Monatsarchiv: Oktober 2016

Eine, die nicht folgt: Die malische Sängerin Inna Modja mischt Pop und Politik – und verkörpert das Selbstbewusstsein einer neuen Generation afrikanischer Migranten

images imagesInna Modja darf man als vorbildliche Migrantin bezeichnen. Vor 15 Jahren war die junge Frau zum Literaturstudium aus Malis Hauptstadt Bamako nach Paris gekommen, inzwischen kennt wohl jeder Franzose ihr Gesicht. Sie arbeitete als Model, hat als Duettpartnerin schon mal einen Hit des Chansonniers Jason Mraz befeuert und ist mit einer Rolle in der populären französischen Fernsehserie Pendant ce temps eine nationale Berühmtheit geworden. Eine Karriere als all-französisches Popsternchen also. Was hätte ein Mädchen aus einem bettelarmen Land, in dem die Frauen den Tag mit Wasserholen beginnen und weniger als ein Drittel der Bevölkerung lesen und schreiben gelernt hat, mehr wollen können?

Und doch wechselt Inna Modja auf ihrem jüngsten Album radikal die Richtung: In Motel Bamako zeigt sich die 32-Jährige als Feministin und Polit-Kämpferin. »Die Situation in meiner Heimat lässt mir keine Ruhe«, sagt sie. Und fordert für die von Dschihadisten bedrohten Frauen in Nordmali »unsere Freiheit, unsere Kraft und unsere Träume« zurück.

Zwei Alben hat Inna Modja bislang veröffentlicht, die sie eher als radiotaugliche Pop-Soul-Chanteuse etablierten denn als Revoluzzerin. Ihren größten musikalischen Erfolg feierte sie 2011 mit einem ebenso eingängigen wie belanglosen Sommerhit: French Can Can. Das Image des singenden Models hätte wohl auch weiterhin funktioniert. Die Malierin aber sieht darin nur eine Station ihrer Selbstfindung. »Ich wollte beweisen, dass ich es als afrikanische Künstlerin auch außerhalb der Afrika-Klischees schaffen kann.« Immerhin habe sie, so erklärt die als Inna Boucum geborene Tochter malisch-guineischer Eltern, ihren Spitznamen ihrer Dickköpfigkeit zu verdanken: Modja bedeute auf Fula »eine, die nicht folgt«. Prompt wirkt die schmale Frau mit dem wilden Afro gar nicht mehr brav und mischt, was bisher kaum zusammenfand: Mandinka-Musik und Soul, Wüstenblues und Hip-Hop, afrikanische Tradition und feministisches Selbstbewusstsein.

Inna Modja ist nicht die Erste, die sich an die Verbindung zwischen von jahrhundertealter westafrikanischer Musik und westlichem Electro-Soul wagt. Doch selten klang das Ergebnis so leichtfüßig wie auf Motel Bamako, nie hatte es mehr Pop-Appeal. Drei Jahre lang arbeitete sie mit dem Produzenten Stephen Budd an der künstlerischen Umsetzung. Inna Modja nahm das Album in Bamako wie auch in Paris auf. Zum Schluss bat sie Krazy Baldhead vom Hipster-Label Ed Banger um einen Touch Electro-Untergrund – ein wunderbarer Kontrapunkt zu ihrer eigenen lasziven Soulstimme: Da riffen pentatonische Gitarren über Electro-Grooves, interpunktieren Balafon-Klänge Hip-Hop-Rhythmen, schleichen sich Fula-Flöten und Kora-Harfen in die Loops großer Popmelodien. Und manchmal wechselt Inna Modja gar vom Englischen zu Bambara-Raps.

In den Texten dreht sich alles um ihre alte Heimat. In Speeches macht sich die Sängerin über die Willkür afrikanischer Staatenlenker lustig. Und beschwört ihre Landsleute in Sambé, nicht das Feiern zu vergessen. Songs wie Water, Going Home und Tombouctou zeigen, für wen Inna Modjas Herz schlägt: für die malischen Frauen, die auf den Feldern schuften müssen und nach dem Willen islamischer Extremisten nicht mehr tanzen und Berufe lernen sollen. »Timbuktu, wo die Familie meines Vaters lebt, war einst ein Ort der großen Gelehrten, Schriftsteller und Kulturschaffenden. Heute ist es eine Kriegszone, in der besonders Mädchen und Frauen misshandelt und missbraucht werden.«

Ganz bewusst hat Inna Modja das Video zu Tombouctou im Fotoatelier des berühmten Fotografen Malick Sidibé gedreht. Hier entstanden in den sechziger und siebziger Jahren Porträts, die die Jugend von Bamako beim Aufbruch in die Moderne zeigten. Diesen Optimismus will sie wieder wachrufen. Im Video posiert sie zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter, als Sinnbild dafür, dass »es genug Frauen gibt, die nicht wegschauen und schweigen«.

Afrika, sagt Inna Modja, kenne viele Feministinnen. »Es ist mein größtes Anliegen, dass junge Mädchen zur Schule gehen können, dass sie einen Beruf erlernen und selbstständig sind.« Wie könne man sonst als Frau jemals unabhängig sein? Auch die Tradition der Beschneidung – Inna Modja selbst wurde als Kind von Verwandten entführt und beschnitten – greift sie in ihren Texten an. Am meisten aber provoziert sie mit dem Single-Cover von Tombouctou. Es zeigt die Sängerin nackt in Kauerstellung, die untere Gesichtshälfte von einem Tuch verdeckt. »Wenn Frauen in Afrika sehr wütend sind, dann reißen sie sich auf der Straße die Kleider vom Leib. Dafür steht dieses Foto.«

Die Songwriterin Inna Modja, das merkt man, ist in beiden Welten zu Hause, der afrikanischen und der westlichen. Den Titel Motel Bamako, erklärt sie, habe sie als Hommage an ihren Lehrmeister Salif Keïta gewählt. Mit dessen kubanisch-malisch swingender Rail Band hatte sie schon als junges Mädchen gejammt. Später orientierte sie sich mehr an Hip-Hop, Disco und Soul. Jetzt steht Motel Bamako für einen Aufbruchsgeist, den sie mit ihren Albumgästen teilt: Sowohl der kongolesisch-belgische Rapper Baloji als auch dessen malisch-französischer Kollege Oxmo Puccino haben Hip-Hop neu buchstabiert, ihn mit weichem, vielsprachigem Flow sozusagen afrikanisiert.

Zusammen repräsentieren sie das Selbstverständnis einer neuen Generation von Migranten. Die sprichwörtliche afrikanische Feierfreude trifft auf ein neues politisches Selbstbewusstsein. »Im Westen«, sagt Inna Modja, »habe ich gelernt, meinem freien Willen zu folgen. Aber Afrika hat mich gelehrt, die Wirkung von Musik nicht zu unterschätzen. Ein guter Song kann mehr bewegen als jede Präsidentenrede.«

JONATHAN FISCHER

Die Zeit , 13.10.2016

Grossherziger Rebell – Tom Hayden, der Mann der die Protestsongs der 60er Jahre in politische Programme umsetzte, ist mit 76 Jahren gestorben

Bei einem Interviewth mit Tom Hayden 2010 auf einem Bauernmarkt in Los Angeles faszinierte die analytische Scharfsicht des damals 71-jährigen. Der Mann, den die New York Times den „wichtigsten Aktivisten der Studentenbewegung der 60er Jahre“ genannt hatte, konnte noch immer die großen politischen Linien schlagen – von der einstigen Rassen-Segregation zum „War on Drugs“ bis zur Masseninhaftierung von Gang-Jugendlichen in seiner Heimatstadt: „Das neue Code-Wort für Rasse heißt Kriminelle. Das Rassenproblem, das einst viele Sympathien der Mittelschicht erhielt, ist nun rhetorisch in ein Kriminalitätsproblem verwandelt worden.“ Der Autor des Buches „Street Wars“ geißelte zeitlebens eine Politik, die Jugendliche in den Ghettos als menschlichen Überschuss des amerikanischen Wirtschaftssystems wegsperrte oder in den Krieg schickte. Hayden, der durch seine später geschiedene Ehe mit Jane Fonda eine gewisse Hollywood-Prominenz erlangte, galt als eine Ikone der amerikanischen Gegenkultur. Ein Mann der die Songtexte von Joan Baez und Bob Dylan in politische Programme umsetzte. Nach einem Interview mit Martin Luther King Jr. Hatte sich der junge, 1939 geborene Journalist radikalisiert: „Aus dem Berichten wurde Anwaltschaft, aus der Anwaltschaft Aktivismus“. Hayden fuhr als Freedom Rider nach Georgia, wurde geschlagen und inhaftiert, schrieb im Gefängnis das für die Studentenbewegung maßgebliche Port Huron-Manifest und organisierte ein Jahrzehnt lang Proteste gegen den Vietnamkrieg. Ende der 60er Jahre stand er mit Black Panther Gründer Bobby Seale und den Chicago Seven vor Gericht. Später wurde er von allen „Verschwörungs“-Vorwürfen freigesprochen. Hayden begann ein neues bürgerliches Leben, kandidierte als Gouverneur und Bürgermeister von Los Angeles und lebte mit seiner Familie in einem bescheidenen Häuschen in Santa Monica. Acht Jahre lang, von 1992 bis 2000 saß er für die Demokraten im Senat von Kalifornien. Nebenbei schrieb er über ein Dutzend Bücher, die auch Fragen der Umwelt und der internationalen Politik behandelten. Sein letztes Werk erschien 2016 unter dem Titel: „Listen Yankee! Why Cuba Matters“. Am Sonntag verstarb Hayden an den Folgen eines Herzinfarktes. Amerika hat einen großherzigen Rebellen verloren.

JONATHAN FISCHER 24.10.2016

MALI BLUES Die Sängerin und Schauspielerin Fatoumata Diawara über ihren Film „Mali Blues“ und die Macht der Musik in ihrer afrikanischen Heimat

hh03Roger Willemsen hat das arme westafrikanische Land Mali einmal eine „musikalische Großmacht“ genannt – sein Erbe soll an der Entstehung von Jazz und Blues beteiligt sein und elektrisiert bis heute ein weltweites Publikum. Der Film „Mali Blues“ liefert die Bilder dazu. Der Berliner Regisseur Lutz Gregor kommt hier den malischen Musikern und ihrem Leben zwischen Tradition und Erneuerung, Verfolgung und gesellschaftlicher Mission nahe. In der Hauptrolle: Die Sängerin und Songwriterin Fatoumata Diawara. Die Brüche ihrer Biografie spiegeln die Spannungen einer Gesellschaft, in der Musiker einerseits Identität stiften, andererseits jedoch zunehmend von religiösen Extremisten bedroht werden.

SZ: Madame Diawara, der Film „Mali Blues“ hält fest, wie Sie, während in Teilen des Landes Dschihadisten Musiker bedrohen und Anschläge verüben, aus Ihrem europäischen Exil in ihre Heimat und das Dorf ihrer Familie zurückkehren. War das nicht viel zu gefährlich?

Fatoumata Diawara: Nein, ich muss über die Klischees, die im Westen über ein so großes und diverses Land kursieren, oft lachen. Der Alltag in meiner Heimat läuft wie eh und je, in Bamako merkt man nichts von den Spannungen im Norden. Das Leben ist dort genauso gefährlich wie in Paris und Brüssel. Für „Mali Blues“ haben wir lediglich darauf verzichtet, in Timbuktu zu drehen – um unser weißes Kamerateam nicht unnötig zu gefährden.

SZ: Warum sind Sie 2002 als 19-jähriges Mädchen aus ihrer Heimat Mali nach Paris geflüchtet?

Meine Eltern wollten mich gegen meinen Willen mit meinem Cousin verheiraten. Ihr zwingt mich, sagte ich ihnen, in eure Welt von gestern. Trotzdem habe ich mich im europäischen Exil immer wieder nach Mali zurückgesehnt: In Frankreich muss man sich für alles bedanken: „Merci, merci, merci.“ In Mali ist das anders: Man gibt um des Gebens willen. Die afrikanische Großzügigkeit inspiriert mich bis heute.

In Mali gehören Sängerinnen zu den größten nationalen Popstars, doch viele von ihnen mussten und müssen gegen Vorurteile ankämpfen. Sie auch?

Ich habe erst in Paris angefangen, zu singen und Lieder zu schreiben, als Teil eines Straßentheaters. Malische Sänger verstecken ihre Botschaften traditionell in Gleichnissen und Umschreibungen. Ich dagegen bin sehr konfrontativ: In meinen Songs klage ich Zwangsheiraten und die Beschneidung von Mädchen an. Ich singe: „Steht auf für eure Rechte und die Rechte eurer Kinder!“ Das ist für manche ein Schock. Aber die jungen Mädchen in Bamako sind auf meiner Seite.

In „Mali Blues“ sieht man Sie mit dem aus dem Norden vertriebenen Tuareg-Gitarristen Ahmed Ag Kaedi den Wüstenblues spielen, dann wieder mischen Sie zusammen mit Bassekou Kouyate Rock und jahrhundertealte Bambara-Melodien oder jammen mit dem jungen Polit-Rapper Master Soumy. Ist dieser Zusammenhalt von jungen und alten Musiker verschiedenster Ethnien wirklich die Realität?

In Mali kennt jeder die Sprache unser traditionellen Musikinstrumente Ngoni oder Kora. Egal, wer man ist, ob ein armer Bauer oder der Präsident: Wenn ein Musiker zu einem spricht, muss man ihm Respekt entgegenbringen. Andererseits geht mit dieser Achtung eine große Verantwortung einher. Ich kenne kein anderes Land, das in dieser Hinsicht mit Mali vergleichbar ist: Wir Musiker werden als Schiedsrichter der Politik betrachtet. Das eint uns.

Bassekou Kouyate behauptet ja sogar, allein die Musik liefere das Schmieröl für den Vielvölkerstaat Mali.

Das stimmt. Die verschiedenen Stämme haben zwischen Timbuktu und Bamako auf dem Niger stets nicht nur miteinander gehandelt, sondern auch ihre Musik ausgetauscht. Wer auf dem Instrument seiner Region spielen konnte, wurde hoch geachtet. Schließlich teilen wir bei aller Vielfalt denselben Rhythmus, denselben Stolz auf unsere Traditionen.

Sie mischen überlieferte Melodien und Tonalitäten mit Rockmusik und E-Gitarren. Wird Ihnen das in einem konservativen Land wie Mali nicht als Verrat ausgelegt?

Nein, ich erneuere doch nur die Musik meiner Großeltern und Urgroßeltern, trage sie mit neuen Instrumenten in die Gegenwart. Niemand der jungen malischen Musiker, die ich kenne, will den Westen kopieren. Das sollten wir auch nicht, sonst verarmen wir kulturell. Die ganze Welt hört ja schon denselben Brei.

In „Mali Blues“ sieht man, wie die malische Jugend junge Rapper wie Master Soumy mit überbordender Begeisterung feiert. Können Sie das nachvollziehen?

Malischer Hip-Hop, wie Master Soumy ihn macht, bezieht sich immer auch auf die Traditionen der Vorfahren. Nur dass die Rapper sehr viel deutlicher über politische Missstände reden können als die zur Diplomatie verpflichteten traditionelleren Sänger. Und genau das bewundern die Jugendlichen. Dass er über die korrupte Regierung rappt und fragt, warum der Staat nicht einmal in der Lage ist, für sauberes Wasser und genug Strom zu sorgen.

Sie und Master Soumy wenden sich in Ihren Songs auch explizit gegen die Propaganda islamischer Extremisten. Welche Rolle spielen Musiker in der Auseinandersetzung zwischen dem in Mali vorherrschendem toleranten Sufi-Islam und radikalen religiösen Strömungen?

Aus gutem Grund nehmen die Islamisten als Erstes uns Musiker ins Visier: Weil wir den Menschen ihre Identität und ihre Würde geben. Ihre Gehirnwäsche funktioniert erst, wenn sie uns mundtot gemacht haben. 2012 wurden nach der Besatzung von Malis Norden durch islamistische Rebellen alle Musiker mit dem Tod bedroht und vertrieben. Inzwischen ist der Norden zwar befreit, aber viele können immer noch nicht zurückkehren. Das betrifft aber nicht nur Mali: Zuletzt wurde etwa in Pakistan der Sufi-Sänger Amjad Sabri von religiösen Fanatikern ermordet. Das macht mich sehr traurig.

In „Mali Blues“ fordern Sie von der Bühne aus die malische Jugend dazu auf, zu ihren afrikanischen Frisuren und ihrer afrikanischen Kleidung zu stehen. Können Sie das erklären?

Ich will ihnen damit sagen, dass sie auch in den Himmel kommen, wenn sie nicht den Kleidervorschriften der in Mali aggressiv missionierenden Islamisten folgen. Am Ende hat die Krise auch etwas Gutes gebracht. Wir haben unsere Musik vorher für selbstverständlich genommen. Jetzt wächst das Bewusstsein für die Einmaligkeit unserer Kultur: Während die Clubs in Bamako aus Sicherheitsgründen geschlossen waren, riefen die Menschen nach uns Musikern und Sängern. Erst wenn offenbar wirklich die Gefahr besteht, dass man etwas verliert, lernt man es wirklich zu schätzen.

JONATHAN FISCHER

SZ 10.10.2016

AUF DIE HARTE TOUR Ein Münchner Boxverein schickt Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen nach Ghana. Nicht nur wegen des Sports, sondern auch, um zu lernen, was wirklich zählt

p1110433Die Boxschule liegt am Rande einer Elektroschrott-Deponie. In einem alten Fremdenführer war Bukom noch als „Fischerviertel“ von Accra beschrieben, doch das ist wohl lange her. Heute landen viele gebrauchte Fernseher aus Europa hier; eine Umweltorganisation hat den Ort als einen der zehn giftigsten der Welt klassifiziert. „Das Fischen rentiert sich nicht mehr. Die Jugendlichen leben auf der Straße, stehlen und schnüffeln Klebstoff“, sagt James Quartey. „Oder sie kommen zu mir.“ Der beleibte Mittvierziger lacht. „James Quartey Boxing Foundation“ steht auf den Mauern des einzigen Hauses, das in Bukom zu sehen ist: vier Mauern, ein asphaltierter Innenhof, ohne Dach und ohne Fenster. Eine Ruine auf einer unwirtlichen Brache, die Stadt hat sie zur Verfügung gestellt.

  Wie so viele aus dem Viertel hat James Quartey einst als Profiboxer in Amerika gearbeitet. Andersherum wäre es undenkbar, weil wohl niemand freiwillig zum Boxen nach Bukom kommen würde, in diesen Slum in der ghanaischen Hauptstadt, aus dem mehr Box-Champions stammen als von irgendwo anders in Afrika. Dort, wo es weder Jobs noch gute Schulen gibt, bleibt Boxen oft die einzige Hoffnung, irgendwann mal rauszukommen.

  Auf dem Weg zum Gym halten sich die deutschen Boxer die Nase zu. Beißende Rauchschwaden wehen von der Müllkippe nebenan herüber. „Ausgerechnet hier sollen wir trainieren?“, fragt Zahoor. Er ist einer von zwölf jungen Boxern des TSV 1860 München, die hierhergekommen sind, um ihren Partnerverein zu besuchen. Doch auf dieser Reise geht nicht nur um den Sport. „Sie werden als Menschen daran wachsen“, hofft Cheftrainer Ali Cukur.

  Dass es keine normale Sightseeing-Reise werden würde, war von Anfang an klar. „In unserem Verein trainieren Menschen aller Hautfarben“, hatte Ali Cukur vor der Abreise erklärt. „In letzter Zeit kommen immer mehr jugendliche Flüchtlinge dazu. Aber wer von uns weiß, aus welchen Verhältnissen sie kommen? Und wie gut es uns im Vergleich dazu geht?“ Dabei haben die meisten seiner jungen Athleten selbst genug zu tun damit, in München anzukommen, sich eine Ausbildung und Wohnung zu sichern, mit ihrem Lehrlingsgehalt in der teuren Stadt über die Runden zu kommen. Buraks Eltern sind aus der Türkei eingewandert, andere Familien aus Kroatien, Afghanistan und Guinea. Doch auch seine deutschen Schützlinge haben nichts geschenkt bekommen.

  Ein gutes Beispiel, wie diese Jugendlichen zum Boxen gekommen sind, ist Rashad. Er kam als Kind aus Togo nach München und ist heute bayerischer Meister im Schwergewicht. Das Boxen, sagt er, sei für ihn lange so etwas wie eine Therapie gewesen. Auch weil er in Ali Cukur einen Ersatzvater fand und sich erstmals freiwillig disziplinierte. Heute ist es kaum mehr vorstellbar, dass der höfliche Mann mit den guten Manieren früher als gefürchteter Schläger galt. „Für mich war Beleidigen und Prügeln damals das einzige Mittel, mich in den Mittelpunkt zu stellen. Es verschaffte mir Selbstbewusstsein“, sagt Rashad. Ständig wurden seine Eltern zum Direktor zitiert, weil der Sohn Lehrer beleidigte und Mitschüler schlug. Irgendwann griff der Vater zum letzten Mittel: Unter dem Vorwand, mit ihm zusammen in Togo Urlaub zu machen, brachte er ihn zur Oma in ein afrikanisches Dorf. „Mein Vater verschwand und ließ mich in der Koranschule zurück.“

  Das hieß für Rashad: Aufstehen um vier Uhr früh, Koran-Rezitationen von morgens bis abends, und jeden Tag den gleichen Maniokbrei mit Soße. „Ich hasste meine Eltern dafür – auch wenn ich heute sehe, wie mir diese Erfahrung die Augen geöffnet hat.“ Als Rashad nach einem halben Jahr schwer erkrankte, holte ihn die Familie zurück. Doch er war verändert: „Ich sah die Schule als Privileg.“ Fortan ging er regelmäßig zum Boxtraining, lernte neue Leute kennen, plötzlich war Disziplin cool. Probleme mit Gewalt gab es nicht mehr. Er machte sein Fach-Abi und studiert heute an der TU, um Sportlehrer zu werden.

  Weil Boxen ein billiger Sport ist und Selbstkontrolle lehrt, schicken Schulen und Jugendämter schwierige Jugendliche wie Rashad gerne in Ali Cukurs Training. Die von der Boxabteilung von 1860 München mit Zuschüssen des Kreisjugendrings finanzierte Afrika-Reise passte da nur zu gut zu Cukurs Idee: „Du hast immer die Wahl: Entweder siehst du dich als Opfer – oder du erkennst deine Chancen.“ Warum sollten seine Boxer nicht freiwillig etwas von der Erfahrung mitnehmen, zu der Rashad damals von seiner Familie verdonnert worden war?

  Beim Boxen sind es die Gesten, die Menschen zusammenbringen: das Abschlagen der gegnerischen Handschuhe, ein anerkennendes Kopfnicken für eine gelungene Kombination, die verschwitzte Umarmung am Ende. In Bukom stecken manche der deutschen Boxer hingegen verschüchtert ihre Köpfe zusammen. „Hast du die Augen von dem Jungen da gesehen? Ganz gelb. Ob das Hepatitis ist?“ Während Zebu-Rinder wie verirrte Geister durch die Rauchschwaden der Müllberge staken, hat sich vor dem Gym eine kleine Menschenmenge versammelt. Nur selten finden Touristen den Weg hierher. Eine Horde Kinder in dreckigen Lumpen folgt lachend den Besuchern mit ihren schweren Sporttaschen. Foto, Foto, Foto, rufen sie. Schwergewichtler Burak setzt sich einen kleinen Jungen auf die Schulter, Rashad folgt einigen von ihnen in die benachbarte Moschee, ein paar Matten unter einem Wellblechdach. Er drückt jemandem ein paar Geldscheine in die Hand, „für die Einrichtung“. Später erfährt er, dass es gar nicht der richtige Imam war. Egal. „Hier sehen alle so aus, als ob sie das Geld besser gebrauchen können als wir.“

  Im Smog der Müllhalde schwitzen nun deutsche und ghanaische Jugendliche zusammen, schlagen sich an den Schultern ab, boxen sich in die offenen Handschuhe. Bei 30 Grad und hundert Prozent relativer Luftfeuchtigkeit eine Qual. „Jungs, zwei Runden schafft ihr noch“, sagt Ali Cukur, der auf dreißig Jahre Jugendarbeit zurückblicken kann. Die Münchner in den schicken Trikots und den teuren Sportschuhen greifen nach jeder Übung zu den Wasserflaschen. Ihre meist barfuß boxenden Gegner dagegen scheinen noch frisch. Oder zumindest gewillt, ihren Ehrgeiz zu demonstrieren.

  Viele der Ghanaer sind kaum einmal sechzehn Jahre alt. „Sie trainieren nicht nur bei mir“, sagt James Quartey, „ich lasse sie hier auch schlafen und sorge dafür, dass sie in die Schule gehen.“Ohne seine Boxschule würden sie womöglich Metalle aus alten Fernsehern schmelzen, um wie die meisten Müllhalden-Kinder kaum älter als zwanzig zu werden. „Sie träumen davon, ihren Idolen aus der Nachbarschaft zu folgen, weltberühmten Boxern wie Ike Quartey, Azumah Nelson oder D. K. Poison.“ Reale Chancen aber haben nur die wenigsten. Es fehlt an allem, die staatliche Unterstützung reiche gerade mal fürs Essen. Tatsächlich ist die Ausrüstung der mehr als ein Dutzend Gyms im Viertel beschämend: geplatzte Sandsäcke, mit Gaffer-Tape verklebte Fäustlinge. James Quarteys junge Boxer stören sich nicht daran. Sie staunen über den Berg neuer Handschuhe in den Taschen der Münchner.

  „Krass“ ist das Wort, das die deutschen Gäste während der Reise am häufigsten sagen. „Wir haben alles und die nichts“, sagt Burak. „Wenn ich denke, wie die hier von 40 Euro im Monat leben“, pflichtet ihm Zahoor bei. „So viel gebe ich doch an einem Abend im P 1 aus.“ Das mit der Disko mag Pose sein, aber die Erschütterung ist echt. Bisher sahen sich die meisten eher auf der Verliererseite. Als diejenigen, die von der Polizei immer als Erstes nach dem Ausweis gefragt werden. In Ghana bekommt das Selbstbild Risse. Einige der Boxer, die es zu Hause gewohnt sind, jeden Cent umzudrehen, beginnen nun, in ihren Koffern zu wühlen. „Ich brauche doch nicht so viele Schuhe“, meint Olli. „Was wir an Ausrüstung mitschleppen – das ist doch nicht normal.“

  Die Diskussion darüber, was eigentlich „normal“ ist: Sie begleitet die Boxer die folgenden Tage, etwa wenn sie morgens Eimer mit Wasser zum Waschen aufs Zimmer tragen müssen. Das nächste Training absolvieren sie in Jamestown, den Ghanaern zufolge im „besten Boxclub der Stadt“, zwei Sandsäcke und ein Ring in einer Wellblechbaracke. „Wir sind gekommen, weil wir etwas teilen“, begrüßt Ali Cukur seinen Trainerkollegen. „Die harte Arbeit, den Schmerz und die Mühen, um etwas zu erreichen.“ Ein Boxer-Klischee, ja. Aber haben sich nicht 99 Prozent aller Champions aus ärmlichen, unterprivilegierten Verhältnissen emporgekämpft? Die Münchner und die Ghanaer, sie rufen sich jetzt gegenseitig „No pain, no gain“ zu.

  Obwohl die Gäste nicht mehr als ein paar Brocken Englisch sprechen, entsteht schon bald ein Miteinander. Weil Boxen eben eine eigene Sprache hat. Links, rechts, linker Haken. Alexandra schenkt ihrer ghanaischen Gegnerin mit den roten Zöpfen nichts und steckt selbst ein paar schwere Seitwärtshaken ein. Und doch gibt es da ein wortloses Einverständnis: Sich gegenseitig zu prüfen und daran zu wachsen. Die Münchner Studentin hatte einst die Boxhandschuhe angezogen, um ihre Depression zu bekämpfen. Andere wiederum berichten, dass sie ihre Aggressionen erst im Ring in den Griff bekamen. Oder auch von der Angst, die ihnen sagte: „Du bist nichts. Das schaffst du nicht.“Ghanaer wie Deutsche teilen hier die Ahnung, dass dieser Sport eigentlich gar kein Sport ist. Sondern eine Blaupause für das eigene Leben. Am Ende eines harten Schlagabtausches fallen Abu, Olli, Burak, Hans, Emil, Rashad und Zahoor ihren Sparringpartnern in die Arme. Eine Geste, die ohne Worte sagt: Respekt.

  Die Boxer werden zu Facebook-Freunden, sie laden ihre Gastgeber zum Essen ein, reden ständig über deren ärmliches Leben, das sie hier kennenlernen. „Die haben alle keine Jobs“, sagt Abu, der Lokführer-Lehrling. „Können wir da nicht irgendwas unternehmen? Damit die wenigstens eine Ausbildung machen können?“

  Immerhin hatte Ghanas Sportminister persönlich Ali Cukurs Vorschlag genehmigt, ein Sportinternat mit Berufsausbildung zu gründen – sofern sich die Deutschen um die Finanzierung kümmern. Die Idee führt zu heftigen Diskussionen: Ob junge Sportler ohne politische Lobby überhaupt etwas bewegen können. Ob Politiker Interesse haben, den Menschen zu helfen. Und wie viel Verantwortung man als Deutscher für die Zustände in Ghana trägt. Am Ende steht nur eines fest: Alle wollen etwas tun. „Wir müssen unbedingt Sponsoren finden“, sagt Hans, der Jugendtrainer. Die Boxer wissen noch nicht, wie frustrierend diese Arbeit sein wird.

  Abu, Burak und Zahoor fahren mit dem Bus noch einmal alleine nach Bukom, um die Kinder auf der Müllhalde vor ihrer Abreise zu besuchen. Doch was hat die Reise am Ende ausgelöst außer ein paar Facebook-Freundschaften oder einer Ghana-Flagge im Trainingsraum in München? „Wir wissen nicht, ob wir ihnen wirklich helfen können“, wird Saskia ein paar Wochen nach der Rückkehr erklären „Aber sie haben uns schon jetzt ein Stück weit verändert.“ Rashad findet, dass er seit der Reise viel weniger Gejammer während des Trainings hört. Als es darum geht, freiwillige Helfer für eine Boxveranstaltung zu finden, ruft er: „Jetzt denkt mal an unsere Freunde in Jamestown.“

JONATHAN FISCHER

SZ 3.9.2016

HEISS UND FETTIG Hühnerflügel, Schweineohren, Innereien: Die Küche der Südstaaten entstand aus dem Arme-Leute-Essen der schwarzen Sklaven. Heute steht sie für den Zusammenhalt der Gesellschaft – über Rassengrenzen hinweg

p1000624Wer Alcenia’s Soulfood Restaurant betritt, den begrüßen als Erstes gute Küchengerüche. Aber dann steht auch schon die Chefin vor einem: B.  J. Chester-Tamayo empfängt jeden Neuankömmling mit Wangenkuss. In dem unscheinbaren Flachbau zwischen den Brachen der historischen Altstadt von Memphis warten Schwarze und Weiße, Handwerker in dreckigen Overalls und Besucher des nahen Kongresszentrums auf ihr Mittagessen. Eine Gruppe schwarzer Besucher vertreibt sich die Wartezeit mit Gospelgesängen. Das Essen kommt – wie in Soulfood-Lokalen üblich – auf Plastiktellern mit Plastikbesteck. Dafür sind die Portionen umso größer: gebackener Wels, in Speck gedünsteter Grünkohl, Yams, Süßkartoffeln, mit braunem Zucker, Muskat und Zimt glasiert. Chester-Tamayo sagt: „Soulfood heißt so, weil dich das Essen über alle Lebenslagen hinwegtrösten kann.“

  Soulfood: Diesen Namen erhielt die afroamerikanische Küche in den 1960er-Jahren, zu Zeiten der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Soul bedeutete Stolz. Das einstige Arme-Leute-Essen stand plötzlich für schwarzen Widerstandsgeist, für Gemeinschaft und Zusammenhalt. Die Grundidee ist einfach: veredeln, was andere wegwerfen. Die Nachfahren der Sklaven – aber auch arme weiße Farmer – mussten sich oft mit jenen Teilen vom Tier begnügen, die bei der Schlachtung abfielen und als minderwertig galten: Hühnerflügel, Schweinsfüße, -ohren und -schnauzen, Innereien, Rippchen. Um die Reste-Gerichte schmackhafter zu machen, werden sie mit viel Gewürz, Zucker und Fett zubereitet. Die Beilagen kommen aus heimischen Beeten: Schwarzaugen-Bohnen, Blattkohl und Süßkartoffeln, frittierte grüne Tomaten oder die einst aus Afrika in die Südstaaten eingeführten Okraschoten. Nicht zu vergessen das Cornbread, ein süßes, krümeliges Maisbrot, das allein schon eine gute Mahlzeit abgibt.

  Bürgerrechtsbewegung, Soulmusik, Soulfood: Im Four Way Grill am Mississippi Boulevard in einem der ärmsten Viertel von Memphis finden sie zusammen. Hierher kommt, wer zuvor das benachbarte Soulmusik-Museum „Stax“ besucht hat. Oder am sonntäglichen Gottesdienst mit Al Green in der Full Gospel Tabernacle Church teilgenommen hat. „Sogar Martin Luther King pflegte hier zu speisen“, sagt Roslyn Payne Seay, die Chefin des Four Way Grill. „Er hat immer Catfish bestellt. Und als Nachtisch Peach Cobbler.“ Beides – der frittierte Wels wie auch der süße Pfirsichauflauf – wird bis heute hier gut verkauft. Roslyns Onkel Willie Bates hatte das Four Way Grill 1946 eröffnet. „Damals gab es im Süden von Memphis nicht viele Orte, an denen sich Schwarze treffen konnten. Auch die Musiker aus den Stax-Studios kamen zum Essen hierher: Isaac Hayes, David Porter, Rufus Thomas“, sagt Roslyn Payne Seay. Man kann sich gut vorstellen, wie in dem großen Saal mit den grünen Kunstlederstühlen weiße und schwarze Musiker über Tellern mit dampfenden Hühnchen, Schweinebacken und gebuttertem Mais den nächsten Soul-Hit ausbrüteten.

  Inzwischen sind Soulfood-Klassiker wie Chicken Wings oder Spareribs weltweit beliebt – sie allerdings in Memphis bei einer Fast-Food-Kette zu bestellen, kommt einem Verbrechen gleich. Denn in der Welthauptstadt des Barbecues gibt es herausragende Spareribs-Restaurants. Das berühmteste: The Rendezvous. Dort werden in einer geräumigen Keller-Kaschemme ansehnliche Portionen serviert. Die Rippchen sind außen knusprig schwarz, innen saftig-rosig. Dazu gib es einen Klacks Krautsalat. Kommt das Fleisch mit trockener, gut gewürzter Kruste, heißt das hier „dry“. Daneben gibt es „wet“, Rippchen, die vor Sauce tropfen. Über diese zwei Glaubensrichtungen des Barbecues können Einheimische lang diskutieren.

  Manchmal erfährt man dabei Lebensgeschichten, die so tief reichen wie ein Blues-Album: etwa bei Roosevelt „Bo“ Roach, dem Betreiter von Bo’s Grill in Greenwood. Neben dem Bahnübergang, der einst das schwarze und weiße Viertel teilte, sitzt der alte Mann vor seinem gusseisernen Grill, kontrolliert die stundenlang garenden Rippchen und erzählt von einer Kindheit, in der er für den weißen Verpächter Baumwolle pflückte, von ganzen Schweinen, die an Feiertagen in einer Lehmgrube geröstet wurden – und wie er es dem Ku-Klux-Klan zum Trotz schaffte, seinen Laden im „weißen Teil“ der Stadt zu eröffnen.

  Auf dem Weg Richtung Westen passiert man Soul-Geschichte: Ein Schild im Weiler Tipton erinnert an Isaac Hayes’ Geburtsort, ein paar Meilen weiter nördlich wirkt Tina Turners Heimatdörfchen Nutbush genauso verloren, wie sie es in ihrem Soul-Hit „Nutbush City Limits“ besingt. Im benachbarten Brownsville zeigt das West Tennessee Delta Heritage Center denn auch – neben einer Ausstellung zum Baumwollanbau – das kleine Blockhaus, in dem Tina Tuner, die damals noch Anna Mae Bullock hieß, zur Schule ging. Eine andere Form von Südstaaten-Geschichte bietet der für mehrere Hundert Besucher ausgelegte Old Country Store in Jackson, Tennessee. Das historische Lebensmittelgeschäft ist die Kulisse für ein „All You Can Eat“-Buffet im Südstaaten-Stil. Besondere Spezialität: Cracklin’ Cornbread – Maiskuchen mit knuspriger Schweinskruste. „Südstaatenküche bringt nicht nur Schwarze und Weiße zusammen“, schwärmt Inhaber Brooks Shaw, „in meinem Restaurant sitzen an manchen Tagen Arbeiter neben Millionären – und alle bedienen sich aus denselben Töpfen.“

  Auch Doe’s Eat Place, ein weiß gestrichener Holzbohlen-Schuppen im Mississippi-Hafen Greenville, hat eine Vergangenheit als Krämerladen. Schon in den 1940er-Jahren verkaufte der damalige Inhaber Dominick Signa Hot Tamales – würzige, in Maisblätter gewickelte Fleischküchlein, die mexikanische Arbeiter mit ins Mississippi-Delta gebracht hatten. Als Beilage gibt es heute Krabben in Pfeffersoße. Die Söhne des Restaurant-Gründers, Charles und Doe, sind mittlerweile beide grauhaarig. Sie teilen sich die Arbeit an den Steak-Öfen und Tamales-Töpfen. Und hot, das sind ihre Tamales tatsächlich.    

  Wer sagt, dass man mit vollem Bauch nicht tanzen könnte? Beim „Blue Monday“ im Hal & Mal’s in Jackson, Mississippi, reichen sich lokale Blues-Größen das Mikro, während das Publikum isst, trinkt, flirtet und die Refrains mitsingt. Noch mehr Down-home-Ambiente bietet der F. Jones Bluesclub. Mitten auf der historischen Farish Street hat ein enthusiastischer Wirt die Ruine einer alten Spelunke, einer Juke Joint Bar, renoviert und zum Treffpunkt schwarzer und weißer Blues-Freunde gemacht.

  Vor oder nach dem Konzert treffen sich alle beim Big Apple Inn. Schon morgens stehen die Menschen vor der Tür Schlange für Tamales, von denen immer fünf Stück im Bündel verkauft werden – und das Pig Ears Sandwich, ein Brötchen mit Senf, Krautsalat und einem Drittel Ohr vom Schwein. 300 Schweineohren lässt sich Inhaber Geno Lee täglich liefern. Er kocht sie stundenlang im Druckkochtopf. So lange, bis sie „auf der Zunge zergehen wie Schmelzkäse“, wie der ehemalige Makler aus New York sagt. Auf offenem Herd köcheln seine Schweinsohren neben Chili-Würstchen vor sich hin. „Weil sich die Schwarzen in den 1930er-Jahren nicht die guten Teile vom Schwein leisten konnten, nahm mein Großvater, was der Metzger ihm schenkte.“ Heute gilt der Schlachtabfall als Spezialität. „In New York verkaufen sie dir das Schweinsohren-Sandwich für 25 Dollar“, sagt Geno Lee. Bei ihm kostet es zweieinhalb Dollar.

  Allerdings hat das Schwein noch mehr zu bieten: Pickled Pigs Feet, sauer eingelegte Schweinsfüße. Auf der Zunge zergehende Schweineschwänze. Oder auch Chitterlings, die im ganzen Süden beliebten Schweinedärme. „Chittlins“ sind für Afroamerika identitätsstiftend. So heißt etwa die Szene rein schwarzer Clubs, in der sich einst Sänger wie James Brown und B. B. King hocharbeiteten, Chittlin Circuit. „Chitterlings sind richtig arbeitsintensiv“, erklärt Greta Bully, die Chefin von „Bully’s Soulfood“ in Jackson. „Wir kochen sie mindestens zweimal durch und schrubben sie per Hand.“

  Während man vor einem gut gefüllten Tablett sitzt und die Fleischberge der Nachbarn mustert, schauen von den Wänden Jesse Jackson und ein streng blickender Malcolm X. Ausgeschlossen sollte sich hier dennoch niemand fühlen: „Weiße und Schwarze“, erklärt Greta Bully, „teilen im Süden dieselben Küchenvorlieben. Das kommt davon, dass die reichen Weißen stets schwarze Köchinnen einstellten.“ Ein Problem mit der Küche gibt es dennoch: Sie ist nicht gerade kalorienarm. Im US-Bundesstaat Mississippi leben besonders viele fettleibige Menschen. Greta und ihr Mann Tyrone wirken zwar beide topfit – trotz Ernährung vom eigenen Herd. Allerdings halten sie sich auch an das Gemüse: die täglich frisch zubereiteten Turnip Greens, Rübenkraut, Mustard Greens, Senfkohl, und Okra-Schoten.

  Eine Zeit lang, erzählt Greta Bully, hätten sie auch versucht, für ihre Gäste fettärmer zu kochen. „Wir haben den Kohl mit Schinken statt mit Speck angeboten. Aber das wollte niemand haben.“ Also gibt es den Kohl jetzt wieder wie gewohnt. „Hier im Süden lässt man manche Dinge eben am besten, wie sie sind.“

JONATHAN FISCHER

SZ, 23.6.2016