Monatsarchiv: August 2019

New Orleans Blues: 14 Jahre nach „Katrina“ ist die Stadt am Mississippi schicker und sauberer als je zuvor – doch vor allem Musiker und Künstler müssen nun ums Überleben kämpfen

New Orleanians lieben es, die letzten Ruhestätten ihrer Toten zu besuchen. In afrokaribisch inspirierter Tradition schütten sie Bier auf die Gräber, hinterlassen Plastikketten und Schmuck an den weiß gekalkten Gruften, die als Ensemble oft an eine exotische Miniaturstadt erinnern. Aber auf dem berühmtesten Friedhof der Stadt, dem St. Louis Cemetery No. 1, stehen jetzt Verbotsschilder: Gräber markieren, Gegenstände ablegen unter Strafe verboten. Neuerdings kann man Touristinnen beobachten, die heimlich Lippenstiftspuren an einer drei Meter hohen Pyramide hinterlassen, der zukünftigen Grabstätte von Nicolas Cage.

  Ja, Nicolas Cage, der Schauspieler und Wahl-New-Orleanian. Sein sauberer weißer Neubau mag so gar nicht zu den bröckelnden, wettergezeichneten Gräbern der Umgebung passen. „Die Gentrifizierung macht nicht mal vor den Toten halt“, witzelt Chuck Perkins, ein Musiker und Clubbetreiber. „Seit Katrina werden die Armen und Schwarzen aus den älteren Teilen von New Orleans vertrieben. Die Stadt will sie nicht mehr haben. Lebendig oder tot.“

  Am 29. August 2005 waren infolge des Hurrikans Katrina mehrere Deiche gebrochen, 80 Prozent der Stadt wurden überflutet, Hunderttausende obdachlos. Vierzehn Jahre später sind die Schäden behoben, zieht der Mississippi-Hafen die Touristen an, als wäre nichts gewesen: „New Orleans hat ein Facelifting bekommen“, sagt Chuck Perkins. Der Mann mit dem Batikhemd und der polierten Glatze sitzt mit einem Bier vor seinem Liveclub Cafe Istanbul, nur ein paar Meilen östlich des Touristenviertels French Quarter. Früher standen hier nur blätternde Baracken. Jetzt zieht das einstige Glasscherben- und Drogendealerviertel Bywater Yuppie-Kunden aus der ganzen Stadt an, die eines der frisch gestrichenen Yoga-Studios und veganen Cafés besuchen, im Biomarkt einkaufen oder nach Esoterik-Büchern wühlen wollen. Viele von ihnen, sagt Perkins, seien Helfer, die nach Katrina geblieben sind.

  Sein eigener Musikclub ist Teil eines dreistöckigen, rosa gestrichenen „Healing Centers“ – die Vermieterin, eine weiße Voodoo-Priesterin, hat es so genannt. Ein Name, der sich nicht nur auf ihren eigenen Kräuterladen bezieht, sondern die Hoffnung auf einen Neuanfang für eine innen und außen kaputte Stadt symbolisiert. „Alle fluchen in dieser Stadt“, wütet Chuck Perkins in seinem Songtext „Everybody Swears“, während „Träume so groß wie Berge zur Größe kleiner geballter Fäuste zerhäckselt werden“. So klingt der New-Orleans-Blues. Eine Hassliebe, die Perkins mit vielen der hier lebenden Musiker und Kulturschaffenden teilt.

  Nun aber geht es um das neue New Orleans. Und darum, wer von der Renovierung und Ausschmückung der einst so ranzigen Viertel um das French Quarter profitieren darf. Und wer dabei auf der Strecke bleibt. Schon seit Generationen lastet der Fluch der Armut auf dieser Stadt. Katrina machte für alle Welt sichtbar, was viele New Orleanians längst wussten: dass der amerikanische Traum sie außen vor gelassen hat.

  Und doch bezaubert dieser mythische Ort nicht nur Touristen: Wo sonst spielt sich so viel vibrierendes Leben, so viel genuine Folk-Tradition auf den Straßen ab? Wo sonst können 16-Jährige mit Gold Grillz jede Zeile von Louis Armstrong zitieren? In einer Walmart-Nation sticht der Mississippi-Hafen als Ansammlung von Straßenmärkten, Gewürzläden, Kaffeeröstereien, Eisständen und – fast am wichtigsten – lokalen Dancehalls heraus. Mit ihrer Melange aus afrikanischer, spanischer, französischer und karibischer Kultur nahm die Stadt die polyglotte Entwicklung der Einwanderernation Amerikas voraus. Rechte Ideologen mögen gerade das Miteinander von Religionen und Ethnien zum Problem hochkochen. New Orleans aber lieferte stets den Gegenbeweis: dass man, allem Rassismus zum Trotz, über Küche, Musik und Tanz zusammenkommt. „Wir waren mit Maskenbällen und Bordell-Orchestern schon multikulturell und sophisticated“, sagt Perkins, „als die meisten amerikanischen Städte noch nicht einmal eine Friseurladen-Combo hatten.“ Klar, dass kein anderer Ort als Wiege des Jazz und Rock ’n’ Roll infrage kam. Der Prozess der Aneignung, des Synkretizismus und der Neuerfindung hält die Stadt bis heute am Laufen: „Wir sind das demokratische schwarze Herz Amerikas. Wer hier lebt, kennt allerdings auch die Risse und Brüche hinter der Partyfassade.“

  Die Risse und Brüche: Das seien, sagt Chuck Perkins, etwa die Liveclubs, die ihre Musiker zumeist miserabel bezahlen, damit sie Klischees für Touristen aufführen. Und die Mietpreise, die sich etwa in Bywater seit Katrina verdoppelt hätten. Oder die gutsituierten Zuzügler, die sich Häuser in traditionell schwarzen Vierteln wie Treme kauften, um sich dann an den vielen Straßenparaden und Bars mit ihrer nächtlichen lauten Musik zu stören. Dabei seien es gerade diese verarmten Nachbarschaften, die seit jeher die wichtigsten Musiker und Künstler hervorgebracht hätten. Die das Netzwerk einer Überlebenskultur am Leben hielten. Die Stadt aber investiere lieber in Casinos, neue Hotels und disneyfizierte Jazz-Themenparks als in erschwingliche Wohnungen. Wer bleibe dann noch vor Ort, um die Traditionen weiterzugeben? Perkins schlägt die Bierdose auf den Tisch: „Kann man sich New Orleans ohne die Umzüge der Brassbands und den Straßenjazz überhaupt vorstellen?“

  Gerade hat Donald Trump den Wahlkreis des schwarzen demokratischen Abgeordneten Elijah Cummings in Baltimore als „widerliches, von Ratten und Nagetieren befallenes Drecksloch“ beschimpft – vielen New Orleanians kommt das nur allzu bekannt vor. „Die Rache Gottes“, höhnten nach Katrina christlich-fundamentalistische Prediger über die „Lasterhöhle“ New Orleans. Und einige republikanische Abgeordnete diskutierten gar, ob man die Stadt – eine demokratisch wählende Insel inmitten des erzkonservativen Louisiana – überhaupt wieder aufbauen sollte.

  Wie Baltimore hat New Orleans ein Gewaltproblem. Hier wird man mit dreimal höherer Wahrscheinlichkeit Opfer eines Gewaltverbrechens als im Rest der Vereinigten Staaten. Nirgends landen so viele Menschen im Gefängnis wie in Louisiana, nirgends ist die Armut erschreckender. Und wenn der Tourismus das große Zugpferd dieser Stadt darstellt, dann fließt der Profit vor allem an eine kleine exklusive Elite. Die Statistiken sprechen für sich: Obwohl fast zwei Drittel der Einwohner Afroamerikaner sind, gehören ihnen nur wenige Geschäfte in New Orleans. Von den rund acht Milliarden Touristendollar, die in der Stadt jährlich umgesetzt werden, profitieren vor allem alte weiße Männer. Im French Quarter etwa sind gerade mal vier Läden in schwarzer Hand. Viele Afroamerikaner arbeiten dagegen für Mindestlöhne in den großen Hotels. Es hängt also durchaus davon ab, auf welcher Seite man steht, um die Stadt als Goldgrube oder moderne Plantage wahrzunehmen.

  Sean Cummings, Hotelbesitzer und Großinvestor, gehört zu den Gewinnern des neuen New Orleans. Ziegelmauerwerk, riesige Glasfenster und karges Design prägen sein Loft in Bywater. Es ist Teil eines dreistöckigen Ware House aus dem Jahr 1892, das einst die größte Reismühle der Vereinigten Staaten war und heute als Leuchtturmprojekt für die Revitalisierung von Bywater gilt. „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das noch vor 15 Jahren aussah“, sagt Cummings. Mit seiner zerschlissenen Jeans wirkt er kaum wie einer der reichsten Männern der Stadt. „In der Ruine hausten Obdachlose und Junkies, die Wände waren vollgeschmiert.“

  Auf eines der Graffiti – er hat es für viel Geld konservieren lassen – ist er aber stolz: Banksy sprühte hier 2008 zwei Uniformierte, die durch ein Fenster Elektrogeräte plündern. Ein Hipster-Eldorado sei hier am Entstehen: Die örtliche Akademie für Nachwuchsmusiker, Nocca, liegt gleich um die Ecke, und Cummings hat mehrere Blocks der Nachbarschaft renoviert: „Die Stadtverwaltung hat uns vorgegeben, einen Teil der Wohnungen für Sozialfälle bereitzustellen. Die Armen sollen sich von der Mittelklasse mitziehen lassen, denn nur so locken wir auch neue Geschäfte und Touristen an.“ Die Kriminalität sei deutlich gesunken, das Durchschnittshaushaltseinkommen gestiegen, die Schulen seien besser geworden. Dass für einige der alten Bewohner dennoch kein Platz bleibt, bestreitet er nicht. Der Markt könne nur denen helfen, die sich selbst helfen.

  Es ist nicht das erste Mal, dass New Orleans um seine Seele ringt: Schon im 19. Jahrhundert gab es Bestrebungen, die Stadt zu „säubern“ und so Investoren anzulocken: etwa in den 1890erJahren, als man das Rotlichtgewerbe mit seinen zwielichtigen Bars und Musikkneipen in einen Bezirk nördlich des French Quarter verbannte. In diesem Storyville sollten bald wild improvisierte Klänge erschallen, denen der Ruch der Unmoral anhaftete: Jazz. Oder 1917, als bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein amerikanisches Militärcamp in der Stadt eröffnete: Um die als „skandalös“ erachteten sexuellen Kontakte zwischen Schwarz und Weiß zu unterbinden, wurde eine strikte Rassentrennung durchgesetzt und Storyville abgerissen.

  Der Jazz aber ließ sich nicht mehr aufhalten, nicht vom Umbau des French Quarter zum Freizeitpark nach dem Versiegen des Ölbooms in den Achtzigerjahren, nicht durch Polizeigewalt oder Korruption – sein rebellischer Spirit und schmutziger Funk wurde in den schwarzen Nachbarschaften informell weitergegeben. Zuletzt kamen weltweit gefeierte Acts wie Trombone Shorty, Christian Scott, die Rebirth und die Hot 8 Brass Band aus dieser Straßenschule. Musiker, für die der Jazz mehr bedeutet als bequeme Dinner-Unterhaltung. Für sie war diese Musik der Arschtritt, der sie vor der Kleinkriminellen-Karriere bewahrt hat, der sie überleben ließ, der sie selbst dann begleitete, als etwa Trombone Shorty seinen ermordeten Bruder zu Grabe trug, während der Vater Trompete blies und die Mutter auf dem Sargdeckel tanzte.

  Posaunen riffen, trunkene Trompeten jubeln, während Tuba und Becken einen Hip-Hop-Beat pumpen. Die Parade des Single Ladies Social Aid & Pleasure Club ist schon die dritte, die sich an diesem Wochenende ihren Weg durch die Rampart Street bahnt. Der Brass Band und den Ladys mit ihren Schirmen und Perücken folgt die sogenannte Second Line: Ein Pulk von Passanten, die auf mitgebrachte Töpfe trommeln, über Autos tanzen, sich besaufen, mit Wildfremden verbrüdern – und hoffen, dass es dieses Mal nicht wieder in einer Schießerei ausartet.

  Bennie Pete, Bandleader der Hot 8 Brass Band, stellt seine Tuba für einen Schluck Bier ab und erzählt: „Nirgendwo anders kann man so arm sein und sich gleichzeitig so reich fühlen wie in New Orleans. Du brauchst dazu kein Geld. Wenn du einer Second Line folgst, bist du selbst zu jemandem geworden, der die Kultur am Leben erhält.“ Pete ist ein Berg von einem Mann. Sein Blick aber wirkt müde. Bis zu drei Gigs am Tag spiele seine Band. Auf Paraden, Schulfeiern, in Clubs – und bei Beerdigungen für Jugendliche. „Diese Junggestorbenen hatten keine Chance zu leben.“ In den letzten 22 Jahren habe es mindestens tausend solcher „Jazzbegräbnisse“ gegeben.

  Die Hot 8 Brass Band erlangte auch dadurch traurige Berühmtheit. Vier Bandmitglieder hat sie bereits verloren – erschossen unter ungeklärten Umständen, teilweise durch Polizisten. Er denke die ganze Zeit daran aufzuhören, sagt Pete. Aber dann gebe es diese Dinge, die man an New Orleans lieben müsse: „Jeder in deiner Nachbarschaft wird dir jederzeit etwas zu essen anbieten oder ein Bett in seinem Haus. Da ist so viel Liebe. Wir haben kein Geld, um mit unseren Problemen zum Psychiater zu gehen. Aber wir haben die Musik.“

  Überall auf der Welt werde auf Begräbnissen getrauert. In New Orleans dagegen feiere man auch die guten Zeiten, die man mit dem Verstorbenen verbracht habe. „Wir tanzen auf ihn. Das ist ein Lebensstil. Weil wir von vorneherein akzeptieren, dass der Tod zu unserem Leben gehört.“ Dann schnallt sich der Bandleader der Hot 8 wieder seine Tuba um. Bläst einen gewaltigen Basslauf an. Die Tänzer strömen aus den benachbarten Kneipen, folgen ihm mit lautem Gejohle. Nichts fängt den Swing, den Schmerz und die Selbstbehauptung dieser Stadt besser ein als eine Second Line.

  Wer sich an dem Radau störe, sagt Pete, habe New Orleans nicht verstanden: „Wir müssen heute feiern. Weil wir morgen schon tot sein können.“

JONATHAN FISCHER

SZ 17.8.2019Hot 8 brass band

Anwältin menschlicher Seelen – Die Bücher dieser großen, musikalischen Dichterin prägten ganze Generationen schwarzer Autoren. Zum Tod der amerikanischen Nobelpreisträgerin Toni Morrison

Toni Morrison brachte zuvor kaum ausgesprochene Wahrheiten zu Papier. Schon ihr erster Roman „The Bluest Eye“ von 1970 machte deutlich, dass die afroamerikanische Schriftstellerin niemanden schonen würde: Ein junges schwarzes Mädchen namens Pecola Breedlove wird darin von ihrem Vater vergewaltigt – und nimmt sich vor, eine andere zu werden. Ihr schmerzlich unerreichbares Idol: Shirley Temple, der weiße Kinderstar ihrer Zeit. Die Geschichte brachte nicht nur den Schmerz und den unterdrückten Zorn derer, die unter einer rassistischen Gesellschaft leiden, auf den Punkt. Sie ließ auch die Ungeheuerlichkeiten durchscheinen, die schwarze Familien in den USA von innen zerstören konnten.

  Vor allem aber spielten Toni Morrisons Erzählungen immer auch universelle Motive aus. Hier schrieb keine schwarze Schriftstellerin für schwarze Leser über schwarze Menschen. Hier schrieb eine Seelenforscherin und Menschenrechtsanwältin über das menschliche Leiden und die Größe derer es bedurfte, um daran nicht zu zerbrechen.

  Morrison kam 1931 in Lorain, Ohio, als zweites von vier Kindern einer Arbeiterfamilie zur Welt. Ihren Namen Chloe Anthony Wofford änderte sie erst als Studentin der Howard University in Washington, D.C., Toni war einfacher auszusprechen. Den Nachnamen Morrison verdankte sie einer nach sechs Jahren geschiedenen Ehe mit einem jamaikanischen Architekten. Ihre Heimatstadt Lorain, ein ärmlicher, heruntergekommener Industriestandort im Mittleren Westen diente der Schriftstellerin später als Kulisse für mehrere ihrer Bücher. Als Kind erlebte sie eine Welt der physischen und der psychischen Rassentrennung. Ihr Vater habe keiner weißen Person getraut, sagte sie einmal. Sie selbst verdiente sich ein Zubrot als Haushälterin für bessergestellte weiße Familien.

  Erst durch ihre Arbeit in einer öffentlichen Bücherei kam sie mit Literatur in Kontakt. Sie begeisterte sich für die Klassiker von James Joyce bis Leo Tolstoi. Und nahm sich vor, den Namen- und Stimmlosen eine Stimme zu geben. Zunächst aber arbeitete sie Vollzeit als Lektorin beim Verlag Random House. Großartige Romane wie „Sula“ (1973) entstanden in Nachtarbeit. Die zweifache Mutter sah das Schreiben als Berufung, ihre vermeintlich doppelte Stigmatisierung als Schwarze und als Frau empfand sie als Herausforderung: „Wenn du den Blick des weißen Mannes – oder auch der weißen Frau – aus der Welt schaffst, herrscht plötzlich Freiheit“, sagte sie in einem Interview. „Du kannst alles denken, überall hingehen, dir alles vorstellen. Und du musst nicht mehr durch die Augen der Herren sehen“.

  Der weiße männliche Leser jedenfalls spielte für Morrison nicht die erste Geige. Oft porträtierte sie schwierige Frauenbeziehungen. Und brachte eine dezidiert weibliche Schreibweise hervor, die sich in der Rolle der Mutter, der ungeliebten Tochter und sehr oft auch der verstoßenen Frau ausdrückte. Sie griff auf übernatürliche, magische Seelenkräfte zurück, machte den Blues als metaphysisches Beziehungsmuster spürbar. Dabei benutzte sie Motive der schwarzen Folklore ebenso wie Elemente des magischen Realismus der Schule von Gabriel Garcia Marquez.

  Zuletzt in ihrem 2015 erschienenen Roman „God Save The Child“: Diese Leidensgeschichte einer jungen Frau, die sich für ihr Schwarzsein schämt, beziehungsweise von anderen beschämt wird, bleibt gerade heute, im Zeitalter von Bewegungen wie „Black Lives Matter“ und „Me Too“, von großer Bedeutung.

  Das Leben traf die Autorin ähnlich hart wie ihre Figuren. Nach dem Tod ihres Sohnes Slade Morrison, mit dem sie eine Reihe von Kinderbüchern herausgebracht hatte, hörte Toni Morrison beinahe auf zu schreiben. Dann aber, erzählte sie später, „dachte ich, ich würde ihn endgültig auslöschen, wenn ich wegen ihm alles niederlege“. Also schrieb sie weiter: Den Roman „Home“ (deutsch „Heimkehr“, 2012) über den Korea-Veteranen Frank Money, der zurückkommt nach Georgia und eine Welt des Wahnsinns vorfindet: Er verpasst eine Demonstration der gerade aufblühenden Bürgerrechtsbewegung, weil er keine Toilette findet, die Schwarze benutzen dürfen.

  Bei der Verleihung des Nobelpreises im Jahr 1993, der ihr als erster afro-amerikanischer Autorin zuerkannt worden war, lobte das Komitee ihre „visionäre Kraft und poetische Prägnanz“. Morrison habe ein „unbestechliches Ohr für den Dialog und die überschwänglich expressive Sprache des schwarzen Amerika“.

  Seit fast einem halben Jahrhundert war Morrison aus der amerikanischen und der Weltliteratur nicht wegzudenken. Als Autorin und als moralische Instanz. Mit ihren ergrauenden Dreadlocks, bunten Schals und der respekteinflößenden Aura großer Lebensweisheit wurde sie zur festen Größe von Talkshows und Politdiskussionen. Präsident Barack Obama nannte sie seine persönliche Heldin. Und verlieh ihr die Presidential Medal for Freedom, eine von vielen Auszeichnungen, die Morrison neben dem Nobelpreis für ihr Lebenswerk und den Roman „Beloved“ (deutsch „Menschenkind“) bekam. Dieser Roman bedeutete für sie 1987 den endgültigen Durchbruch. Eine späte Anerkennung – Morrison hatte da bereits fünf Bücher geschrieben, unter anderem „Song Of Solomon“ (1977) und „Tar Baby“ (1981). Bücher, in denen die Geschichte der Sklaverei und des Rassismus den Hintergrund bildeten und die Fähigkeit des Menschen im Vordergrund stand, allen äußeren Umständen zu trotzen. Ihnen Haltung und Würde entgegenzusetzen. „Bücher haben eine ethische Verantwortung“, sagte Morrison einmal. Es waren Werkzeuge für sie, mit denen sich eine Gesellschaft und Kultur moralisch formen ließ.

  Jetzt ist Toni Morrison nach kurzer Krankheit gestorben. Sie wurde 88 Jahre alt. Der Welt aber bleiben, so formulierte es ihre Freundin Maya Angelou, „die Einsichten einer großen Schamanin“.

JONATHAN FISCHER

SZ 7.8.2019toni morrison

VOLTAIRE LESEN IN TIMBUKTU Die Wüstenstadt im Norden Malis war einst das Zentrum der afrikanischen Wissenschaften. Dann fielen die Islamisten ein. Die Stadtjugend praktiziert nun den kulturellen Widerstand gegen politische Apathie und repressive Traditionen. Sie liest

Noch ein Selfie bitte! Aisha, Aminata und ihre Freundinnen reichen sich gegenseitig Handys, um Fotos mit den Besuchern zu machen. Nachdem die bunten Hijabs zurechtgezupft sind, stecken die jungen Frauen kichernd ihre Köpfe zusammen. Gäste, erst recht Touristen aus dem Westen, sind in Timbuktu inzwischen eine Seltenheit.

  „Wollen Sie vielleicht auch unsere Bibliothek besichtigen?“ fragt die 16-jährige Mariam. Fast jeden Tag, sagt sie, treffe sie sich hier nach der Schule mit anderen Jugendlichen. Um zu lesen, sich neues Wissen anzueignen, über Romane und ihre Autoren zu reden. An dem flachen Lehmgebäude hängt ein Banner: „Lecture Vivante – Centre de Lecture et de la Promotion de Patrimoine Culturel.“ Zu Deutsch „Lebende Lektüre – Zentrum zur Lektüre und Förderung des kulturellen Erbes“. Wo sonst in Afrika sollte Literatur auch selbstverständlicher sein? 1997 war der afroamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaftler Henry Louis Gates von der Harvard University nach Timbuktu gekommen, um dort angesichts der alten Manuskripte in Tränen auszubrechen. Er hatte sein Leben lang gelehrt, dass Afrika eine mündliche aber keine schriftliche Tradition habe, um nun eines Besseren belehrt zu werden. Anschließend mobilisierte er westliche Geldgeber, die vor Ort ein hochmodernes Literaturarchiv errichteten und viele Millionen in die Erhaltung und Konservierung der historischen Schriften dieser Stadt investierten.

  „Lecture Vivante“ aber zielt auf eine neue Generation. Jugendliche, die sich mit Handys besser auskennen als mit Büchern. Die Brisanz dieses Lesezirkels erschließt sich erst über die jüngste Geschichte Timbuktus. 2012 hatten religiöse Fanatiker die seit dem 11. Jahrhundert als Zentrum von Religion und Wissenschaft bekannte Stadt am nördlichen Bogen des Niger besetzt. Die Dschihadisten führten ein unbarmherziges Regime. Sie verbaten jede weltliche Musik, zwangen die Frauen, sich zu verschleiern, zerstörten Heiligengräber und Bibliotheken. Bei ihrem Abzug verbrannten sie Hunderte von alten Manuskripten. Die traditionelle Toleranz und Weltoffenheit der als „Heimat der 333 Heiligen“ verehrten Stadt war den Dschihadisten ein Dorn im Auge. Zwar hatte eine von Frankreich geleitete Militäroffensive die Stadt nach nur einem Jahr wieder befreit. Doch die Folgen der Besatzung bleiben katastrophal: Entführungen und Attentate gehören seither zum Alltag. Der Tourismus, früher entscheidender Wirtschaftsfaktor der Region, ist verschwunden. Lediglich eine löchrige Buspiste und ein paar Militärflüge pro Woche verbinden die Stadt mit dem Rest der Welt. Während die Ideologen des Dschihad um die arbeits- und hoffnungslosen Jugendlichen werben. Da können Bücher viel bedeuten.

  Der Jugendtreff von „Lecture Vivante“ liegt in einer symbolträchtigen Nachbarschaft. Gleich um die Ecke ragen die ockerbraunen Mauern und Minarette der legendären Djingere-ber-Moschee auf, ein paar Hundert Meter weiter kann man am „Place Heinrich Barth“ die Häuser besichtigen, in denen einst die europäischen „Entdecker“ der Wüstenstadt logierten: Der englische Offizier Alexander Laing hatte Timbuktu im Jahre 1826 nach Jahrzehnten gescheiterter Expeditionen als erster erreicht. Ihm folgte zwei Jahre später – als Muslim verkleidet – der Franzose René Caillié. Letztlich aber war es der Hamburger Forscher Heinrich Barth, der hier in den Jahren 1853 bis 1854 eine ganze Welt der Wissenschaft entdeckte und ausführlich über die literarischen Schätze Timbuktus berichtete. Eine Sensation. Denn die jahrhundertealten Schriften widerlegten alle Vorurteile vom angeblich kultur- und geschichtslosen Kontinent Afrika.

  Timbuktu wirkt heute verschlafen: Eselsgespanne zuckeln durch die Gassen. Ein paar ältere Männer sitzen im Schatten eines Baumes und gießen sich Minztee ein. Nur ab und zu durchbricht das Knattern eines Mofas die Stille. „Dies ist ein Hoffnungsort für unsere Jugendlichen“, erklärt Mahamane Sangaré, der junge Leiter der Organisation „Lecture Vivante“ vor der Pforte seiner Bibliothek. „Wir sitzen auf einem literarischen Schatz. Aber wer bringt den jungen Menschen hier ihre Geschichte bei, lässt sie lesen, vermittelt ihnen den Wert von Büchern an sich?“

  Sangaré spricht mit leiser Stimme, ein weißer Turban rahmt sein rundes, freundliches Gesicht. Knapp 60 Jugendliche hat der gelernte Finanzbuchhalter bisher für seinen Lesezirkel gewonnen, das Gros von ihnen junge Frauen. Besuche der historischen Bibliotheken stehen auf dem Programm. Vor allem aber, erklärt der 31-jährige Gründer von „Lecture Vivante“, gehe

es um die Konfrontation mit einer Welt voller neuer Ideen, wie etwa die gesellschaftliche Mitsprache von Jugendlichen, die Rechte der Kinder und die Selbstverwirklichung der Frauen. „Du bist in aller Welt gefeiert“ zitiert er aus einem Timbuktu-Gedicht einer seiner Schülerinnen, „weil in deinen Mauern der freie Gedanke regiert“.

  Die freien Gedanken. Sie werden heute durch nicht viel mehr als rund hundert Bücher repräsentiert. Stolz zeigt Mariam das schmale Regal im verschatteten Rückraum des Zentrums. Der ganze Reichtum der örtlichen Lesejugend: Sokrates steht auf einem Buchrücken. Auch die französischen Klassiker Molière und Rousseau sind vertreten. Dazu ein paar Bände Paulo Coelho, Lebenshilfe von Dale Carnegie, die Auswahl ist bescheiden. „Das ist unsere schwierigste Aufgabe“, sagt Sangaré. „Bücher zu finden. Vor allem illustrierte Kinderbücher, Sachbücher, Romane, aus denen unsere Jugendliche etwas lernen.“

  Dass jeder Band schon einige Dutzend Leser gehabt hat, ist offensichtlich. Viele von ihnen stammen noch aus der Zeit, als Timbuktu das Mekka westlicher Sahara-Reisender darstellte. Seine eigene Liebe zur Literatur, erinnert sich Sangaré, habe er über seine Onkel entdeckt, die als Guides arbeiteten und die von den Touristen hinterlassenen Bücher mit nach Hause brachten: „Ich fing als Kind an, darin zu lesen. Und fand dabei neue, faszinierende Gedankenwelten. Seitdem möchte ich meine Leidenschaft mit anderen teilen.“ Mariam, Aisha, Aminata nicken. Welche Autoren sie am liebsten lesen? Victor Hugo, Voltaire, Paulo Coelho . „Wir lieben auch die Geschichte unserer Stadt.“ Eines der Mädchen hält ein Buch von Salem Ould El Hadj hoch: „Mystères de Tomboctou“.

  Der Autor, ein örtlicher Historiker, liest heute persönlich vor. „Wir dürfen nicht vergessen, dass dieses Viertel hier, Sankoré, einst das Zentrum der wissenschaftlichen Aktivität unserer Stadt war“, sagt er. „Bis nach Ägypten und Arabien reisten unsere Gelehrten und Forscher. Sie haben Bücher über den Koran, aber auch über Mathematik, Astronomie und Geschichte geschrieben.“ Die Jugendlichen im Bibliotheksraum von „Lecture Vivante“ hängen an den Lippen des alten Mannes.

  „Wer könnte so einfach eine jahrtausendealte Kulturtradition per Verbot erledigen?“ Jeder weiß, dass von den Dschihadisten die Rede ist, und ihrem Versuch, die Geschichte umzuschreiben. „Sie wollten an unserer Stadt ein Exempel statuieren. Weil Timbuktu eine symbolische Bedeutung hat.“ El Hadj erzählt von der Konkurrenz unter Dutzenden örtlicher Koranschulen oder „Universitäten“, von der Pilgerfahrt des legendären malischen Königs Mansa Musa im Jahr 1325, als er eine sechzigtausendköpfige und mit zwei Tonnen Gold beladene Karawane nach Kairo und Mekka führte und auf dem Rückweg Tausende Gelehrte an den Niger brachte. Von den unschätzbar wertvollen Bibliotheken mit illustrierten Schriften zu Fragen nicht nur der Religion, sondern auch der Mathematik, der Astronomie, Geografie, Geschichte, Medizin und Rechtsprechung.

  Es war die politische Apathie seiner jungen Mitbürger, die den damals 25-jährigen Sangaré 2013 motivierte, „Lecture Vivante“ ins Leben zu rufen. Die Dschihadisten waren zwar abgezogen, doch die Einwohner standen noch unter Schock. Musiker, Künstler und Intellektuelle waren in den Süden des Landes oder ins Exil geflohen. Der einst enge soziale Zusammenhalt in der Stadt hatte unter dem Misstrauen zwischen den Ethnien gelitten.

  Was könnte Timbuktu helfen, aus dieser Trance zu erwachen? „Wir haben damals festgestellt“, sagt Sangaré, „dass sich unsere Jugend weder lokal noch national politisch engagiert, und dass das vor allem an einem Mangel an Lektüre und Information liegt.“ Die Organisation „Lecture Vivante“ sollte das ändern. „Wer sich bildet, der fällt nicht so leicht extremen und wissensfeindlichen Ideen zum Opfer“, sagt Sangaré.

  Bezeichnenderweise fand Sangaré gerade in Abdel Kader Haidara, dem weltberühmten Bibliothekar aus Timbuktu, einen potenten Verbündeten. Haidara hatte 2012 während der Besatzung der Stadt die heimliche Evakuierung der Manuskripte nach Bamako organisiert. Nun sollte die von ihm geführte NGO Savama DCI zum Hauptsponsoren der Association Lecture Vivante werden, es ihr ermöglichen, nicht nur das Zentrum in Timbuktu sondern auch Ableger in Bamako und abgelegenen nordmalischen Ortschaften wie Goundam, Tonka, Niafunké oder Diré zu eröffnen. „Wir brauchen junge Menschen, die unsere demokratische Kultur verteidigen.“   Er sagt das aus tiefer Überzeugung: „Lesen stärkt die Jugendlichen in ihrer Fähigkeit zu Empathie, Zuzuhören, zu Verzeihen, sich für Gerechtigkeit einzusetzen.“ Deshalb organisieren Sangaré und seine Mitstreiter an den örtlichen Schulen regelmäßig Debattier- und Lesewettbewerbe. Mit der Initiative „Bibliothèque sans murs“ besuchen die Jugendlichen von „Lecture Vivante“ Familien in ihren Häusern und verteilen auf den Straßen Bücher an interessierte Kinder. Sangarés Begeisterung wirkt ansteckend. So schafft er es immer wieder, auswärtige Autoren – Anschlagsgefahr hin oder her – für Lesungen nach Timbuktu zu bringen.

  Eine davon ist die junge Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin Sadya Touré. Sie stammt aus Timbuktu, pendelt in ihrem Berufsleben aber zwischen Bamako, Paris und New York. Sangaré hatte sie zur „Dune Litteraire“ geladen, eine Serie von Lesungen unter freiem Himmel. Gut fünfzig junge Frauen und Männer sitzen im lauen Abendwind auf einer der Sanddünen am Stadtrand von Timbuktu, den Blick auf den Süßwasserkanal, der die Stadt mit dem Niger verbindet. Weiter hinten glänzt die Silhouette der Djingere-ber-Moschee. Eine märchenhaft anmutende Szenerie, wäre da nicht diese erschütternde Geschichte einer jungen Frau namens Alima Touré.

  Sadya Touré liest aus ihrem ersten Roman „Être une Femme Ambitieuse au Mali“ oder „Was es bedeutet, eine ehrgeizige Frau in Mali zu sein“. Als Mädchen gegen den väterlichen Willen von den eigenen Verwandten beschnitten, später im Gegensatz zu ihren Brüdern zu „typisch weiblichen“ Haushaltstätigkeiten angehalten, eine der besten Schülerinnen ihres Jahrgangs, die dennoch um den Besuch einer höheren Schule betteln muss, denn: „Es ist wichtiger, dass sie bald heiratet.“

  Es ist ihre kaum fiktionalisierte Autobiografie. „Warum“, fragt Touré, „wollen die Männer, dass die Frauen zu Hause bleiben statt zu lernen? Und wieso bekommen Frauen, die Karriere machen wollen, so wenig Unterstützung? Geschweige denn Heiratsanträge?“ Gelächter hinter vorgehaltener Hand. Jedes der Mädchen hat das eine oder andere, was die Romanheldin durchmacht, selbst erlebt. Am Ende übergibt Touré ihr Buch feierlich an die Bibliothek von „Lecture Vivante“. Kein Zweifel, dass es bald sehr abgegriffen sein wird.

JONATHAN FISCHER

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