Früher war er ein Schläger – dann entdeckte Burak Bozkurt das Boxen. Heute bringt er Jugendlichen bei wie man seine Fäuste nutzt und trotzdem ein gewaltfreies Lebe

Vor dem Eingang seines Kellerstudios hat Burak Flyer ausgelegt: Darauf ein selbstgemalter Bär, rote Augen, furchterregendes Zähnefletschen – als Warnschild vor Tollwut wäre das gelungen. Aber lockt man so Kinder zum Boxen? „Wir sind ja hier nicht beim Edeka an der Kasse“, sagt Burak. „In diesem Sport musst du auch mal über dich hinauswachsen, das wilde Tier in dir wecken. Unsere Kids feiern den Bären krass.“
Burak hat seine eigene Philosophie: Vielleicht sei er einfach im falschen Zeitalter geboren. Einem Zeitalter, in dem Raubtiere, Ritter und Schwertkämpfer nicht mehr das Maß aller Dinge sind. Man sieht dem 32-Jährigen in Jeans und Kapuzenpulli an, dass er viel mit seinen Fäusten gearbeitet hat. Muskulöse Schultern, gedrungener Gang. Im Gesicht über dem ordentlich ausrasierten Kinnbart aber flackert etwas Jungenhaftes. Schau mich an, sagen die Augen. Offen, aber bereit zur Konfrontation. Auf der Straße ein Muss.
„Der Kaffee ist gleich fertig.“ Burak hantiert an den Hebeln der Espressomaschine. Sie steht im Umkleideraum seines Box-Studios in München-Neuhausen. Im Hinterhof zwischen Dentallabor und Tattoo-Studio ein kleines Klingelschild: BB Boxing. BB wie Burak Bozkurt.
Burak war ein „Systemsprenger“, also ein Jugendlicher, der sich Schule, Ausbildung und den meisten Regeln der Gesellschaft verweigerte. Heute ist er ein Beispiel dafür, wie gerade das Boxen solche Menschen wieder eingliedern kann: Aggression mit strengen Regeln auszubalancieren, auch als Verlierer Respekt zu bekommen – diese Erfahrung wirkt oft Wunder.
Sein Studio ist ein langer Schlauch mit Lüftungsschlitzen. Zumindest ein Boxring passt rein. Daneben zwei Sandsäcke und Platz für ein paar Matten. In solchen Kellern haben schon viele klassische Boxkarrieren angefangen. Für Burak war es der Beginn eines bürgerlichen Lebens. Obwohl er das bestimmt nicht so sagen würde. „Jetzt predige ich das meinen Kids: Macht nicht die gleichen Fehler wie ich. Straße bringt nichts!“ Und wer könnte das glaubwürdiger erklären als einer, der von sich sagt, er habe früher „jeden Vorwand genutzt, um der Krasseste zu sein“.
Ohne die Boxhandschuhe, sagt Burak, säße er heute wahrscheinlich im Gefängnis
Burak zeigt auf einen glitzernden Wimpel über der Tür. Bism Allāh al-Raḥmān al-Raḥīm –zu Deutsch: Im Namen Allahas, des Barmherzigen, des Allerbarmers. Die islamische Gebetsformel. „Das habe ich von meiner Oma geerbt“, sagt Burak. „Schade, dass viele da immer nur an den radikalen Islam denken. Dabei ist das für die guten Vibes.“ Für die guten Vibes hat Burak außerdem noch aufgehängt: ein Bild von Joe Frazier, eines von Muhammad Ali, eine türkische Flagge und ein Auge gegen den bösen Blick. Alles, was ihm heilig ist. Denn das Studio ist mehr als ein Ort sportlicher Ertüchtigung. „Hier stecken so viel Verletzung und Wut drin, so viel ‚Ich werde mich ändern‘ und dazu noch all meine Ersparnisse.“ Wenn Burak von seinen Gefühlen redet, dann gerne in Superlativen. Alles endkrass, endgeil oder echt gefickt. Das kann Zuhörer zum Lachen bringen. Soll es auch. „Reden ist Gold“, sagt Burak. Aber man merkt, dass das Verbalisieren von Gefühlen noch eine neue Disziplin für ihn ist. Lange glaubte er, die Fäuste könnten am besten sprechen. Ein guter Schlag – und aus die Diskussion.
Ohne die Boxhandschuhe, sagt Burak, säße er heute wahrscheinlich im Gefängnis. Tatsächlich steuerte er die längste Zeit seines Lebens geradezu auf eine Kriminellenkarriere zu. Schlägereien seit seiner Schulzeit. Drei Rausschmisse. Drei Schulwechsel. Der Vater hatte die Familie verlassen, als Burak sechs Jahre alt war. Einmal tauchte er noch auf, um den 13-Jährigen zu motivieren, doch seinen Hauptschulabschluss zu machen. „Aber da war es schon zu spät. Ich ließ mir von niemandem etwas sagen. Erst recht nicht von ihm.“ Buraks Mutter kümmerte sich um seine Versorgung. Die Erziehung aber erhielt er auf der Straße.
„Als Kleiner musstest du dich den Älteren unterordnen. Bei uns Türken heißen sie respektvoll Abi, Onkel. Hast du den Mund zu voll genommen, hast du von einem Abi eine Schelle bekommen.“ Was bei dieser Erziehung komplett fehlte: Trost, Mitgefühl, in den Arm genommen werden. Das Wertesystem auf der Straße bezog sich eher auf Testosteron: „Am wichtigsten war da: Wer ist stärker? Habt ihr gesehen, wie der ihn geschlagen hat? Wow, hat der eine rechte Hand! Das war unsere Währung. Danach wurdest du beurteilt.“ Kein Wunder, dass Burak sieben Jahre für seine Schlosserlehre brauchte. Ein Rausschmiss nach dem anderen. Und immer wieder zurück auf Los.
Was er im jungen Alter für richtig gehalten habe, sagt Burak, sei genau das Gegenteil davon. Meistens. Denn so ein paar Glaubenssätze seiner Hooligan-Zeit bekomme er noch immer nicht ganz raus: „Ehre und Stärke“ etwa. Das hat er auf die Wand hinter dem Boxring gepinselt. Etwas kleiner darunter: „Respekt“. Ist das eine Rangordnung? Burak windet sich. Das mit der Ehre heiße doch nur, sich nicht unterkriegen zu lassen. Nicht vom Gegner. Und nicht von den Herausforderungen des Lebens. „Kennst du dieses Gefühl, wenn du richtig unter Druck stehst?“ Früher hatte Burak es schon, wenn ihn jemand falsch ansah. Heute wenn er an seine Geschäftsbücher denkt. Gut, er hat den Kredit für die Einrichtung des Studios fast zurückgezahlt. Auch über Mitgliedermangel – in nur einem halben Jahr hat er schon hundert Schüler gewonnen – kann er sich nicht beschweren. Aber dann gab es letztes Wochenende einen Rohrbruch, er hat einen Teil der Decke neu verputzen müssen, schon kommt die Panik zurück: „Dann habe ich Angst. Dass es mich wieder aus der Bahn wirft.“
Die „Kampfmäuse“ haben bei ihm im Studio eine Wand bemalt – mit Herzchen
Aber dafür hat er ja das Boxen. Und seine zwei Kinder. Die Verantwortung für den achtjährigen Jungen und das siebenjährige Mädchen, sagt Burak, hätte ihn schon oft von dummen Ideen zurückgehalten, beide trainieren bei ihm. Zusammen mit rund 20 weiteren „Kampfmäusen“ – so nennt Burak die Jüngsten in seinem Studio – haben sie hier eine Wand bemalt. Gleich neben dem „Ehre und Stärke“-Graffiti: bunte Kritzeleien. Herzchen, Handabdrücke. Fly like a butterfly, sting like a bee. Hier regiert das Schmunzel-Krokodil.
Einen Tag später in der Turnhalle des TSV 1860 München. „Los, runter mit dir, ein paar Liegestützen schaffst du noch.“ Burak trainiert drei Dutzend schwitzender, sich am Boden windender Boxschüler. Drillt sie. Lässt keine Ausreden gelten. „Die mögen das so, glaub es mir.“ Dabei strahlt der Trainer durchaus etwas Fürsorgliches aus. Er trennt ungleiche Paare. Und gibt auch den Schwächsten das Gefühl, gesehen zu werden. „Die Arme höher, sonst erwischt dich dein Gegner mit dem Haken.“ Einst hat Burak für den Münchner Verein Amateurkämpfe absolviert. Nun leitet er dort – zusammen mit seiner Boxerkollegin Saskia – das Kindertraining. Disziplin, sagt er, sei das Wichtigste. Sich bloß nichts schenken. Dann könne man nachher auf sich stolz sein. Nach dem Training wollen alle noch mit ihm reden. War ich gut? Habe ich das richtig gemacht? Viele der Jungs sehen in Burak eine Vaterfigur. Nein, ein zähnefletschender Bär ist das nicht.
Als er bei „Sechzig“ unter Chefcoach Ali Cukur trainierte, sagt Burak, habe er zum ersten Mal gemerkt, was in ihm steckt. Nicht als Kämpfer, sondern als Mensch. Es war ein glücklicher Zufall, dass eine Kamera lief, als Burak einen seiner Durchbrüche erlebte. Die Szene gehört zu den bewegendsten Momenten von Antje Drinnenbergs Dokumentarfilm „Lionhearted“: Im Rahmen eines Box-Trainingscamps in Accra, Ghana, konfrontiert Ali Cukur seinen großmäulig daherkommenden Schützling: „Jetzt reiß dich mal zsamm. Du schwingst hier große Reden, reißt deine Klappe auf. Aber du bist hier nur der Lehrling. Vielleicht hörst du lieber mal den anderen zu… “ In dem Moment fällt Buraks Kopf auf seinen tätowierten Oberkörper, man sieht Tränen in den Augen schimmern.
Burak ist das immer noch peinlich. Er meint die Kritik. Er habe sich vorher von niemandem etwas sagen lassen – aber Ali ließ sich von Buraks Fassade nicht beeindrucken. Als Mensch schätze er ihn, sagte der Trainer. Aber sein Verhalten müsse er ändern. „Er war der Erste, gegen den ich mich nicht gewehrt habe. Nach Alis Ansprache zitterten mir die Knie. Und ich dachte tagelang über seine Worte nach.“ Im Ring mit Ali habe er sich nicht mehr verstecken können. Der Trainer sehe alles: Was ist fake, was ist echt. Wo spielst du dich nur auf. Wo hast du echte Stärken. „Bei Ali dachte ich: Der weiß, was ich durchmache. Der durchschaut mich. Das hat mich ruhig gemacht.“
Vor dem Boxen, sagt Burak, habe sich alles um seinen Ruf als Schläger gedreht: Andere sollten Angst vor ihm haben. In „Lionhearted“ erzählt er davon. Dieser Lust an der Aggression: „Erst wenn ich Blut gesehen habe, hat es angefangen, mir richtig Spaß zu machen.“ Im Box-Training habe er lange mit sich ringen müssen. Oft wollte er nicht auf den Trainer hören, stellte lieber den Macker aus. Sein Ego-Problem nennt es Burak. Aber gewinnen könne man so nicht. Nicht im Ring. „Beim Boxen musst du dich festen Regeln unterordnen. Du darfst erst kämpfen, wenn der Gong ertönt. Und auch wenn du gerade deinen Schlag ausführst – sobald der Gong wieder ertönt, bremst du ab.“ Das habe ihn so weit gebracht, dass er auch bei Gefahrensituationen auf der Straße Stopp sagen konnte. Obwohl: Ein wenig nagte es schon an ihm. „Ist es nicht feige, einfach wegzugehen? Aber dann habe ich mir gesagt: Diese Person kann mich gerne im Ring herausfordern.“
Burak ist kein Einzelfall. Im Anti-Gewalt-Training spielt das Boxen eine herausragende Rolle. Für den Laien mag es paradox klingen, wenn Richter Gewalttäter ausgerechnet zum Training im Faustkampf verdonnern. Lernen die da nicht, noch besser zu schlägern? Ihre Gewalt technisch zu verfeinern? Um später noch mehr Schaden anzurichten? In der Realität hat das Boxen viele Jugendliche gerettet. Ali Cukur hat es oft erlebt: Dass Jugendliche als Straßenschläger zu ihm kamen und dann nicht nur die Gewalt ablegten. Sondern auch ihre Schule, ihre Lehre schafften. „Im Boxring stehst du nackt da – mit all deinen Ängsten. Wenn du hier etwas erreichst, dann wächst dein Selbstbewusstsein. Weil du dich gezeigt hast.“ Da gebe es die vorlauten Typen wie Burak. Die müsse man runterholen. Aber auch Schüchterne, die sich stets auf der Verliererseite wähnten, könnten mit Boxen nachhaltiges Selbstvertrauen gewinnen. „Ein Lob vom Trainer bedeutet vielen Jugendlichen alles – besonders denen, die sonst nur Ärger und Ablehnung kennen.“
„In Ghana wurde mir klar: Wir haben hier alle Chancen. Alles andere ist nur Gequatsche“
Hat er sich heute hundert Prozent im Griff? Nein, sagt Burak, das wäre eine Lüge. Aber er wisse, was er mit sich selbst ausmachen müsse. Er kommt dann noch mal auf Ghana zu sprechen. Was er von dort mitgenommen habe. Im Film „Lionhearted“ sieht man die Boxer durch Müllhalden und Slums zu ihrem Trainingsgelände gehen. Burak hat da immer zwei, drei afrikanische Kinder an der Hand. Hebt sie auf den Arm. „Ich kann nichts dafür“, flachst er in die Kamera. „Die halten sich an mir fest.“ Die Wahrheit ist wohl, dass er sich auch an ihnen festhält. Ein Stück von sich selbst in ihrer kindlichen Unschuld und Begeisterung findet. Bis heute halte er Kontakt mit einem seiner damaligen Sparringspartner. Er habe auch eine Spendenaktion gestartet, um einem Boxstudio in Accra zu helfen, einem Klub, wo es weder Boxsäcke noch Handschuhe gibt. Von Dusche ganz zu schweigen. „Und dann haben wir Jungs früher immer vom Ghetto geredet. In München! In Ghana wurde mir klar: Wir haben hier alle Chancen. Alles andere ist nur Gequatsche.“
Eine Münchner Gesamtschule. Die 8. Klasse hat den Film „Lionhearted“ angeschaut, jetzt dürfen die Schüler Burak ihre Fragen stellen. Was er fühlen würde, wenn er heute junge Menschen sehe, die ähnlich tickten wie er damals zu seiner Schlägerzeit? Mitgefühl, sagt Buraks Gesicht. Aber das ist kein Wort für ihn. Also redet er von Stressvermeidung. Davon, dass man seinen Wert eher im Ring finde als auf der Straße. Dass er jede Menge erfolgreiche Boxer kenne, die sich noch nie geprügelt haben. Die Schüler haben auch ein paar Boxübungen mit Burak gemacht. Jetzt hängen sie ihm an den Lippen. Er ist der Abi, der ihnen Halt zu geben verspricht, der sie dort abholt, wo sie sich selbst sehen. „Wir Menschen haben oft so eine Wut in uns, und wollen das rauslassen. Und da ist der Sandsack ideal dafür. Nach dem Training ist der ganze Schmerz , also der emotionale Schmerz in dir weg. Das ist ein geiles Feeling.“
Mag sein, dass einige irgendwann zu ihm ins Boxstudio kommen. Wegen der Disziplin, des Respekts, auch des Lobs des jungen Trainers. Als Sozialarbeiter, sagt Burak später, tauge er trotzdem nicht: „Ich habe mal drei Wochen in einem Sozialprojekt Schüler bei den Hausaufgaben betreut. Die waren so respektlos. Und ich durfte als Lehrer nicht austicken.“ Da, sagt Burak, sei ihm ein für allemal klar geworden: Er stehe von nun an auf der anderen Seite.
JONATHAN FISCHER
SZ 30.1.2023