das heißt sie blieb in der französischen Gesellschaft so gut wie unsichtbar. Erst als ich älter wurde, erkannte ich über welche Kraft sie verfügte. Dass sie und mein Vater sehr wohl Helden waren. In der griechischen Mythologie ziehen die Helden aus ihrer Heimat fort, gehen dem Unbekannten entgegen und setzen sich ungeheuren Gefahren aus. Genau das haben meine Eltern getan: In einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht kannten, in einer Gesellschaft, die sie systemisch benachteiligte, ihnen nur schlecht entlohnte Arbeit und eine prekäre Existenz  zugestand, trotzdem zu bestehen und uns Kinder großzuziehen.   Deshalb habe ich drei Bücher über meine Familie geschrieben. Um die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel zu erzählen. Um die verkannte Würde meiner Eltern anzuerkennen.

Immerhin haben Sie es geschafft zu studieren, sind als Box-Sportlerin und Buch-Autorin international bekannt. Heißt das nicht, dass sich mit dem nötigen Ehrgeiz doch Wege aus der Misere öffnen?

Ich habe mit dem Boxen vor allem angefangen, um nicht durchzudrehen. Die Schläge, die ich sonst im Leben einstecke, im Ring zu parieren, und zurück zu schlagen. Aber diese Phrase, dass man alles erreichen kann wenn man nur will, bleibt ein Märchen. Ich bin im 20sten Arrondissement, einem armen Viertel von Paris aufgewachsen. Menschen, die dort und anderen Immigranten Vierteln oder auch den Banlieues leben, haben sich ihr Leben nicht ausgesucht: Nicht die prekäre Wohnsituation in der sie aufwachsen, nicht die Schulen, die sie besuchen dürfen, und nicht die Arbeit, die man sie machen lässt. 

Sie schreiben von einem gelegten Wohnungsbrand, die fünf Menschen, darunter ihren Vater und ihre Schwester töteten. Ihre Mutter musste danach  zehn Jahre vor Gericht kämpfen, um als Opfer dieser kriminellen Brandstiftung anerkannt zu werden.

Dieser Kampf meiner Mutter hat mir das Ausmaß institutioneller Gewalt gezeigt, der wir Nicht-Weiße unterworfen sind. Es ist die gleiche Gewalt, die heute die Wut der jungen Menschen befeuert. .

Sie besuchen ja auch häufig für Lesungen Schulen, in denen vor allem Jugendliche mit migrantischem Hintergrund unterrichtet werden:  Sehen Sie Fortschritte bei der Inklusion seit ihrer eigenen Schulzeit?

Nein, im Gegenteil. Die Schulen in Frankreich sind heute segregierter als je zuvor. Die Regierung von Nicolas Sarkozy hatte die Wirtschaft aber auch das Bildungssystem liberalisiert.  Die Verlierer dieser Liberalisierung sind die staatlichen Schulen und Bildungs-Institutionen. Dort bleiben die Armen und Nicht-Weißen unter sich.  Diejenigen Eltern aber, die sich im französischen Schulsystem auskennen  und die über die notwendigen Mittel verfügen schicken ihren Nachwuchs an die sogenannten besseren Schulen.

Wollten Sie mit Ihrem Buch „Kein Kind von Nichts und Niemand“  die Öffentlichkeit über die Verhältnisse in Frankreich aufrütteln?

Das Buch ist offensichtlich als Brief an meine Tochter geschrieben. Aber es adressiert letztlich alle Leser: Seht, wie willkürlich über unser Leben bestimmt wird.  Seht all die Kämpfe, die wir führen müssen, um nicht unsere Menschenwürde zu verlieren. Uns bleibt nichts als unsere Wut. Niemand soll glauben, dass die Jugendlichen die Unruhen als Spiel betrachten. Vielmehr geht es um so elementare Dinge wie Leben und Tod, um Würde und Menschlichkeit. Darum dass sie nicht mehr Angst haben müssen,  von einer Polizeiwaffe getötet zu werden. Denn das ist kein Einzelfall gewesen.

Aber diese Zerstörungswut, all die brennenden Autos und zerschlagenen Fensterscheiben werden doch den Graben zwischen den Jugendlichen,  den Ordnungsorganen und der Restgesellschaft doch nur noch vertiefen, oder?

Eingeschlagene Scheiben und demolierte Geschäfte kann man reparieren. Das ist nur materieller Schaden. Aber die Leben der Verstorbenen nicht. Schon in den 80er Jahren gab es  den „Marche pour la egalité“, den Protestmarsch für die Würde nichtweißer Franzosen – und nichts ist passiert. Wenn man will, dass die Gewalt aufhört, muss man sich die darunter liegenden Probleme endlich zu Herzen nehmen. Konkret heißt das: Es reicht nicht, die Polizei zu reformieren. Man muss die Strukturen,die die Ungleichheit in  unserer Gesellschaft festschreiben, die uns unsere Würde rauben, reformieren.

Siebezeichnen die Wirkungsweise der französischen Polizei als Fortschreibung der Kolonialpolitik. Wie meinen Sie das?

Menschen nicht-weißer Hautfarbe werden von ihnen dauernd kontrolliert. Und wenn Sie wissen wollen, was die Polizei denkt, lesen Sie eine Presseerklärung, die zwei Polizeigewerkschaften gerade veröffentlicht haben. Darin werden die jungen Männer, die auf der Straße protestieren, nicht als Menschen sondern als „nuisibles“, als Schädlinge , bezeichnet. Und ein harter, gnadenloser Einsatz – also letztlich ihre Vernichtung – gefordert.

Haben Sie das selbst so erlebt?

Ich bekomme das als Frau weniger ab, da sich die Polizeigewalt hauptsächlich gegen junge Männer richtet. Sie werden nicht als Bürger, sondern eher wie Feinde behandelt. Dazu passt es, dass in Meinungsumfragen fast drei Viertel der Polizisten sich als Sympathisanten der Front National, also einer rechtsextremen und rassistischen Partei bezeichnen. Viele von ihnen haben sich sogar Nazi-Embleme tätowieren lassen. Wir weisen schon seit Jahrzehnten auf das Problem hin: Dass sich viele Polizisten gerade in den armen und Einwanderer-Quartieren wie Besatzer benehmen. Um die dort lebenden nicht-weißen jungen Männer zu unterwerfen. Ich habe zwei junge Neffen – und ich habe jeden Tag Angst um sie. 

In den Medien werden vor allem die dramatischen Gewaltszenen  gezeigt – und weniger die dahinterstehenden Missstände diskutiert. Erleben Sie das auch so?

Ich kann es gar nicht oft genug wiederholen: Es geht hier nicht um Randale, sondern um die Egalité, die Gleichheit, die ja seit der französischen Revolution zu den Eckpfeilern unserer Republik erklärt wurde. Egalité, das heißt ein Leben in Würde für alle. Das ist nicht verhandelbar. Auf den Demonstrationen höre ich immer wieder eine Parole, die es auf den Punkt bringt:  Pas de justice, pas de paix. Keine Gerechtigkeit, kein Friede. 

Interview: JONATHAN FISCHER

Im Rhythmus des schwarzen Atlantik

Die experimentierfreudigen Enkel von Cesaria Evora: Zwischen Morna, Tabanka, HipHop und Afrobeats kämpft eine junge selbstbewusste Generation um internationale Sichtbarkeit

Hélio Batalha ist ein hünenhafter Rapper, von den Schultern bis zu den Waden tätowiert. Wie ein Prophet blickt er über seine Stadt Ponte de Agua, wo sich Häuschen bis zum Hang hinauf stapeln. Die hübscheren sind bonbonfarben gestrichen. Der Rest befindet sich – grauer Beton, dunkle Fensterhöhlen – zwischen Rohbau und Verfall. Im Hintergrund schimmert bläulich der Atlantik, der die Kapverden mit Afrika, Europa und Amerika verbindet.

In den Hinterhöfen, über schmale steile Fusswege gespannt, hängen bunte Wäscheleinen. Akkordeonklänge, mit modernen Elektro-Beats unterfüttert, flirren aus einer Bar. Es wirkt alles pittoresk und faszinierend. Trotzdem verirren sich kaum Touristen hierher. Zu arm ist die Gegend, zu heruntergekommen. Und zu gefährlich. Auch die Hunde, die zwischen dem Bauschutt, Skeletten alter Autos und Kühlschränken nach etwas Essbarem schnüffeln, wirken mager und verwahrlost. «Sodade» liegt in der Luft. Wo, wenn nicht hier, lernt man die bittersüsse Traurigkeit zu begreifen, die der kapverdischen Musik seit je innewohnt?

Hip-Hop als Selbsthilfe

«Wer keine reiche Familie hinter sich hat», sagt Hélio Batalha, «kann leicht auf dumme Ideen kommen.» Der Rapper spricht von Prostitution, Alkohol, Drogenhandel. Tatsächlich gilt die Inselgruppe inzwischen als einer der Hauptumschlagsorte im Kokaintransfer zwischen Südamerika und Europa. Wenn Batalha sein Viertel, sein Land, seine Leute erklärt, spürt man eine grosse Zärtlichkeit. Als ob es nur das richtige Wort, die richtige Ansprache brauche, um diese ganze Insel aus ihrem Dornröschenschlaf zu reissen. Der Mann ist Sozialarbeiter. Die Ausbildung habe ihm geholfen, die Probleme der Gesellschaft zu begreifen – und Hip-Hop als Hilfe zur Selbsthilfe zu verstehen.

Autos, Frauen, Party-Hedonismus? Diese Klischees gibt es kaum in Batalhas Hip-Hop-Videos. Stattdessen beschwört er mit Songs wie «Dexam Bua», «Rabidanti» oder «Nha Rap é Bensom» die Gemeinschaft. Und Millionen von Klicks beweisen, dass er damit einen Nerv trifft. Batalha setzt aber nicht nur auf Musik. Er hat vor fünf Jahren auch ein Basketballprojekt für unterprivilegierte Viertel gestartet und seiner Nachbarschaft eine Schulbibliothek gestiftet.

Hélio Batalha steht für eine ganze Generation junger Musiker der Kapverden. Sie bedienen sich einerseits ihrer Traditionen, der afrikanischen Rhythmen von Tabanka und Funaná und vor allem der traurigen Klänge der Morna, einer Art kapverdischen Fados. Andrerseits lassen sie in ihre Songs auch Musik aus der grossen, weiten Welt einfliessen: Hip-Hop, Afrobeats, Jazz.

In Ponte da Agua klatscht Batalha an so gut wie jeder Ecke jemanden ab. Sind das alles seine Freunde: der Barmann, die Kartenspieler am Ecktisch, die Strassenfriseurin, die ihrer Kundin gerade Verlängerungen einflicht? Ein kleines Mädchen bittet schüchtern um ein Selfie. Und schliesslich müssen wir bei seiner Mutter vorbeischauen. Ihr sorgenvolles Gesicht ebenso wie die Gassen um das Haus: Der Sohn hat sie in seinen Video-Clips verewigt.

«Mein Gott, diese Stromrechnungen, die er mir beschert hat», sagt die kleine Frau lachend und posiert mit dem Sohn vor dem Hausaltar mit Heiligenfiguren, Blumen und Opfergaben. Tag und Nacht habe er Musik produziert. Wie könne man da jemals schlafen? «Benimm dich anständig», ruft sie ihm zum Abschied hinterher.

Die kapverdische Kultur ist ein kreolischer Mix, der so vielfältig schillert wie der Genpool seiner Bevölkerung. Erst 1975 entliess Portugal die Inseln aus der Kolonialherrschaft – nachdem die revolutionäre Bewegung von Amílcar Cabral jahrelang für die Unabhängigkeit sowohl der Kapverden als auch von Guinea-Bissau gekämpft hatte. Als Schifffahrt-Knotenpunkt im Atlantik mögen die Inseln heute ihre Bedeutung verloren haben. Kulturell aber zählen sie zu den Global Players.

Der britische Soziologe Paul Gilroy hatte einst den Begriff «Black Atlantic» geprägt, als einen Kulturraum, der Afrika und seine Diaspora in kreativem Austausch vereine. Hatten die Portugiesen den frenetischen, von Akkordeon, Reibeisen geprägten Funaná wegen seiner subversiven «double entendres» (Doppeldeutigkeiten) noch verboten, explodierte die Musikszene nach der Unabhängigkeit. Bands wie Bulimundo elektrifizierten den Funaná und tourten um die Welt.

Für den Durchbruch der kapverdischen Musik aber sorgte Cesária Évora. Die stets barfüssig auftretende Sängerin machte aus dem melancholisch-süffigen Morna einen Exportschlager. Angesichts des Fehlens von Bodenschätzen in der kargen, vulkanischen Landschaft erwies sich das als Glücksfall. Viele Touristen kommen bis heute, weil sie sich mit den Sehnsuchts-Songs der 2011 mit einem Staatsbegräbnis geehrten Évora infiziert haben. Was läge da näher, als in die junge Musikszene des Landes zu investieren, um sie für den internationalen Markt zu rüsten?

Das afrikanische Erbe

Gleich um die Ecke steht sein Name auf eine Mauer geschmiert: Hélio Batalha. Aber er feiert sich selbst nicht als Held. «Immortal», der letzte Hit, zeigt den Rapper in Ketten gelegt, als flüchtigen Sklaven, eingefangen und aufgeknüpft. «Unser afrikanisches Erbe ist unsterblich», predigt er dazu in seinen Lyrics. «Wir dürfen das niemals vergessen.»

Das afrikanische Erbe! Es ist auf den Kapverden – rund fünfhundert Kilometer sind sie von der senegalesischen Küste entfernt – überall zu spüren. Erst mit dem Sklavenhandel wurden die zehn Inseln im 15. Jahrhundert besiedelt. Als Zwischenstation auf dem Weg nach Amerika verschleppten die Sklavenhändler Afrikaner verschiedenster Ethnien hierher. Diese brachten wiederum verschiedenste Rhythmen und Gesänge mit.

Das ist tatsächlich das erklärte Ziel der Atlantic Music Expo. Die 2013 von kapverdischen Musikern und ihren Managern ins Leben gerufene Musikmesse in der kapverdischen Hauptstadt Praia ist das Schaufenster der heimischen Szene. «Die Kapverden», sagt der Mitbegründer und Direktor Augusto da Veiga, ein untersetzter Typ mit Macherattitüde, «liegen mitten im Atlantik, haben Verbindungen nach Afrika, Brasilien, Portugal, Nordamerika. Warum nicht diesen Standortvorteil ausnutzen, um Musiker, Journalisten, Label- und Festivalagenten aus den umliegenden Kontinenten zu uns zu bringen?»

Letztlich gehe es an der Messe um bessere Exportchancen für die kapverdischen Musikerinnen und Musiker. Neben den jungen und bereits erfolgreichen Sängerinnen Mayra Andrade oder Elida Almeida, gerne als Évoras Nachfolgerinnen gehandelt, gäbe es noch viel zu entdecken.

Bei allen Diskussionen und Workshops über Nachfrage und Exportchancen aber erweist sich die Atlantic Music Expo vor allem als ein musikalisches Volksfest. Rund zwei Dutzend heimische Stars treten neben internationalen Besuchern aus Angola oder Brasilien auf den Bühnen der Innenstadt auf. Man bekommt Gänsehaut, wenn die junge kapverdische Sängerin Bertânia Almeida die Morna wie ein intimes Glaubensbekenntnis intoniert. Oder wenn der aus dem französischen Exil angereiste Carlos G Lopes die schmerzliche Sehnsucht nach der alten Heimat im lässigen Hüftschwung zu Soul und Salsa bis in die Ekstase treibt.

Und noch eine Offenbarung: Zul Alves, eine feenhafte Erscheinung mit gewaltigem Afro, bringt mit samtenen Gesängen und einem Tausend-Watt-Lächeln die verschiedensten Genres zusammen. Sambaartig aufgekratzte Coladeira-Klänge lässt sie mit spielerischer Leichtigkeit in zeitgenössische Pop-Rhythmen einfliessen. Man hört ihr an, dass sie die kapverdische Morna ebenso liebt wie den modernen R’n’B einer Alicia Keys.

«Wir sind ein kreolisches Volk, wir haben immer Einflüsse von aussen aufgegriffen, um sie uns anzueignen», erklärt Zul Alves nach ihrem Auftritt in gebrochenem Englisch. Hauptberuflich arbeitet sie als Biologin. Zwei Jahre hat sie im Studio an ihrem Album gearbeitet, an der Fusion von Alt und Neu gefeilt, um sie nun endlich einem internationalen Publikum zu präsentieren. «Ich hoffe, dass sich durch die Atlantic Music Expo der Markt demokratisiert», sagt sie. «Denn nur wenige von uns sind in der Lage, zu den grossen, internationalen Musikmessen zu reisen.»

Wobei: Sollte Zul Alves gross herauskommen, wäre Emigration für sie schon ein Thema. Wegen der besseren Chancen im Ausland. «Hier richtet zwar jede kleine Gemeinde ein jährliches Festival für ihren Namenspatron oder die Kirchenheiligen aus. Aber in Übersee bekommst du bessere Gagen. Und du kannst am Crossover arbeiten.» Einmal über die kapverdische Diaspora hinauszureichen, womöglich die Bühne mit den Alicia Keys der Pop-Welt zu teilen – das ist Luz Alves’ grosser Traum.

Zwei Drittel der 1,5 Millionen Kapverdier leben heute bereits im Ausland. Vor allem die Jungen – 55 Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt – zieht es nach Portugal, Frankreich, Amerika. Kein Wunder, denn die Insellage beschränkt das Arbeitsangebot und bremst Karrierewünsche. Aber nicht alle folgen dem Zug: «Ich kann mir ein Leben ausserhalb der Kapverden nicht vorstellen», sagt etwa Solange Cesarovna. Sie brauche die Kultur, das Essen, die Musik und das Ambiente der Inseln, um ihre Musik zu spüren.

Musik stiftet Identität

Die blondierte junge Frau – Hosenanzug, mädchenhaftes Lächeln – sitzt auf der Terrasse der Casa da Cultura, eines schmucken Kolonialbaus und Künstlertreffpunkts im Herzen Praias. «Als Morna-Sängerin trete ich über Leidenschaft und Liebe, wie auch Trauer und Schmerz mit anderen Menschen in Verbindung.» Morna sei für sie eine Art Soul. Diese Musik stifte Identität und verbinde Kapverdier mit der Diaspora auf der ganzen Welt. «Aber selbst wenn du die Worte nicht verstehst, kannst du im Sound schwimmen und ihn wie die Wellen des Meeres umarmen.»

Ob sie sich nicht trotzdem manchmal ein Leben in Paris statt in Praia wünsche? Cesarovna schüttelt ihren Lockenkopf: Selbst Madonna sei doch ihres 2019er Albums «Madame X» wegen hierhergekommen, habe mit einer Gruppe kapverdischer Batuque-Sängerinnen den Call-and-Response-Song «Batuke» aufgenommen. Was, nebenbei gesagt, auch die beste Nummer des Albums gewesen sei.

Cesarovna kann davon schwärmen, wie sie als Kind jedes Wochenende mit ihren Eltern – beide Sänger und Songwriter – musiziert habe. Oder wie Cesária Évora oft zu Besuch gekommen sei. Damals, als sie noch für Trinkgelder in den Bars ihrer Heimat Mindelo auftrat.

«Cesária hat mich immer ermutigt: Du hast eine Stimme. Du solltest unbedingt auf die Bühne gehen!» Cesarovna nahm aber nicht nur ein paar phantastische Morna-Alben auf. Sie kämpfte auch für die Anerkennung ihrer Kultur. Nach einer ausgiebigen Werbetournee erreichte sie, dass die Morna seit 2019 von der Unesco als Weltkulturerbe anerkannt wird.

Als Präsidentin der von ihr gegründeten Copyright-Gesellschaft Sociedade Cabo Verdiana de Música lässt sie überdies regelmässige Checks in die unglamourösen Viertel von Praia oder Mindelos verschicken. «Viele unserer bekanntesten Songwriter sind mangels legaler Absicherung verarmt gestorben. Wir wollen sicherstellen, dass die Musiker und Autoren meiner Heimat endlich bezahlt werden.» Bisher verdienten Musiker auf den Kapverden ihr Geld vor allem mit Live-Auftritten. Nun ermöglicht es die neue kapverdische Urheberrechtsgesellschaft, dass Tantiemen von Radio, Fernsehen und öffentlichen Aufführungen eingefordert werden können.

Emotion statt Konfrontation

Samstagabend auf dem Pracinha Escola Grande, einem grossen Platz im Zentrum Praias: Thairo Kosta hat ein Heimspiel. Eigentlich ist der junge Rapper und Sänger vor acht Jahren an die amerikanische Ostküste ausgewandert, aber was sind schon ein paar tausend Kilometer Atlantik gegen eine gemeinsame Herkunft? Ein auf Akkordeon getuntes Keyboard, ein Morna-Sample, und die sechsköpfige Live-Band hat die Menge im Griff. Junge Männer in ärmellosen Shirts, Mädchen in bunten Röcken und ihre Mütter lassen die Hände in die Luft schnellen. Alle singen die Refrains mit.

Kostas Bühnenkleidung weist ihn als Patrioten aus: Die wollene Bommelmütze symbolisiert als «Chapeau Amílcar Cabral» die revolutionären Ideen des einstigen Freiheitskämpfers. Dazu trägt er einen Mantel aus bunten Flicken. «Die Farben», wird er später erklären, «stehen für das Patchwork verschiedener Kulturen. Wir sind ein Vorbild dafür, dass verschiedene Kulturen miteinander auskommen können.»

Auch Hélio Batalha gibt ein Gastspiel auf Kostas jüngstem, selbst verlegtem Album «Nha Kasa». Es ist eine Liebeserklärung an die eigene Geschichte. Oft summt er nur, statt zu singen, etwa wenn er die Finasson genannten Widerstandsgesänge intoniert. «Oft hatten die Sklaven ein Seil im Mund. Sie sollten nicht miteinander sprechen. Stattdessen summten sie zusammen, auf diese Weise spürten sie ihre gemeinschaftliche Kraft! Und niemand konnte das verhindern!»

Junge Hip-Hop-Stars wie Thairo Kosta oder Hélio Batalha setzen weniger auf Konfrontation denn auf Emotionen. Sie erzählen Geschichten von Selbstwert und Rückbesinnung. Die Kolonialisten hätten gründliche Arbeit geleistet, sagt Hélio Batalha. «Sie haben uns unsere afrikanischen Kleider, unsere afrikanischen Gebräuche und unsere Identität vergessen lassen. Aber jetzt fängt eine junge Generation an, das alles zurückzugewinnen.»

Da passt es, wenn Batalha eine Gruppe Kinder zu sich auf die Festivalbühne ruft, damit sie tanzen und den Refrain mitsingen: «Dexam bua», lass sie fallen, deine Sorgen. Da ist sie wieder, die Sodade, dunkelblau funkelnd, eine alte schmerzliche Sehnsucht, aber diesmal im Hip-Hop-Gewand. Gesichter aller möglichen Farbschattierungen und Altersgruppen leuchten auf.

«Die Kultur der Zukunft wird kreolisch sein», hat der französisch-karibische Philosoph Édouard Glissant vor dreissig Jahren prophezeit. Heute würde er vielleicht auf die Kapverden weisen. Die Bühnenbildschirme zeigen Batalhas’ grossflächige Tattoos: die Büste eines ägyptischen Pharaos auf dem einen, das Mädchengesicht seiner 13-jährigen Tochter auf dem anderen. Klare Botschaft: «Wenn wir wissen, woher wir kommen, dann erkennen wir, wohin wir gehen.»

JONATHAN FISCHER

NZZ 10.6.23

Killer Mike: Meine Großmutter hat mir beigebracht, was Black Power wirklich bedeutet

Kein Rapper mischt sich so prominent in die amerikanische Politik ein wie Killer Mike vom
HipHop-Duo Run The Jewels. Ein Gespräch über die therapeutischen Lehren seiner
Großmutter, das Geheimnis seiner Barbershops, seine Waffen – und warum er sie niemals
abgeben wird.


Michael Santiago Render alias Killer Mike jongliert mit vielen Bällen gleichzeitig. Solo und
mit dem Duo Run The Jewels hat er seit seinem Grammy-gekrönten Auftritt auf Outkasts Album „Stankonia“ im Jahr 2000 neun Studioalben veröffentlicht.
Darüber hinaus ist er Host der populären PBS-Talkshow „Love and Respect“, engagiert sich für Arbeitnehmerrechte und gegen Polizeigewalt, betreibt eine Kette von Barbershops und eine Bank für Bevölkerungsgruppen, die von anderen Banken nicht als kreditwürdig erachtet werden. Er trat in den letzten beiden Präsidentschaftswahlkämpfen als Redner an der Seite von
Bernie Sanders auf. Nun veröffentlicht Michael Render sein neues Album „Michael“: Südstaaten-Rap, Gottesdienste, Barbershop-Diskussionen und das Bewusstsein der Community, die ihn großgezogen hat, prägen das womöglich wichtigste Album des 48-jährigen Rappers.


Herr Render, was hat den selbsterklärten „bad nigger“ und berüchtigten Bühnenabräumer
Killer Mike dazu gebracht, sich als Mensch mit Zweifeln, Ängsten und Depressionen zu zeigen?

Killer Mike: Ich denke, Reue trifft meinen Gemütszustand eher. Viele glauben nicht, dass Männer
so offen über ihre Gefühle reden sollten. Aber irgendwann kommt die Offenbarung: Du wachst
morgens auf, schaust in den Spiegel und siehst eine Träne im Augenwinkel. Weil dir bewusst wird,
dass du etwas hättest anders machen können.
Appellieren Sie mit Ihrer öffentlichen Beichte an andere Männer, es Ihnen gleichzutun?
Killer Mike: Es kommt darauf an, nicht in der Rückschau zu erstarren, das kann in Bitterkeit
umschlagen. Trotzdem ist es wichtig zu verstehen: Manches war falsch, ich hätte eine bessere
Lösung finden können. Dann kommt die Reue. Und du musst dir vergeben. Männern wird das von
ihrer Umwelt zu selten zugetraut. Man hält uns für zu kalt, zu grob, nicht sensibel genug dafür.
Aber ich wollte zeigen, dass ich mich als Mann in meiner Gesamtheit entwickelt habe.
Was unterscheidet denn Michael Render von Killer Mike?
Killer Mike: Die Figur Killer Mike von Run The Jewels ähnelt mir natürlich. Aber auf diesem
Album habe ich mir die Freiheit genommen, zu zeigen, was Michael Render im Innersten bewegt.
Vom elfjährigen Jungen, der Rapper werden wollte, der dann
alles tat, um fliegen zu lernen, der dann aber an der Straßenecke Drogen verscherbelte, um sich ein
paar neue Sneaker zu kaufen, bis zum Studenten am Morehouse Black College und bis zum College
Dropout – Michael Render ist ein Mensch, der noch längst nicht alles verstanden hat, der Fehler macht, der angefochten wird, tiefe Täler durchschreitet und den Himmel um Hilfe bittet.
Klingt nach einer fast alttestamentarischen Geschichte vom Ringen des Menschen mit
guten und bösen Mächten. Sind Sie ein religiöser Mensch?

Killer Mike: Tatsächlich hat mich nur der Glaube an eine höhere Aufgabe gerettet: Ich war 25
Jahre alt, hatte eine Tochter, war vom College geflogen und ging einem Job nach, der im Grunde
nur eine Tarnung dafür war, dass ich Drogen verkaufte. Und ich betete zu Gott für ein Ziel im
Leben: Lass mich ein Rapper sein! Erlöse mich aus der Dunkelheit!
Mit „Shed Tears“ rappen Sie eine Ode an die Frauen in Ihrem Leben, die, wie es heißt, Sie
„davor retteten, innerlich leer zu sterben“. Welche Kraft haben Sie aus Ihrer Familie, und
insbesondere Ihrer Großmutter, bei der Sie aufwuchsen, mitbekommen?

Killer Mike: Mir ging das erst richtig auf, nachdem ich eine Audienz beim Dalai Lama hatte. Was
konnte ein Religions-Skeptiker wie ich schon vom Oberhaupt der Buddhisten erwarten? Doch dann
gab er mir einen sehr weisen Rat mit: Lass dein Ego vor der Tür, lass deine Religion draußen, deine
kulturelle Identität, all diesen Mist, und handle aus einem Ort der Liebe heraus. Und wissen Sie
was? Meine Großmutter hatte mir genau dasselbe gepredigt. Besonders wenn zwischen meiner
Frau und mir mal wieder die Fetzen flogen: Hört endlich auf zu reden, sagte Oma. Geht aus dem
Haus, fasst euch an der Hand und schaut zusammen einen Baum an. Und das hat uns oft gerettet.
Meine Großmutter war kein Papst, kein Dalai Lama, aber ein Mensch, der wusste, dass wir alle
miteinander und mit der Natur verbunden sind.
Sie haben mal gesagt, Ihre Großmutter habe Ihnen vorgelebt, was Black Power wirklich
bedeutet.

Killer Mike: Genau. Ich sehe mich als Produkt gelebter Black Power und nicht dieser
romantisierten Geschichte, wo ich mir eine schwarze Lederjacke anziehe und ein Barett aufsetze
und als Black Panther posiere. Sondern geerdet in der Geschichte meiner Vorfahren.

Können Sie das genauer erklären?
Killer Mike: Ich kannte noch meine Urgroßeltern, ich habe auf ihrer Terrasse Zuckerrohr gekaut, die Eier von ihren Hühnern geholt und verstanden, was für ein Leben sie als Kleinpächter und
Nachfahren von Sklaven führen. Meine Urgroßmutter hat ihren Kindern das Lesen und Schreiben
beigebracht. Meine Urgroßmutter hat mir beigebracht, wie ich ein Hühnchen ausnehme und
zubereite. Und meine Großmutter lehrte mich all das, was Therapeuten heute empfehlen: Geh
barfuß über die Wiesen, zieh dein eigenes Gemüse, verbinde dich mit anderen Menschen. Schwarze
Menschen wie sie haben in Atlanta eine Gemeinschaft namens Collier Heights gegründet, wo ich
zur Schule ging und als junger Mensch von Bürgerrechtsaktivisten wie Reverend Joseph Lowry oder
Andrew Young unterrichtet wurde.

Das Video zu Ihrer Single „Run“ gipfelt in einer Szene, in der Afroamerikaner und ihre
Verbündeten in einem Museum gegen weiße Suprematisten kämpfen, und zeigt dabei historische
Figuren wie Booker T. Washington, Frederic Douglass, Jack Johnson, Sojourner Truth , Fannie Lou
Hamer und Assata Shakur. Welche Botschaft steckt dahinter?

Killer Mike: Es ist wichtig zu sehen, dass in dem Video niemand vor den Unterdrückern
davonläuft. Es zeigt, wie schwarze Menschen einer besseren Zukunft entgegengehen, hin zu
Wissen, zu Freiheit, zu Gemeinschaft und zur Liebe. Mein Vater war Polizist, meine Mutter
Floristin – sie haben beide auf ihre Art von einem besseren Amerika geträumt. Und ich führe
diesen Traum fort.
Im Song „Down By Law“ rappen Sie davon, „sich zu bewegen wie Malcolm und Martin und
King – geboren im Bauch einer wunderbaren Sache, bin ich selbst ein wunderbares Wesen“. Woher
kommt Ihr Optimismus angesichts einer von Grausamkeiten und Unterdrückung geprägten
Geschichte?

Killer Mike: Was ich predige: Baut euer eigenes Essen an. Macht eigene Betriebe auf. Meine
Schwester betreibt heute eine Farm, die über ein halbes Dutzend Familien ernährt. Ich weiß, wie
Black Power funktioniert. Deswegen habe ich es nicht nötig, in einer Opferhaltung zu verharren.
Um es mit einem meiner Raps zu sagen: „Sie haben uns besessen, aber nun besitzen wir uns selbst.“
Als junger Journalist durfte ich den Soulsänger Curtis Mayfield, der wie Sie aus Atlanta stammt, interviewen. Er vertrat ähnliche Ideen wie Sie.
„Soul ist keine exklusiv schwarze Sache, sondern ein universaler Ausdruck des Kampfes um die eigene Würde und Menschlichkeit“, sagte Curtis damals.

Killer Mike: Wir alle spielen auf denselben Korb. Ich bin 1975, also gegen Ende der
Bürgerrechtsbewegung geboren worden. Meine damals 16-jährige Mutter war ein großer Fan von
Curtis Mayfield. Sie hatte der Kirche und der Religion ihrer Mutter abgeschworen – auch weil diese
den Blues als Musik der Sünder verdammte. Aber meine Mutter umarmte aus ganzem Herzen die
Botschaft der Liebe, die sie von Curtis Mayfield hörte. Wenn wir Auto fuhren, sangen wir seine
Songs mit, diskutierten seine Lyrics. Sie brachte mir auch den Soul von Isaac Hayes und Willie
Hutch, die Sozialkritik von Gil Scott-Heron und den Last Poets nahe. Als sie auszog, überließ sie
mir ihre Plattensammlung und ihren Plattenspieler.

Sie haben die Botschaften des Message Soul aus den Siebzigerjahren in den HipHop von
heute herübergerettet?

Killer Mike: Curtis Mayfield wurde zu einer religiösen Figur in meinem Leben. Seine so
kämpferische wie positive Haltung hat mich stark geprägt. All dieses Mitgefühl mit den Junkies und
Drogenabhängigen. Dieser Glaube und Mut. Dieses Wir-können-und-wir-wollen-und-wir-werden-
es-schaffen. All das ist wie Medizin in den kleinen Michael Render geflossen. „Wenn Menschen
fallen, tritt nicht nach ihnen“, rappe ich auf einem meiner neuen Songs. Wir alle sind nicht frei von
Versuchung.

Sie bilden zusammen mit Ihrem weißen Rap-Partner und Produzenten El P seit zehn
Jahren das HipHop-Duo Run The Jewels. War da Ihre Hautfarbe jemals Thema?

Killer Mike:Killer Mike: Nein, niemals. Er ist mein Freund, mein Bruder, mein Verbündeter. Mag sein, dass wir aus verschiedenen kulturellen Hintergründen kommen. Aber sobald du mit jemandem eng
zusammen bist, merkst du, dass die Gemeinsamkeiten überwiegen. Wenn du etwa Inder, Chinesen,
Nigerianer und Schwarze aus den Südstaaten über ihre Eltern reden hörst, glaubst du, dass sie
demselben Volk angehören. Als Menschen sind wir uns ähnlicher, als Rassisten es wahrhaben
wollen.
Sie haben im Wahlkampf 2016 und 2020 Bernie Sanders unterstützt, sind als Redner an
seiner Seite aufgetreten. Was fasziniert Sie an dem über 80-jährigen demokratischen Senator und
Veteran des Klassenkampfes?

Killer Mike: Ich an dem alten Mann, dass er die Gemeinsamkeiten sucht, die Menschen verschiedener Ethnien und Glaubensbekenntnisse zusammenführen – um zusammen für eine
gerechtere Welt zu kämpfen. Bernies Botschaft entspricht meiner Philosophie: Wenn jeder ein
bisschen gibt, dann haben alle sehr viel. Wir haben uns bei einer Kampagne der Amazon-
Angestellten in Birmingham, Alabama für das Recht auf gewerkschaftliche Organisation
kennengelernt. Bekannte hatten mich auf deren beschissene Situation aufmerksam gemacht. Und
mit Bernie zusammen hat das Kämpfen Spaß gemacht, auch wenn wir Meinungsverschiedenheiten
haben.
Weil er ein Sozialist ist und Sie ein erfolgreicher Unternehmer und Kapitalist?
Killer Mike: Natürlich weiß er, dass ich ein Unternehmer bin. Deshalb zieht er mich gerne auf:
Wenn du eines Tages Millionär bist, dann, zur Hölle, werde ich dich besteuern! Aber warum nicht?
Ich zahle zwar schon fast die Hälfte von jedem verdienten Dollar, aber ich würde freiwillig noch
mehr geben als 50 Cent pro Dollar, wenn das Geld für die Schulen unserer Kinder ausgegeben
würde und nicht für die Rüstungsindustrie. Wenn es in ein soziales Bildungssystem und ein
Gesundheitssystem fließen würde, wie ihr es in Deutschland habt. Sodass niemand mehr auf der
Straße landet, wenn er krank wird oder seinen Job verliert.
Sie glauben, dass schwarzer Kapitalismus viele Probleme Amerikas lösen könnte?
Killer Mike: Das habe ich schon von meinen Großeltern gelernt. Sie gingen mit mir immer zu
einem schwarzen Metzger, zu einem Bäcker, der schwarze Angestellte beschäftigte. Oder sie
wählten Ladeninhaber, die junge Menschen aus benachteiligten Vierteln förderten. Du entscheidest
bewusst, was mit deinem Geld passiert. Das nenne ich mitfühlenden Kapitalismus. Darum
propagiere ich, bei lokalen Geschäften einzukaufen. Ich bin heute Millionär, und ich entschuldige
mich nicht dafür, dass ich das System verstehe und zu meinen Gunsten nutze.
Anders als viele linke Amerikaner verteidigen Sie das Recht auf Waffenbesitz.
Killer Mike: Warum sollte man Menschen, die erst seit 60 Jahren von der Rassen-Apartheid
befreit sind, das Recht auf Selbstverteidigung nehmen? Falls das Regime sich über Nacht ändern
würde und die Ungerechtigkeit sich mit Gewalt beseitigen ließe, dann halte ich meine AK22 und ein
paar Molotow-Cocktails bereit. Im Moment aber propagiere ich gegenseitige Hilfe zur Selbsthilfe.
Es gibt hier in Atlanta viele Chancen für schwarze Unternehmer.

Sie sagen, dass die Geschichte des schwarzen Amerika viel mehr enthält als nur Gewalt und
Diskriminierung. Wollen Sie damit den Rassismus-Diskurs relativieren?

Killer Mike: Natürlich bin ich auch schon mal Opfer gewesen. Etwa, wenn die Cops mich im Auto angehalten und schikaniert haben. Oder wenn ich Geld brauche: Während meine Bank einem
weißen Geschäftsmann ohne viel Getue einen Kredit zubilligt, haben sie es bei mir für die
Eröffnung eines Barbershops abgelehnt. Weil sie meinen kulturellen Hintergrund nicht verstehen.
Das hat mich höllisch angepisst. Aber ich habe mich an meine Großeltern erinnert. Sie haben sich
als arme Pachtbauern selbst geholfen, 30 bis 40 Hektar Land gekauft, Land das sich noch heute in
Familienbesitz befindet. Also habe ich so gehandelt wie sie – und eine Bank namens Greenwood
gegründet, eine Bank für Kunden aus armen und benachteiligten Verhältnissen, die sonst weder ein
Konto noch einen Kredit bekommen würden.

Sie betreiben inzwischen nicht nur einen Barbershop, sie wollen Ihre „Swag Shops“-Kette
auf 150 Filialen in ganz Amerika ausweiten.

Killer Mike:Wollen Sie wissen, warum weiße Banken dieses Unternehmen nicht verstehen? Weil
schwarze Männer, anders als Weiße, ein- bis zweimal pro Woche zum Barbershop gehen – weil es
hier gar nicht nur darum geht, shampooniert und frisiert zu werden, sondern weil der Barber eine
Art Kulturzentrum darstellt. Schwarze Männer verbringen hier viel Zeit, erzählen ihre
Lebensgeschichte, reißen Witze, singen zusammen und hören sich Ratschläge von Älteren an. Ich
liebe meine wöchentliche Stunde im Barbershop. Shit, sagte ich mir oft, ich will selbst einen
Barbershop haben! Heute verkaufe ich in den „Swag Shops“ nebenbei T-Shirts von berühmten
Graffiti-Künstlern. Mein Lieblingsladen befindet sich übrigens in der Atlanta Basketball Arena, wo
du dir das Spiel anschauen kannst, während dir die Frisur gerichtet wird.
Sie sorgen sich nicht nur um die Frisuren Ihrer Kunden, sondern auch um deren
Seelenheil. Wie kam es dazu?

Killer Mike: Der Barbershop ist so etwas wie ein Beichtstuhl. Da lag es nahe, unsere Läden auch
für Therapiegruppen zu öffnen. Wir haben unsere Friseure geschult, wie man psychische
Erkrankungen, etwa Depressionen, erkennt. Und wie man mit Kunden redet und sie zu
entsprechenden Hilfsangeboten hinführt. Wir hatten einmal jemanden, der uns seine Waffe in die
Hand drückte und sagte, er habe Angst, sich selbst damit umzubringen. Wir waren der einzige Ort, an dem er von seinen Selbstmordabsichten erzählen konnte.

Der afroamerikanische Komiker und Schauspieler Dave Chapelle
– in seinem Gastauftritt auf „Run“ vergleicht er den Kampf der Afroamerikaner mit der Landung der Alliierten in der Normandie – hat Sie explizit dazu aufgefordert, als Gouverneur zu kandidieren: „Du bist ein Anführer, also führe!“ Sind Sie dazu bereit?

Killer Mike: Meine Frau sagt immer: Hüte dich davor, dich mit Gott und der Politik anzulegen.
Aber ich erfülle meinen politischen Auftrag auch als Rapper und Geschäftsmann. So kann man sich
in unseren Barbershops als Wähler registrieren und sich mit einem Shuttle zu einem Wahllokal
fahren lassen. Ich denke lokal. Ich kann mir vorstellen, mich für den Schulrat oder Stadtrat von
Atlanta zu bewerben – in ein paar Jahren. Jetzt ist es erst mal an der Zeit, der Welt das beste
HipHop-Album dieses Jahres zu präsentieren.

HipHop lebt immer noch von Eskapismus, von Dealer-Träumen und Gangster-Fantasien.
Wie balancieren Sie Ihre Straßen-Toughness mit der Sozialkritik aus?

Killer Mike: Mir fällt das überhaupt nicht schwer, weil ich beide Seiten in mir habe. Schau dir nur
das Albumcover an. Da hat der kleine Michael Render einen Heiligenschein, weil er von seinen
Großeltern weiß, was richtig und falsch ist. Gleichzeitig trägt dieser durchtriebene kleine
Motherfucker aber auch Teufelshörner. Haben wir nicht alle diese zwei Seiten? Ich glaube, man
muss lernen, sich zu kontrollieren, um in Harmonie mit seinen Mitmenschen zu leben.
Sie haben mit „Michael“ ihr bisher persönlichstes Album aufgenommen. Welche Träume
haben Sie noch?

Killer Mike: Ein Album mit Sade aufzunehmen! Meine Mutter hat mich als Kind auf den Schoß
genommen, wenn ihre Songs liefen und gesagt: Hör gut zu! (Summt einen Sade-Song) Liebe kann
tief verletzen, aber sie ist deswegen nichts Schlimmes. Dazu würde ich ein paar Curtis-Samples
nehmen. Und Scarface, einen Rapper den ich für seine Straßen-Lyrics liebe, einladen. Diese drei
haben mir die Bausteine für Killer Mike geliefert.
Wo bleibt Ihre Großmutter in der Rechnung?

Killer Mike: Sie ist immer in meiner Musik präsent. Von ihr habe ich dieses brennende
Gerechtigkeitsempfinden geerbt. Wenn mich als Rapper das, was sie den Heiligen Geist nennt,
überkommt, dann bin ich unschlagbar.

JONATHAN FISCHER

DIE WELT ,21.6.2023

Future Beats aus Afrika

Das Africa-Festival in Würzburg wartet mit
bekannten Größen auf. Zu welcher Musik aber
die junge Generation in Kinshasa, Nairobi oder
Bamako wirklich tanzt, zeigen die
„African Music Days“ in München

Wenn Ende Mai in Würzburg das Africa-Festival gefeiert wird, dann pflastern Superlative die Vorankündigung. Seit 1989 hat das größte und älteste Festival für afrikanische Musik und Kultur in Europa mehr als 7500 Musiker auf die Bühne gebracht. Und dabei gut zweieinhalb Millionen Besucher mit Modeschauen, Geschichtenerzählern, exotischer Küche – und natürlich Live-Konzerten beglückt. Das ist eine beeindruckende Leistung. Einerseits. Andererseits geht die Tendenz der Darbietungen wie bei jedem großen Volksfest in Richtung Populismus.

  Da dürfen dann auch eine deutsche Bob-Marley-Tribute-Band die Bühne zur Prime Time rocken. Kommen viele der eingeladenen Künstlerinnen und Künstler gar nicht aus Afrika, sondern leben in Deutschland und Europa. Oder sind wie der Kongolese Lokua Kanza, Elida Almeida von den Kapverden oder die gambische Koraspielerin Sona Jobarteh hinlänglich bekannte Festival-Größen. Nichts gegen eine eingängige, auf europäische Hörgewohnheiten abgestimmte Soul-Jazz-Afro-Reggae-Pop-Wohlfühl-Melange.

  Aber: Zu welcher Musik tanzt denn die junge Generation in Afrika? Gibt es dort nicht gerade jede Menge bahnbrechende Neuerungen? Wer neugierig auf den Straßensound aus Daressalam, Dakar oder Bamako ist, für den sind die „African Music Days“ im Münchner Muffatwerk eine einmalige Chance, eingefahrene Afrika-Klischees herauszufordern. Und dabei experimentierwütige junge Musiker zu erleben, die es sonst selten nach Europa schaffen. Etwa Blinky Bill, einen kenianischen DJ, Produzenten und Sänger, dessen futuristische Elektro-Beats zusammen mit R’n’B-Gesängen und lakonischen Englisch-Suaheli-Raps perfekt den Flow von Kenias Hauptstadt Nairobi einfangen. Oder Arka’n Asrafokor aus Togo, die – Achtung! – westafrikanisch polyrhythmischen Metal jenseits allen Gröl- und Stampf-Verdachts produzieren und deren wunderbare Harmoniegesänge auch Hardrock-Hassern gefallen dürften.

  Und wer hat schon mal hierzulande die Bühnen-Dynamik der senegalesischen Sängerinnen und Rapperinnen Defmaa Maadef erlebt? Oder das südafrikanisch-ghanaische Duo Esinam & Sibusile Xaba, die mit Gitarren, Perkussion und Flöten trance-ähnliche Grooves erzeugen? Insgesamt sieben junge Musiker und Bands werden sich am 25. und 26. Mai an der Isar präsentieren. Und ganz sicher eines vermeiden: altbekannte Weltmusik-Stanzen.

  Wenn etwa Ami Yerewolo aus Mali zum Mikro greift, gehen manche Männer in Deckung. „Ich bin die meist beleidigte und am wenigsten gebuchte Rapperin Malis“, hat sie einmal behauptet. Tatsächlich hat Yerowolo lange als einzige Frau überhaupt im Hip-Hop durchgehalten. Und dann auch noch die konservative Männergesellschaft Malis mit Amazonen-Pose und Sprüchen wie – „auch ihr seid mal aus dem Bauch einer Frau gekommen“ – aus der Fassung gebracht. Gelernt hat Yerowolo ursprünglich Bankkauffrau. Aber dann schmiss sie den gutdotierten Job hin, um sich mit Auftritten bei Balani Shows – traditionellen dörflichen Feiern und Familienfesten – über Wasser zu halten.

  Der Durchbruch gelang ihr 2020 nach einer Begegnung mit dem kamerunischen Bassisten und Produzenten Blick Bassy, der sofort Yerewolos Qualitäten erkannte: Ihre auf Bambara und Französisch gehaltenen Raps haben diesen furios-femininen Flow. Verwandeln ihre Wut in einen strahlenden Meteoriten-Schweif. Bassy ermutigte Yerowolo – sie organisiert nebenbei auch noch das einzige rein weibliche Hip-Hop-Festival Malis – auf die Konventionen von Afrobeats und Hip-Hop zu pfeifen, und stattdessen nur sich selbst auszudrücken. „Je Gére“, heißt einer der letzten Hits der malischen Rapperin – auf Deutsch in etwa „Ich schmeiß den Laden“.

  Aus Tansania, besser gesagt den Armenvierteln von Daressalam, kommt der Singeli-Rapper Sholo Mwamba. Singeli? So heißen die quirligen hochgepitchten Beats, die so klingen wie überschnell abgespielter Drum and Bass – ein Aufputschmittel, zu dem Sholo Mwamba traditionelle Suaheli-Chants und Raps über die Alltagssorgen der einfachen Leute intoniert. „Singeli wechselt dauernd seinen Stil“, erklärt der Superstar der ostafrikanischen Elektro-Variante. „Wir greifen alles auf, was auf den Straßen passiert. Wenn du springen willst, dann springst du. Wenn du laufen willst, dann läufst du.“ Tatsächlich liegen die Ursprünge des Singeli im traditionellen Taraab, der Hochzeitsmusik der arabisch geprägten Küstenregion Tansanias. DJs hatten die Songs beschleunigt und mit verschiedenen Beats gemixt. Hauptsache, die Tänzer spielen verrückt. Sholo Mwamba hat die einst mit kleinkriminellen Milieus assoziierte Musik nun zu respektablem Pop-Ruhm gebracht. Als ehemaliges Straßenkind war er zunächst als Master of Ceremony bei traditionellen Festen eingesprungen, inzwischen treiben seine energiegeladenen Auftritte zehntausende begeisterter Tänzer an den Rand der Erschöpfung.

  Der Bandname von Fulu Muziki übersetzt sich mit „Musik aus Müll“. Und das ist wortwörtlich zu nehmen: Die Musiker aus Kinshasa bearbeiten, beklopfen und behämmern Gegenstände, die andere weggeworfen haben. Blechdosen, Flipflops, Autoteile, Plastikrohre – das sind die Bauteile für ihre Perkussionsinstrumente, die sie aus der Mülldeponie in Ngwaka, einem der abgerockteren Viertel der kongolesischen Hauptstadt gewinnen. Um daraus ihren ganz eigenen afrofuturistischen Sound zu fabrizieren. Eine synkopisch komplex organisierte Lärmorgie, von der Tche Tche, der Sänger und Perkussionist von Fulu Miziki einmal sagte, sie sei ebenso von Straßenkünstlern in Kinshasa als auch von Kino-Superhelden beeinflusst. „Wir holen den Funk aus PVC-Rohren und Metalldosen“. Ebensowichtig wie die Musik: Die aus Fundmaterial gefertigten Kostüme, eine Mischung aus Stammestraditionen und „Wakanda“-Mythologie. Jenseits aller Wahnsinns-Maskeraden aber geht es dem Kollektiv durchaus auch um politische Anliegen. Etwa um die – nicht nur in Kinshasa – lebensbedrohliche Umweltverschmutzung, den Export von Elektronik-, Plastik- und Kleidermüll aus dem Westen nach Afrika und die Notwendigkeit von Recycling. Nicht auszuschließen, dass die Fulu Muziki-Mitglieder auch in München gefundenen Müll zum Tönen bringen.

  Möglich gemacht hat dieses Ausnahme-Festival die „Music In Africa Foundation“. Die 2013 in Nairobi gegründete Nonprofit-Initiative ist inzwischen zur größten Vernetzungsplattform für junge afrikanische Musiker herangewachsen. „Wir haben inzwischen sechs Büros auf dem ganzen Kontinent eingerichtet“, erzählt Jens Cording von der Siemens Stiftung, zusammen mit dem Goethe-Institut Mit-Initiator des Projektes und heute für internationale Beziehungen zuständig. Die Gesamtverantwortung liege inzwischen zu hundert Prozent in den Händen der Afrikaner. Die Siemens Stiftung begleite und fördere lediglich. Was man in zehn Jahren geschaffen habe, übertreffe alle Erwartungen: „Über 43 000 Musiker sind mit ihren Profilen inzwischen auf der Plattform und 150 afrikanische Autoren schreiben für sie. Ich will als Komponist meine Urheberrechte schützen? Suche nach neuen Stilrichtungen? Will mich über die Rolle der Frauen im Musikbusiness informieren? Das alles und mehr kann man da finden.“ Dazu kommen Offline-Initiativen: etwa „Music In Africa Connects“, ein Programm für musikalischen und inter-ethnischen Austausch in Krisenregionen wie Somalia, Tschad oder Nord-Mali. Workshops zu Instrumentenbau und –reparatur. Die Musikkonferenz ACCES als Treffpunkt afrikanischer Kulturschaffender. Oder – während Corona – die Professionalisierung der Produktion von Musikvideos. „Unser Ziel ist, Afrika autark zu machen.“

  Wenn nun über ein halbes Dutzend außergewöhnliche Bands zum Jubiläum im Muffatwerk aufspielen, ist das vor allem eine Chance für uns Westler: „Afrika war schon immer stilistischer Vorreiter“ sagt Cording. „Könnte sein, dass wir ähnliche Klänge in fünf bis zehn Jahren auch in Europa hören.“

JONATHAN FISCHER

SZ 22.5.2023

Die schnellste und schmutzigste Musik der Welt

Es ist der Sound der Stunde: Der ostafrikanische Musiktrend Singeli erweckt die ermüdete Clubkultur zwischen Berlin und New York zu neuem Leben. Dass ein solcher Kult in europäischen und amerikanischen Metropolen gar nicht mehr entstehen kann, liegt nicht nur am Wohlstand

Wer mit offenen Ohren durch die Straßen der tansanischen Hauptstadt Daressalam streift, der wird es bald merken – je abgerockter das Viertel, je schlechter die Straßen, umso aufgekratzter und schneller die Musik. Wenn rund um die verglasten Bürotürme von Downtown noch HipHop und R&B aus Bars und schicken Restaurants schallen, dann pumpen auf dem Kariokoo-Markt, in den heillos überquellenden Dala-Dala-Minibussen und auf Blockpartys sehr viel anarchischere Sounds.

Quirlige, auf 160 bis 300 Beats pro Minute hochgepitchte Beats. Nervöses Keyboard-Genudel. Und Swahili-sprachige Chants, die von Armut, Arbeitslosigkeit und der Ekstase der samstäglichen Kidogoro Parties erzählen, so genannt nach den Kidogoro, Schaumstoffmatratzen oder auch nur Fetzen davon, auf denen die völlig verausgabten Tänzer irgendwann zusammensacken.

Singeli heißt dieses tönende Aufputschmittel. Ein Rhythmus schneller als Drum and Bass oder gar mancher Gabber. Ein Musik gewordener Rauschzustand, der mehr als jedes andere Genre Tansanias Jugend repräsentiert.

„Wir reden von Autos, sie nur von Telefonen“, hat sich ein tansanischer HipHop-Star über die Singeli-Konkurrenz mokiert. Und dabei unwillkürlich den Punkt getroffen: Der Singeli projiziert anders als die ostafrikanische HipHop-Variante Bongo Flava keine Mittelstandsträume. Er ist die Musik der Minibus-Schaffner in abgerissenen Plastikschuhen, die jedes Wort eines Singeli-Hits wie ein Glaubensbekenntnis mitsingen, und wenn Bongo Flava nach Gucci und Chanel riecht, dann transportiert der Singeli, nun ja, eher den Rauch von Kohlefeuern.

In Tansania ist rund die Hälfte der Bevölkerung jünger als 16 Jahre. Es gibt für sie kaum Jobs auf dem formellen Arbeitsmarkt, während die Landflucht die Gettos von Daressalam jedes Jahr um eine halbe Million Einwohner anschwellen lässt. Es ist ein Biotop der Armut und des Überlebenskampfes, wie geschaffen für die Entstehung einer Musik, die gleichzeitig Frustrationsventil und Partydroge sein will. Oder: Was wäre eine Samstagnacht, wenn man sich nicht am Singeli berauschen könnte?

Dabei ist der Singeli nicht die erste Elektro-Variante aus Afrika. Auch der südafrikanische Shangaan, malischer Balani Show oder die unter dem Label „Congotronics“ firmierenden kongolesischen Likembe-Orchester mit ihren übersteuerten Fingerklavieren haben seit einigen Jahren einen Nerv der westlichen Elektronik-Avantgarde getroffen. Bands von Animal Collective über die Berliner Techno-Produzenten Mark Ernestus und Errorsmith bis zum HipHop-Tüftler Flying Lotus ließen sich von ihnen inspirieren.

Und nun vom Singeli. Er ist die womöglich räudigste, lauteste und schnellste aller afrikanischen Dancehall-Varianten. In den Westen gelangte diese Straßenmusik erstmals 2017. Damals veröffentlichte das Afro-Electro Label Nyege Nyege Tapes „Sounds Of Sisso“, eine Kassette mit den bis dato nur auf Daressalams Schwarzmarkt kursierenden Aufnahmen des Singeli-Pioniers Sisso. Für die ermüdete westliche Technoszene eine Offenbarung: Als ob ein frischer nuklearer Brennstab einen abbruchreifen Reaktor noch einmal auf Schmelztemperaturen hochführe.

Der Hype ließ nicht auf sich warten. Sisso, MCZO und Duke, junge Männer ohne jede Ausbildung oder Englischkenntnisse wurden zu DJ-Auftritten ins CTM nach Berlin und das Londoner Café OTO, bis nach Warschau und New York geladen. Die Tansanier brachten ihre Kidogoro-Energie mit. Und zauberten – auch ohne Schaumstoffmatten und Kohlefeuergeruch – hyperkinetische Soundkreisel, wie sie hierzulande noch keine DJ-Kanzel gehört hatte. Darf es noch schneller sein? Der schmutzige Drive und die Hypernervosität machte den Singeli jedenfalls zum Versprechen für alle, die den Ausbruch aus den Genreklischees des globalisierten Techno suchen.

Wobei ja gerade die konstruktiven Missverständnisse, die funkifizierten Fehler den Reiz des Singeli ausmachen. Das beginnt schon beim Namen seines zur Zeit größten Stars: „Sholo bedeutet kleine Vögel und Mwamba ist der Felsen“, erklärt der Sänger und Rapper Sholo Mwamba , ein drahtiger Typ mit blondiertem Afro, eingeflochtenen Zöpfchen und Sonnenbrille. „Eigentlich heißen die Vögel ja Sholwe. Als Kind konnte ich das nicht gut aussprechen und habe immer Sholo gesagt. Das brachte alle zum Lachen.“

Sholo Mwamba und seine Crew rauchen unter einem Strohdach, gerade haben sie den Soundcheck für einen Open-Air-Auftritt bei der Musikkonferenz ACCES in Makumbusho im Zentrum von Daressalaam absolviert. Eine Schulklasse läuft vorüber, auf ihrem Weg in das benachbarte Village Museum. Riesengeschrei, als sie den Musikstar erkennen. Alle wollen Fotos machen. Sholo Mwamba stimmt einen seiner Hits an: Wie auf Kommando ergänzen die Schulkinder den Refrain: „Wenn ich dich rufe, dann kommst du!“

Er selbst, sagt Mwamba, und erst jetzt bemerkt man, wie ausgemergelt er wirkt, ist als Waise und Straßenkind aufgewachsen. „Ich hatte nie die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Erst der Singeli hat mir viele Türen geöffnet.“ Wobei: Es brauchte auch Mwambas Chuzpe. Bei Festen wie dem Erwachsenwerden eines Jungen, der Beschneidung oder einer Hochzeit, passte er die DJs ab, die auf ihrem Laptop traditionellen Lieder und Trommelrhythmen spielen, und sprang einfach als Master of Ceremony auf die Bühne. Als Singeli-Rapper.

Ursprünglich verwendeten DJs und Produzenten Bruchstücke von Taraab, einer an der Swahili-Küste bei Hochzeiten und Familienfeiern gespielten Orchestermusik, mischten sie mit anderen Rhythmen und beschleunigten sie. „Die Taarab-Musik hat einen langsamen Beat. Wenn der DJ aber die Geschwindigkeit erhöht, kann niemand mehr mitsingen – dafür fangen die Menschen an, wie wild zu tanzen.“ Wenn DJs es schon immer liebten mit solchen Aufputschmitteln zu experimentieren, dann funktioniert auch dieses hervorragend. Schnell, Schneller, Singeli.

Schon der Vorgänger des Singeli, der Mchiriku, hatte sich in den Neunzigerjahren mit nudelnden Casio-Melodien und lärmender Lo-Fi-Ästhetik von sämtlichen westlichen Popnormen gelöst. Der Singeli übernahm dann dessen Energie, um dank besserer Produktionstechnik ein Crossover in den Popmarkt zu schaffen. Heute umarmen selbst HipHop-Stars wie Professor Jay die einst verpönte Arme-Leute-Musik. Den deutlichsten Indikator für die Popularität des Singeli aber liefert, wie könnte es anders sein, die Werbung: Ob Mofas, Seife oder Bier – keine erfolgversprechende Marketingkampagne, die auf den Massenmarkt in Tansania zielt, kann es sich leisten, ohne Singeli-Getrommel daherzukommen.

„Früher sagten die Menschen, der Singeli sei die Musik der Wahuni, der Respektlosen.“ Ja, Sholo Mwamba sah sich mal selbst so. Tatsächlich haftet dem Genre immer noch ein zweifelhafter Ruch an: Das liegt an seinen Ursprüngen in Slum-Bars, die mit Insektiziden gepanschten Alkohol verkaufen, den oft aus dem kleinkriminellen Milieu stammenden Tänzern, den illegalen Straßenpartys, die regelmäßig von der Polizei aufgelöst wurden.

Doch noch bevor Fernsehsender und Radiostationen den Singeli aufgriffen, gewann er die Volksabstimmung mit den Füßen: Samstagnacht kann kein HipHop-DJ, keine glitzy Strandparty mit dem Singeli konkurrieren. Inzwischen ist dessen Popvariante längst über die Gettos hinausgewachsen. Sholo Mwambas Videos haben inzwischen Abermillionen Klicks gesammelt. „Selbst die Präsidentin hat öffentlich zu unserer Musik getanzt.“ Der schmale Mann rückt seine Sonnenbrille zurecht und reckt die Faust: „Wir sind respektiert.“

Für sein Konzert im Rahmen der vom deutsch-afrikanischen Nonprofit-Netzwerk „Music in Africa“ initiierten Musikmesse ACCES aber hat er zusätzlich zum DJ eine richtige Band mitgebracht: drei Trommler, zwei Gitarristen und einen Trompeter, Musiker, denen man ansieht, dass sie ihre Zeit nicht im Umfeld klimatisierter Studios verbracht haben. Eines aber verstehen sie meisterhaft: ihre Instrumente als rhythmische Waffen einzusetzen, auf der Bühne eine ganz und gar körperliche Euphorie zu entfachen, die in Wellen auf das Publikum überschwappt. Ein einziger schwitziger, sexy beschleunigter Schleudergang.

Sholo Mwamba stolziert, ganz Märchenkönig, mit Plastikkrone, Hauer-bestückten Schulterschonern und Leoparden-Umhang über die Bühne. Auch seine Tänzerinnen scheinen dem Black-Panther-Filmset von „Wakanda Forever“ entstiegen. „Wir bleiben nie beim Alten“, hatte Sholo Mwamba erklärt: „Singeli verändert sich ständig.“

Jetzt feuert er Chants auf Stakkato-Suaheli ab. Zu schnell selbst für manche Landsleute. Ein Refrain aber bleibt hängen. Über „Ghetto la Bibi“, das Getto, wo seine Großmutter einst über den kleinen Sholo wachte: „Wie wäre es, wenn du endlich schlafen gehst/ Ihre Pfeile können uns nichts anhaben.“

JONATHAN FISCHER

Die Welt 20.5.2023