Monatsarchiv: Juni 2013

Prediger des Blues: Der Sänger Bobby „Blue“ Bland ist gestorben

Bobby „Blue“ Blands Auftritte waren so mitreißend, wie die Gottesdienste in den Gospelkirchen seiner Heimatstadt Memphis, Tennessee. Schwarze Großfamilien aller Generationen klopften da den Takt auf ihren Kühlboxen mit, riefen dem elegant gekleideten Mann die Refrains zu: „If you got a heartache, ain’t nothing you can do“. Niemand verstand sich so gut darauf, den oft so nach Innen gerichteten Blues als kollektives Ritual zu zelebrieren wie er. Und sobald er seinen warmen Bariton erhob, mit sanftem Schnurren die Luft zum Vibrieren brachte, glänzten manche Gesichter tränenfeucht.

Weil unter seiner Weltmüdigkeit stets auch die Inbrunst des Gospel loderte, konnte es etwas Verbindendes haben, wenn er über die Einsamkeit sang. Da klagte nicht einer über sein eigenes Leid, sondern über das Leid aller. Auch deshalb haben sich seine Songs tief ins Gedächtnis Amerikas eingegraben, gehören Balladen wie „St. James Infirmary“, „I Pity The Fool““ und „Cry Cry Cry“ oder das vorwärtstreibende „Turn On Your Lovelight“ zu den Standards der Blues- und bald auch der Rockgeschichte.

Er brauche ein Mindestmaß an Tragik, verriet der Boby „Blue“ Bland in einem seiner seltenen Interviews. Und: „Mir geht es darum, mit möglichst wenig Worten möglichst viel zu sagen“. Dabei half ihm stets sein Markenzeichen, ein kehliges, suggestives Grunzen: „Ngchchrrr“. The squall. Ein Gurgellaut, der ganze Geschichten erzählten konnte. Viele haben sich an Blands Intonation versucht, aber niemand hat ihn erreicht: Weder sein einstiges Vorbild B. B. King noch Verehrer wie Van Morrison oder Simply-Red-Sänger Mick Hucknall.

Auf Don Robeys Duke-Label entwickelte Bland Ende der Fünfziger Jahre einen eigenwilligen Bigband-Stil. Und als ihm nach Erfolgsalben wie „Dreamer“ Mitte der Siebzigerjahre das Disco-Aus drohte, rettete das Südstaaten-Soul-Label Malaco ihn und seine treue Fangemeinde. Zwei Jahrzehnte sampelte Jay-Z Blands „Ain’t No Love In The Heart Of The City“ und eroberte für ihn die Hip-Hop-Generation.

Bland, der früher ein seidenes Taschentuch aus der Brusttasche zog und sorgfältig vor sich auf der Bühne entfaltete, bevor er sich zum Gefühlsausbruch niederkniete, hat zwar anders als B. B. King nie den weißen Mainstream erreicht. Und doch verkörperte er den Bluestraum der schwarzen Unterschicht: Haltung bewahren selbst im Dreck. Am Sonntag verstarb Bobby „Blue“ Bland mit 83 Jahren nach langer Krankheit in seiner Heimatstadt Memphis, Tennessee.
JONATHAN FISCHER
SZ 25.6.2013

„Alles ist besser, als hierzubleiben“: Der Senegalese Moussa Touré über seinen Film „Die Piroge“

Gut sechzigtausend verzweifelte Westafrikaner sollen in den vergangenen sieben Jahren versucht haben, mit Pirogen vom Senegal zu den Kanarischen Inseln überzusetzen. Nach Angaben senegalesischer Verbände von Familienangehörigen kam dabei jeder zehnte Flüchtling ums Leben. Der senegalesische Filmemacher Moussa Touré über seinen Film „Die Piroge“, die Verantwortung der Afrikaner für die Bootsflüchtlinge und warum die Jugend im Senegal heute neue Hoffnung schöpft.

SZ: Herr Touré, was hat Sie dazu bewogen, einen Spielfilm über Bootsflüchtlinge aus Senegal zu drehen? Wollen Sie die Europäer wachrütteln?

Moussa Touré: Das auch, aber ich habe den Film in erster Linie für ein afrikanisches Publikum gedreht. Schließlich bin ich Senegalese. Wir haben ihn mangels funktionstüchtiger Kinos vor 8000 Zuschauern Open Air in einem Vorort von Dakar uraufgeführt und dann vor noch mal so vielen Menschen im größten Theater der Stadt. Die Menschen haben mit den Protagonisten, die während der Überfahrt auf der Piroge nach und nach all ihre Hoffnung verlieren, mitgeflucht, mitgeweint, ihre eigenen Wunden gespürt. Sie sind viel näher dran als europäische Zuschauer.

Einer der Darsteller sagt: „Ich fahre nach Europa, um wieder in die Geschichte einzutauchen.“ Wie meinen Sie das?

Das ist eine Antwort an Europa und an Sarkozy, der bei seinem Besuch in Senegal vor einem Saal voller Studenten behauptete: „Ihr Afrikaner seid noch nicht in die Geschichte eingegangen.“ Das klang nicht nur für meine Ohren geringschätzig. Viele der Großväter dieser Studenten haben im Zweiten Weltkrieg an der Seite Frankreichs in Europa gekämpft. Und unser Präsident Wade, dieser Speichellecker, hat Sarkozy auch noch in Schutz genommen.

Wollen Sie mit Ihrem Film auch die Regierung Ihres Landes anklagen?

Ja, ich habe den Film gedreht, als noch Präsident Wade an der Macht war. Seine Regierung hat der Jugend nichts geboten. Da gab es zwar Millionenzahlungen von der EU, um die Flucht zu stoppen und um Gegenmaßnahmen vor Ort zu initiieren. Und was hat die Regierung gemacht? Man drückte jedem rückgeführten Flüchtling 15 Euro in die Hand, der Rest ist wohl in irgendwelchen dunklen Kanälen versickert.

Wie würden Sie die Botschaft Ihres Filmes „La Pirogue“ zusammenfassen?

Nun, Botschaften sind Sache des Propheten Mohammed. Eher sehe ich mich als Chronisten. Ich spüre, was die Senegalesen berührt, welche Freuden und Sorgen wir teilen, und setze das filmisch um. Mein französischer Produzent hat mich drei Jahre verfolgt, bis ich bereit war, mit ihm „Die Piroge“ zu drehen: Anfangs hatte er mir zu viele europäische Ideen im Kopf. Dabei bin ich viel näher an der wahren Situation der Menschen hier. Ihrer Hoffnungslosigkeit. Aber auch ihrem Ehrgeiz, ihrem Aktionshunger, ihrem animistischen Glauben. In der Vergangenheit habe ich nicht nur Spielfilme, sondern auch viele Dokumentationen gedreht: Über die Polygamie, Vergewaltigungen, Straßenkinder, gestrandete Immigranten in Europa. Oft vergleiche ich dabei, wie Menschen auf dieselben Probleme in Europa und Afrika reagieren.

Jedes sechste Boot geht auf der Überfahrt verloren, Tausende Afrikaner sind in den vergangenen zehn Jahren im Atlantik ertrunken. Riskieren nicht viele junge Senegalesen ihr Leben, weil sie sich Wunderdinge in Europa erhoffen?

Wir sind alle durch das Internet mit Europa verbunden. Auch gibt es jede Menge zurückgekehrte Flüchtlinge und Immigranten: Den Jugendlichen mangelt es nicht an Information. Sie wissen, dass in Europa kein Paradies auf sie wartet. Und trotzdem denken sie sich: Alles ist besser, als hierzubleiben, an der Armut zu ersticken. Einer der Bootsflüchtlinge in meinen Film sagt: „Selbst wenn eine Welle den Motor zerbricht und wir alle ertrinken – wir wollen nicht zurück.“ Wir Afrikaner haben eine andere Art, das Leben mit allen seinen Konsequenzen, ja selbst den Tod zu akzeptieren.

Die Lösung des Flüchtlingsproblems liegt also in Afrika?

Jahrzehntelang hat die senegalesische Regierung angesichts dieses Problems die Arme verschränkt. Erst mit unserer neuen Regierung unter Präsident Macky Sall passiert etwas: Mit der Rückkehr der Hoffnung ist der Flüchtlingsstrom abgeebbt. Keine europäische Wirtschaftskrise und auch kein Film über die Gefahren der Überfahrt hätte das erreichen können.

Was leistet die neue Regierung konkret, um diese Hoffnung zu rechtfertigen?

Erstens werden endlich korrupte Politiker zur Rechenschaft gezogen. Zweitens hat die Regierung sich mit Vertretern der senegalesischen Jugend getroffen und Arbeit für viele junge Menschen mit Universitäts-Diplom geschaffen. Drittens hat Macky Sall neue Fischereiverträge mit den Ländern der EU geschlossen.

Profitieren Sie als Filmemacher auch von dieser neuen Politik?

Wir sind ein armes Land. Da hat die Kulturförderung nicht den allerhöchsten Rang. Trotzdem stellt die neue Regierung für nächstes Jahr eine Milliarde CFA, das sind fast zwei Millionen Euro, für die Wiederherstellung der Kinos im Senegal bereit. Das ist Teil eines Plans, um den Jugendlichen wieder Hoffnung zu geben. Dazu sichert der Staat durch Gehälter und eine feste Anzahl von Konzerten den Lebensunterhalt unserer Hip-Hop-Musiker und anderer junger urbaner Künstler.

Ist das auch ein Verdienst des neuen Kulturministers Youssou N’Dour?

Er ist ein großer Segen. Wir sind seit Langem befreundet, und er hätte sogar die Musik für „Die Piroge“ machen sollen. Aber als Minister ist er einfach zu beschäftigt. Dafür arbeite ich gerade an einer Verfilmung seines Lebens.

Wird also ein Youssou-N’Dour-Biopic Ihr nächster Kino-Beitrag?

Nein erst drehe ich noch einen Film über den Konflikt zwischen Flamen und Wallonen in Belgien. Und zwar deshalb, weil wir Afrikaner Erfahrung auf diesem Gebiet haben: In Senegal leben immerhin über ein Dutzend Ethnien friedlich zusammen.

INTERVIEW: JONATHAN FISCHER
SZ 22.6.2013

Rebellion des Lebenshungers! Aus dem Mississippidelta in die Zukunft des Rock: Die „Sun Blues Box“ liefert die bisher umfangreichste Dokumentation der Blues- und Rock’n’Roll-Pioniere

Mitte der achtziger Jahre fuhr Rufus Thomas mit seinem roten Sportwagen vor dem Admiral Benbow Inn in Memphis vor: Keine Show, bloß ein Interview sollte der seit dem Abschied von Stax ein wenig aus der Zeit gefallene Blues- und Funkveteran geben. Thomas wusste natürlich, was er seinem Ruf schuldete: Anzug, Einstecktuch, Krokodillederschuhe und ein paar lässige Sprüche zu den schwarzen Damen an der Rezeption, die prompt in Gekreische ausbrachen: „Oh, it’s Rufus!“

Das Interview lief dann weniger als Antwort-Frage-Spiel, sondern mehr als Rezitativ – eine von Schmähungen und Witzen untermalte Geschichtsstunde, in der Rufus Thomas augenrollend seine neueste Schöpfung, einen, nun ja, Rap-Song, vorführte und die Musikindustrie von Memphis samt dem untergegangenen Soulkonzern Stax als unfähig schimpfte, allerdings eine Plattenfirma davon ausnahm: Sun Records. Nun gut, Sam Phillips sei natürlich ein gerissener weißer Geschäftemacher gewesen, der seine schwarzen Künstler fallenließ, nachdem er mit Elvis, Jerry Lee Lewis und Carl Perkins seine Umsätze verzehnfachen konnte. Und doch habe Sun Records den Grundstein gelegt: „Wir Schwarzen hatten da mit dem Blues etwas Kostbares; aber Sam war der Weiße, der zuerst verstand, wie man die Sache verpacken und verkaufen konnte. Der Blues ähnelte einem Notenblatt. Wir brachten die schwarzen Noten, er das weiße Papier.“ Auf diese Weise kristallisierte Sun Records die kreativen Schätze Hunderter Bluesmusiker aus dem Hinterland von Memphis in Singles, deren Wirkung sich nicht in Chart-Erfolgen erschöpfte und deren Erregungswelle bis heute die Popmusik antreibt.

Rückblickend kann man behaupten, dass Sam Phillips‘ Plattenfirma den Blues aus den Baumwollfeldern des Mississippideltas in die Herzen der schwarzen und weißen Großstadtjugend katapultierte. Er presste unerhörte „Dschungel“-Rhythmen auf die Singles mit dem gelben Sonnenlogo und bereitete rohe ländliche Traditionen zu donnernden Vorboten des Rock’n’Roll auf. Hier ging es nicht um gitarrenzupfende Bluesonkels im Schaukelstuhl. Typen wie Ike Turner oder Howlin‘ Wolf verkörperten sexy Gewalt – und gewaltigen Sex.

Alles, was Pop in den nächsten Jahrzehnten seinen Treibstoff liefern würde, schimmerte als Rohdiamant durch die Singles von Little Junior Parker, Roscoe Gordon, Joe Hill Louis oder BB King. Aus Bluesmännern erwuchsen Rock-Entertainer. Hipster, die den Farmerschmutz unter den Fingernägeln gegen die neueste Hutmode eingetauscht hatten, Show-Stars, die wussten, wie man aus einem Auftritt einen rhythmischen Aufstand macht und jede Menge Adrenalin in Gitarren und verzerrte Rhythmen packt. Vielleicht verkörperte niemand diesen neuen Typus des Entertainers besser als Rufus Thomas. Der „Tigerman“ ging selten ohne seine Plateaustiefel und Tigerhöschen auf die Bühne und nahm mit Blues-Aufputschmitteln wie „Tigerman“ oder „Bearcat“ sowohl die Energie als auch den Aberwitz späterer Funk- und Hip-Hop-Künstler voraus. Als die Jon Spencer Blues Explosion diesen Mann in den neunziger Jahren als special guest zurück auf die großen Bühnen brachte, war Sam Phillips‘ Studio längst zum Mythos herangewachsen: als Ort, wo der Blues zu seiner Hipness fand und aus dem Mississippischlamm die Rockmusik der Zukunft heranwuchs.

Höchste Zeit also für eine Anthologie, die die Memphis-Blues-Männer (und auch ein paar Frauen) aus dem Schatten des später alles überschattenden Labelkollegen Elvis heraustreten lässt und sich nicht mit den üblichen greatest hits zufriedengibt: „The Sun Blues Box“. Die Zehn-CD-Box, inklusive erst jüngst gefundener Bänder, nie veröffentlichter Outtakes und eines akribisch recherchierten Buchs im LP-Format, hat höchsten Unterhaltungswert. Der Blues kocht da, anders als die ihn heute domestizierenden Coffeehouse-Langweiler, über vor Frechheit und kreativem Mut: Wahnsinnige Ein-Mann-Bands wie Joe Hill Louis rattern sich ins Delirium, Gospelquartette flehen um Erlösung, und Roscoe Gordon droht über einem besoffenem Piano-Riff seine Gespielin umzulegen. Man hört Sam Phillips krude Versuche, mit dem Echo zu spielen, Verzerrung und Mehrspurtechnik ins Spiel zu bringen. Und man erfährt – wenn nicht aus den Liedtexten, dann zumindest aus dem Beibuch -, was Karrieren zwischen Juke Joints und Straße mit sich bringen können: Alkohol, Armut, Gewalt, Ehebruch und Betrug färben die Biographien vieler Bluesgenies, die hier eine späte Würdigung erfahren, dunkel bis bitter ein.

Wen wundert es, dass diese Musik kaum einmal gemütlich wirkt, sondern wie eine Rebellion des Lebenshungers gegen Wohlstand und Sattheit der Nachkriegsjahre wirkt? Oft genug erzählen die Bluessongs die Geschichten derjenigen, die das Delta auf dem Weg nach Norden – und auf der Suche nach einer besseren Welt – verließen und dabei notgedrungen Sam Phillips‘ Studio in der Union Street kreuzten. So hatte der Sun-Produzent das Glück, spätere Legenden wie Howlin‘ Wolf, Junior Parker, James Cotton, Little Milton und B.B. King ganz am Anfang ihrer Karriere aufzunehmen.

Kompromisse mit dem Mainstream spielten damals noch keine Rolle. Die Songs zielten ausschließlich auf die schwarzen Radiostationen. Und Sam Phillips brauchte sich keine Sorge um den Nachschub an Talenten zu machen. Die großen Plattenfirmen hatten während des Zweiten Weltkriegs aufgrund der Schellack-Rationierung die meisten ihrer Musiker ohne nationales Pop-Publikum entlassen. Das traf vor allem Bluesmusiker. Unabhängige Labels wie Sun, oder Chess in Chicago, waren in die Bresche gesprungen. Ihnen reichten schon 30 000 verkaufte Singles für einen Hit. Obendrein hatten die Künstler kaum Agenten und Rechtsanwälte, Verträge beschränkten sich oft auf Einmalzahlungen, und das Publikum verlangte keine aufwendig polierten Soundqualitäten – zum Glück, können wir heute sagen.

Denn Sam Phillips‘ Aufnahmen entfalten ihre Intensität nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer technischen Beschränktheit. Der Blues wird hier auf der Schwelle vom Delta in die großen Städte des Nordens festgehalten. Verzweiflung, Hoffnung und Zukunftserregung schwingen immer mit – und eine zärtliche Brutalität, die Rufus Thomas einmal dazu veranlasste, den Blues „dieses Ding, das dir ein Loch in deine Eingeweide brennt“, zu nennen.

JONATHAN FISCHER, FAZ 4.6.2013

„The Sun Blues Box“. Blues, R&B and Gospel Music in Memphis 1950-1958
10 CDs, Begleitbuch, Bear Family ECD 17310