Monatsarchiv: Juni 2015

KATHLEEN CLEAVER ÜBER WIDERSTAND

kathleenCleaver_EDITKathleen Cleavers einst mächtiger Afro ist zu einem rötlichen Lockenschopf geschrumpft. Die berühmte Aktivistin der Black-Panther-Bewegung der 70er-Jahre empfängt den Besucher in ihrem bescheidenen Büro im vierten Stock des W.E.B. Du Bois Institute
an der Harvard University in Cambridge

 

SZ: Frau Cleaver, letzte Woche hat ein bewaffneter weißer Mann in einer schwarzen Kirche in Charleston, South Carolina, aus Rassenhass neun Teilnehmer eines Bibelkreises erschossen. Hat Sie das schockiert?

Kathleen Cleaver: Nein, schockiert hat es mich nicht – dazu wiederholen sich solche Erfahrungen für schwarze Amerikaner viel zu oft. South Carolina gilt seit der Sklaverei als Rassisten-Hochburg. Und doch ist etwas anders als früher: Ein viel größerer Teil der Bevölkerung reagiert entsetzt, weiße Zeitungen berichten ausführlich darüber, und der Bürgermeister von Columbia, der Hauptstadt von South Carolina, hat die offizielle Verbannung der Konföderierten-Flagge vorgeschlagen . . .

. . . die Flagge der einst für die Sklaverei kämpfenden Südstaaten, die bis heute auf Amtsgebäuden in South Carolina weht.

Solche symbolischen Akte sind sehr wichtig. Denn der Attentäter, der eigenen Angaben nach einen „Rassenkrieg“ anzetteln wollte, wird zwar als Krimineller verurteilt, aber die größere Geschichte von rassistischem Terror bleibt davon ausgenommen. Im Gegenteil: Viele Südstaaten feiern bis heute die Schlachten ihrer Konföderierten-Armee.

Präsident Obama hat eine Verschärfung der Waffengesetze gefordert. Was halten Sie davon?

Er hätte lieber eine strengere Kontrolle rassistischen Gedankengutes fordern sollen. In Ihrem Land funktioniert das doch ganz gut. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten wir Amerikaner den Deutschen die Entnazifizierung verschrieben, aber uns selbst davon ausgenommen. Deshalb lebt bis heute eine große Gruppe von Nazi-Freunden und weißen Rassisten relativ unbehelligt in der Mitte der US-Gesellschaft. Es geht um Propaganda, nicht um Waffen.

Warum waren die Black Panthers dann bewaffnet?

Wir Black Panther haben eine Gemeinschaft vertreten, die über Jahrhunderte gewalttätigem Terrorismus und Unterdrückung ausgeliefert war. Misshandelt von der Polizei. Und ohne jeden staatlichen Schutz. Da machte es einfach Sinn, nicht wehrlos zu bleiben. Die Waffen hatten aber noch einen anderen Effekt: Die Medien stürzten sich auf uns. Zwar hatte es damals schon jede Menge weiße waffenschwingende Gruppen gegeben. Aber Schwarze, die sich mit Gewehren verteidigten! Das war unerhört. Das machte den Gesetzgebern Angst. Deswegen brachte der Staat Kalifornien 1967 eine Initiative zur Verschärfung der Waffengesetze ein.

Die Black Panthers sahen mit ihren schwarzen Uniformen und Gewehren martialisch aus. Wem wollten Sie damit Angst einjagen?

Wenn wir mit Gesetzbüchern und Gewehren auf den Straßen der schwarzen Viertel patrouillierten, ging es uns um Abschreckung. Wir machten den weißen, rassistischen Polizisten eine einfache Rechnung auf: Wollt ihr wirklich euer weißes, so viel wertvolleres Leben riskieren, um einen minderwertigen Schwarzen kaltzumachen? Die meisten kamen zu dem Schluss: Nein. Seitdem sehe ich wenig Fortschritt: Polizisten behandeln schwarze Bürger immer noch als Feinde.

In den letzten Monaten häuften sich die Fernsehbilder unbewaffneter Afroamerikaner, die in Staten Island, Ferguson, Charleston oder Baltimore von weißen Polizisten erschossen wurden oder in Polizeigewahrsam umkamen. Sind Sie da zum Protestieren auf die Straße gegangen?

Ich bewundere die jungen Menschen auf der Straße, die unser Erbe aufnehmen. Martin Luther King Jr. hatte ja schon 1963 beim Marsch auf Washington ein Ende der Polizeigewalt gefordert. Aber meine Aufgabe ist heute woanders: Ich diskutiere mit meinen Studenten über staatliches Recht und Unrecht. Darüber wie institutionalisierter Rassismus stets die Solidarität der Armen untergrub. Wissen Sie, dass wir Panthers damals Koalitionen mit Chicanos, Native Americans und sogar einer weißen Hillbilly-Gruppe aus den Appalachen eingingen? Wir forderten black, red, brown, ja sogar white power – solange das keine „pig power“ bedeutete.

Waren denn die Aufstände in den schwarzen Vierteln amerikanischer Großstädte in den Sechzigerjahren mit den heutigen Protesten in Ferguson und Baltimore vergleichbar?

Es gibt da einen grundsätzlichen Unterschied: Damals sahen wir Black Panthers uns als Teil einer weltweiten Revolutionsbewegung. Wir hatten Kontakte in viele afrikanische und asiatische Länder. Der Vietnam-Krieg befeuerte uns. Und viele Wehrdienstpflichtige und Veteranen stellten sich die Frage: Warum soll ich in Vietnam kämpfen? Sollte ich nicht erst mal meine eigenen Rechte in diesem Land einfordern?

Trotzdem hat es über drei Jahrzehnte gedauert, bevor sich nun unter dem Slogan „Black Lives Matter“ wieder eine Massenbewegung für Bürgerrechte formiert hat.

Kein Wunder: Das FBI unter Edgar J. Hoover hatte uns als Terroristen dämonisiert. Das wirkte lange nach. Anfang der Siebziger hatten FBI-Agenten die Panther unterwandert, die meisten ihrer Anführer bei Schießereien getötet, ins Gefängnis gebracht oder – wie im Falle von Fred Hampton – im Schlaf erschossen. Die Überlebenden waren traumatisiert. Ersatzweise wurde Martin Luther King Jr. zum netten Onkel und kleinen Heiligen entschärft, nach dem man Straßen und Schulen benannte.

Sie sehen ihn anders?

King hat zuletzt, als er einen Marsch der Armen auf Washington organisieren wollte, so ziemlich dasselbe gepredigt wie die Panther.

Heute ermöglichen die Kommunikationsmittel einer jungen Generation, den Kampf der Eltern und Großeltern auf ihre Weise fortzuführen.

Hätte es damals schon Videokameras und soziale Netzwerke gegeben, wir hätten sie sicher benutzt. Denn wen schlägt und misshandelt die Polizei? Sie attackiert gezielt die Armen, die Ungebildeten, diejenigen, die selten etwas Signifikantes verbrochen haben, aber sich vor Gericht nicht wehren können.

Sie selbst hatten sich, obwohl Sie aus einem bürgerlich-akademischen Elternhaus stammen, schon als junges Mädchen politisiert. Wie kam es dazu?

Einerseits gehörten politische Diskussionen bei uns zum Familientisch. Andererseits verbrachte ich als Kind mit meinen Eltern, die für eine Entwicklungshilfe-Agentur arbeiteten, einige Jahre in Westafrika, in Indien und den Philippinen. Letztere hatten sich gerade von britischer und amerikanischer Kolonialherrschaft befreit. Ich fragte mich: Wenn diese Menschen keine weiße Regierung brauchen, sie ihr Land selbst verwalten können, warum sollen sich dann schwarze Menschen in Amerika von den Weißen kontrollieren lassen?

Sie gehörten ja dem gewaltlosen Student Nonviolent Coordinating Committee an, bis sie zu den Black Panthers wechselten. Was gab den Ausschlag?

Ich hatte mich in Eldridge Cleaver verliebt. Er war damals der schwarze Revolutions-Schriftsteller schlechthin, ein Idol der Intellektuellen wie der Ghetto-Jugend. Und ich bewunderte die Panther: Sie redeten nicht nur von Black Power, sondern organisierten all das, was der Staat den schwarzen Communities schuldig blieb: etwa ein kostenloses Frühstücksprogramm für Schulkinder, Gesundheitskliniken, die Hunderttausende Afroamerikaner kostenlos auf Sichelzellenanämie testeten, und Abendschulen für politische Bildung. Ich übernahm die Rolle eines Kommunikations-Sekretärs: Ich schrieb Reden, verfasste Artikel, redete mit Radiostationen . . .

Dank geschickter Medienarbeit bekamen die Panthers mehr öffentliche Aufmerksamkeit als jede andere politische Bewegung ihrer Zeit. Trotzdem haben Sie Ihrer Heimat ein paar Monate später den Rücken zugekehrt.

Eldridge hatte 1968 nach einer Schießerei mit Polizisten eine Mordanklage am Hals. Auf Einladung Fidel Castros floh er erst nach Kuba und dann weiter nach Algerien. Ich war im vierten Monat schwanger – und entschlossen, nicht nur die Familie zusammenzuhalten. Sondern die Revolution notfalls von Nordafrika aus voranzutreiben.

Damals ging ein Foto, das Sie mit Afro, hohen Stiefeln und Gewehr in der Hand zeigt, um die Welt. Es schmückte als Revolutionsikone auch in Deutschland unzählige Studentenbuden.

Mir kam das selbst gar nicht so revolutionär vor. In Macon County, Alabama, wo ich aufgewachsen war, saß Großvater immer mit seiner Flinte auf der Veranda – um weiße Rassisten zu warnen: Auch ihr könnt erschossen werden. Jeder in unserer Community hatte eine Waffe. Das hielt den Frieden aufrecht. Nach vielen Morddrohungen und einem nächtlichen Überfall von FBI-Agenten ging ich mir ein Gewehr und eine 3.57 Magnum kaufen. Dann rief ich zwei Reporter von Untergrundzeitungen an: Sie sollten berichten, dass Kathleen Cleaver ein Gewehr im Haus hat. So kam es, dass ich mich auf meiner Veranda in San Francisco mit einem Gewehr ablichten ließ. Es war eine Botschaft an die Polizei – sollten sie es nochmals wagen, meine Tür einzutreten . . .

Haben Sie diese Waffe jemals benutzen müssen?

Nein!

Ihr Foto wurde dann ebenso wie die schwarze Kluft und die von der französischen Résistance inspirierten Black-Panther-Barett bald Teil einer linken Popkultur. Hat Sie das gestört?

Ich hatte das Bild als Kandidatin der „Peace and Freedom“-Partei für das kalifornische Distriktparlament benutzt – aber Popstar? Nein, so fühlte ich mich nicht. Wir wollten keine Popkultur ins Leben rufen, wir wollten Revolution machen. Wir benutzten Kunst auf politische Weise. Erst später wurden unsere Symbole kommerziell verwertet.

Damals suchten viele Popstars die Nähe der Black Panthers: Jane Fonda, Shirley MacLaine, Leonard Bernstein.

Tatsächlich kam ich auf einer Fundraising Party in Hollywood Ende der Sechzigerjahre mit Shirley MacLaine und Donald Sutherland ins Gespräch. Ich hielt eine Rede: dass wir dringend Kautionszahlungen und gute Juristen brauchten, um unseren Anführer Huey Newton aus der Haft freizubekommen. Sie füllten unsere Koffer anschließend mit einer Menge Geld.

Die US-Behörden hatten Sie 1970 nach einem Besuch in Nordkorea zum Staatsfeind erklärt, Sie galten auch in Deutschland als Persona non grata. Wie haben Sie es dennoch geschafft, in Frankfurt Revolutionsreden zu halten?

Deutsche Sympathisanten der Black Panther hatten mich von Zürich aus mit einem Auto über die Grenze direkt nach Heidelberg und Frankfurt gebracht – mit einem gefälschten Schweizer Pass und einer Perücke aus glattem braunen Haar. Was mich erstaunte: Meine Helfer aus Zürich, betagte jüdische Doktoren, hatten schon während des Zweiten Weltkriegs Juden und Kommunisten aus Deutschland herausgeschmuggelt.

Können die von Twitter-Nachrichten mobilisierten Demonstranten von heute von den Black Panthers lernen? Immerhin tragen viele von ihnen T-Shirts mit Aufdrucken wie „Assata taught us“.

Assata Shakur gelang 1979 die Flucht aus einem amerikanischen Gefängnis ins kubanische Exil, der Staat New Jersey hat immer noch ein Kopfgeld von zwei Millionen Dollar auf sie ausgesetzt. Das macht diese Black-Panther-Veteranin für viele junge Afroamerikaner zu einer Widerstandsheldin. Andererseits haben die Kids, die heute in St. Louis, Ohio oder Los Angeles auf die Straße gehen, keine klaren Vorstellungen, wie sie die Gesellschaft ändern wollen. Die Panthers dagegen verfolgten von Anfang an ein Zehn-Punkte-Programm. Und wir waren gut organisiert. Was damit zusammenhängt, dass die meisten von uns aus stabilen Haushalten mit werktätigen Eltern und gemeinsamem Gottesdienstbesuch kamen. Diese Familien gibt es heute leider immer seltener. Die Jobs wurden gestrichen, die Nachbarschaften durch den Feldzug gegen Drogenkonsum zerstört, die Kinder sich selbst überlassen.

Warum haben Sie als Revolutionärin die Familienwerte hochgehalten?

Ich wollte die Politik verändern, nicht die Familie. Sonst hätte ich nicht geheiratet und Kinder bekommen.

Heißt das, dass Sie privat eine traditionelle Mutterrolle einnehmen?

Wenn Sie damit meinen, dass ich gerne die ganze Familie samt meiner zwei Enkel um den Esstisch versammle, um selbst gebackenes Hühnchen, Reis und Bohnen zu servieren: Ja. Es hat wohl auch mit meinem Familiensinn zu tun, dass ich mich so lange nicht von Eldridge Cleaver scheiden ließ.

Obwohl Ihr Mann nach Ihrer Rückkehr nach Amerika Mitte der Siebzigerjahre alle Ideale der Black Panther verriet, die Republikaner öffentlich unterstützte und als wiedergeborener Christ sich mit Leuten wie Billy Graham einließ?

Ich brauchte lange Zeit, um herauszufinden, dass der Mann, den ich einst liebte, ein Verrückter war. Er selbst wusste es. Nur ich hatte noch nie von dieser Krankheit gehört: manische Depression.

Sie kehrten 1981 nicht nur Eldridge, sondern auch dem bewaffneten Kampf den Rücken und studierten Jura. War das ein Eingeständnis, den falschen Weg gewählt zu haben?

Nein, ich wechselte nur meine Werkzeuge. Mich hatte es sehr beeindruckt, wie Huey Newtons Verteidiger den Gründer der Black Panther Party vor der Gaskammer rettete, ja sogar eine Freilassung auf Kaution erwirkte. Also wollte ich ihm als Rechtsanwältin nacheifern, und den Gefangenen helfen, die der Staat aufgrund unfairer Verfahren weggesperrt hatte.

Sie schimpften früher viel über das „Schweinesystem“. Was bedeutet es für Sie, heute unter einem schwarzen Präsidenten zu leben?

Bei einem Treffen mit dem jungen Senator Obama in Washington war ich von seiner Intelligenz und Umsicht beeindruckt. Aber dass er als Präsident das Land verändern könnte? Nein, daran glaubte ich nie.

Wenn Sie an Ihren Memoiren schreiben, beschleicht Sie da eine Sehnsucht nach Ihrem alten Leben?

Nein, nie. Ich erinnere mich an einen Tag, an dem ich in meiner Küche in Algier stand und dachte: Wow, ich bin 27 Jahre alt geworden. Ich dachte niemals, dass ich so lange leben würde. Diese Dankbarkeit spüre ich bis heute.

 

Zur Person

Kathleen Cleaver kam 1945 in West Memphis zur Welt. Ihr Vater war Soziologie-Professor, ihre Mutter Mathematikerin. Sie wuchs in Tuskegee, Alabama, auf. 1966 verließ Kathleen das College und übernahm einen Job beim Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC). Ein Jahr später lernte sie ihren Mann Eldridge Cleaver kennen. 1968 kandidierte Eldridge als Präsidentschaftskandidat der Peace and Freedom Party. Im Jahr darauf floh er nach einem bewaffneten Angriff auf eine Polizeistation nach Algerien. Kathleen folgte ihrem Ehemann 1969 ins Exil nach Algier. Dort zog das Ehepaar zwei gemeinsame Kinder groß. Mitte der Siebziger kehrte das Ehepaar Cleaver nach Amerika zurück. Eldridge wurde dort zu einer Haftstrafe verurteilt und kam 1976 gegen Kaution frei. Nachdem ihr Mann sich zum politisch konservativen Christen wandelte, ließ sich Kathleen Cleaver 1987 scheiden. Sie studierte Jura, arbeitete ein paar Jahre lang als Gerichtsgehilfin und Rechtsanwältin, bevor sie als Dozentin für African American Studies an der Yale University und Jura-Professorin an der Emory University School of Law in Atlanta unterrichtete. Heute lebt sie in Atlanta und Cambridge.

SZ 27.06.2015

JONATHAN FISCHER

Aus dem Kongo in den Orbit – Mbongwana Star aus Kinshasa entwerfen Zukunfts-Pop für Afrika

mbongwanaheader-720x400Einer der besten Gradmesser für den Umbruch unseres Afrikabildes ist die Art und Weise, wie wir afrikanischen Pop rezipieren. Viel zu lange hat der Westen afrikanische Bands aller Couleur in abseitige Reservate weggelobt: Weltmusik hießen sie, Global Music oder auch Ethnopop. Entgegen ihren klangvollen Namen zwangen sie die betroffenen Musiker in eine schmale Klammer zwischen Menschenrechtsaktivismus, Gute-Laune-Folklore und Barfußtanz. Die Nachfrage regulierte das Angebot.

Wo aber bleibt die viel beschworene Zukunft des Kontinents? Das neue, respektlose, Traditionen transzendierende und global agierende Afrika?

Eine Antwort kommt nun – ausgerechnet – aus Kinshasa. Mbongwana Star nennt sich ein siebenköpfiges Orchester aus der politisch dysfunktionalen, stets am Rande des Zusammenbruches stehenden Hauptstadt des Kongos. Mbongwana heißt nicht zufällig Wandel: Ihr Debütalbum From Kinshasa schafft einen afrofuturistischen Soundtrack, der dem Land, das in den siebziger Jahren ein Raumfahrtprogramm entwickelte und heute das Coltan für unsere Handys liefert, endlich auch musikalisch gerecht wird.

Bereits in den vergangenen Jahren waren aus Kinshasas Slums so atemberaubende Schrottorchester zu uns gekommen wie die – auch auf dieser Platte gastierenden – Metallofon-Rocker von Konono No 1. Blur-Sänger Damon Albarn hatte die mysteriösen Grooves der Stadt für sein technoides »DRC Music«-Projekt eingefangen. Und zuletzt sorgten Staff Benda Bilili für Furore, eine Truppe Polio-versehrter Rollstuhlfahrer, die sich auf den Straßen Kinshasas Blechdoseninstrumente und afroamerikanische Funkrhythmen aneigneten. Aus Letzteren rekrutiert sich nun der Kern von Mbongwana Star.

Während Staff Benda Bilili – auch dank der anrührenden und weltweit in den Kinos gefeierten Dokumentation Staff Benda – noch die Geschichte von ein paar hoffnungslosen Randfiguren erzählte, die aufgebrochen waren, um die Welt zum Tanzen zu bringen, kommt Mbongwana Star ganz ohne Sozialromantik aus.

Im Gegenteil: Als Staff Benda Bilili 2013 unter dem Druck des Erfolges zerbrachen, waren die beiden im Rollstuhl musizierenden Mittfünfziger Coco Ngambali und Theo Nzonza endlich frei für Experimente. Sie engagierten eine Truppe lokaler Nachwuchsmusiker. Gönnten ihren Gitarristen eine ganze Batterie von Verzerrungs- und Halleffekten. Und lenkten die populären Melodien und Rhythmen des Kongos in einen unkartierten Kosmos weit jenseits der Schwerkraft westlicher Afrikaklischees.

From Kinshasa To The Moon. So heißt passenderweise die düster drückende bis unheimliche Eröffnungsnummer. Von da an geht der Blick nie mehr zurück: Durch Dreckfilter gejagte Rumba-Gitarren treffen auf massive Bass-Impulse, die lieblichen Vokalharmonien des lokalen Soukous-Schlagers verbünden sich mit schroffer Postpunk-Ästhetik.

Ein Song wie Nganshe zitiert noch einmal den aufreizend quietschenden Sound einer Blechdosenlaute – nun aber unterlegt mit Acid-Rock-artigem Gitarrenfeedback und perkussivem Geschepper, das sich anhört, als würde es aus einem langen Tunnel heraushallen.

Auf Susanna konterkarieren honigsüße Ruf- und Antwortgesänge einen dunklen technoiden Dancehall-Rhythmus, während Malukayi auf eine hypnotisch kreiselnde Metallofonmelodie baut. Im Verein mit den scheinbar von der Statik eines Kurzwellensenders verzerrten Stimmen glaubt man die Tonspur einer verwirrenden, fremden, sinnlich überfrachteten Großstadt zu hören: afrikanische Mutanten-Disco.

»Die Zukunft eines Landes liegt in der Fähigkeit seiner Bewohner, sich eine Utopie zu erfinden, die diese Zukunft tragen kann«, schreibt der kongolesische Schriftsteller Muepu Muamba.

Mbongwana Star lösen dieses Versprechen ein. Bloß hier und da hat der weiße französische Elektro-Produzent Liam Farrell, besser bekannt als Doctor L, ein bisschen Hilfestellung geleistet. Farrell ließ die Musiker in langen Jam-Sessions an die Grenzen ihrer Imagination rudern.

Man spürt das im Video zu Malukayi, in dem ein Astronaut in einer verrauchten Slum-Hütte irgendwo in Kinshasa zwischen Rollstuhlfahrern, Perkussionisten und halb nackten B-Boy-Tänzern herumtorkelt. Man spürt es auch in den pophistorischen Querverweisen.

Da erinnern rohe, kratzende Funkgitarren an die Energie des New York der frühen achtziger Jahre. Es ist, als ob der Aufbruchsgeist dieser Zeit, die einer noch ungeformten Popzukunft entgegenfieberte, plötzlich in einer afrikanischen Metropole der Gegenwart seinen Wiedergänger fände.

Dabei entstanden ist der Sound eines neuen Kongos, der sich auch in neuartigen Kooperationen niederschlägt: Studenten der Kunstakademie von Kinshasa erschienen regelmäßig zu den Proben und steuerten visuelle und akustische Ideen bei.

Am Ende besorgte Farrell vor allem die richtige Verpackung. Er kühlte die Jams am Mischpult auf Clubtemperatur herunter. Und brachte Mbongwana Star auf eine neue Umlaufbahn – von den Schrotthalden Kinshasas geradewegs in den Orbit des globalisierten Pop.

JONATHAN FISCHER

DIE ZEIT 25.6.2015