Chicken feet. Schwarz lackierte Hühnerfüße. In New Orleans baumeln sie über Wohnungstüren, an Auto-Rückspiegeln und Computern – nachdem Sallie Ann Glassman sie dehydriert, bemalt, mit Federn geschmückt und übersinnlichen Kräften aufgeladen hat. „Sie halten Diebe und Dämonen ab“, erklärt die zierliche Mittfünfzigerin, „und, by the way, sie wirken auch gegen Computer-Viren.“ Prompt streikt das Aufnahmegerät. Glassman lächelt. Daheim erde sie sich zum Schutz der Elektrogeräte mit einem langen Metallfaden am Handgelenk. Der Reporter aber muss den Laden erst mal verlassen, um sein Mikrofon einschalten zu können. Schwarzer Spuk? Glassmans „Salvation Island Botanica“-Laden hat wenig mit dem Voodoo-Kommerz im zehn Blocks entfernten French Quarter gemein. Von Nadeln durchbohrte Puppen oder Zombie-Maskottchen: Solche Grusel-Folklore sucht man hier vergeblich. Statt Plastiktotenköpfen liegen Handarbeiten aus Haiti aus. Dort hat Glassman, eine weiße, jüdische Frau, sich vor zwei Jahrzehnten von einem renommierten Papa zur Priesterin weihen lassen.
Ihr lichtdurchfluteter Laden erinnert kaum an die Bedrohungsfantasien, die Voodoo dank Hollywoodfilmen wie „Angel Heart“ vorauseilen. Alle paar Minuten schwingt die Glastür auf: Gepiercte weiße Jugendliche oder Afroamerikaner aus dem nahen Armutsviertel verschwinden mit Glassman in einem Nebenzimmer. Viele von ihnen, sagt Glassman, könnten sich keinen Arzt leisten und vertrauten lieber der rituellen Anrufung ihrer Ahnen – beziehungsweise den „Draw Money“-Seifen oder „Stay away evil“-Tropfen.
Seit Katrina, schrieb die „New Orleans Times-Picayune“ neulich, bilde die afrokaribische Spiritualität das Rückgrat einer Vielzahl von Nachbarschafts-Initiativen, die das Gesicht des neuen New Orleans prägten.“ Sichtbarstes Zeichen dafür ist das New Orleans Healing Center. Ein frisch renovierter, türkis und orange leuchtender Gebäudekomplex, den Glassman nach dem Hurrikan als Ruine ankaufte und zu einer Art spirituellen Shopping Mall ausbaute: mit Lebensmittel-Kooperative, Yoga-Studio, Buchladen, Musikclub, Street University, alternativen Heilern und Mikrokredit-Bank. Sogar eine Wache des New Orleans Police Department residiert zwischen Bio-Markt und Glassmans Botanica-Shop.
Den Zerrbildern von Voodoo – zurückgehend auf missionswütige Ethnografen des 19.Jahrhunderts – setzt das Healing Center eine freundlichere Perspektive entgegen: „Unsere Form von Voodoo“, sagt Glassman, “ hat immer mit Heilung zu tun: emotional, physisch, spirituell. Aber auch der Heilung zerrissener Gemeinschaften.“ Manche Leute fürchteten sie und ihre angeblichen Hexen-Kräfte. Doch sei es nicht gerade die heimische Spiritualität gewesen, die den Menschen in New Orleans nach Katrina den Willen und die Vorstellungskraft geschenkt habe, ihre Stadt wieder aufzubauen? Voodoo, sagt Glassman, kenne keine Individualexistenzen, sondern nur Menschen, die von ihren Vorfahren oder von ihrer Heimat getrennt sein. Als Mambo oder Priesterin sei es ihre Aufgabe, die entfremdeten Menschen in Verbindung mit der großen, hilfreichen Gemeinschaft der Ahnen zu bringen. Eskapistisch klingt das kaum. Eher nach einer sehr praktischen Form der Selbstermächtigung.
1791 kamen nach einer Plantagenrevolte Hunderttausende haitianischer Flüchtlinge an den Mississippi: Sie brachten ein Pantheon afrikanischer Gottheiten und Geister mit sich. Schaurige und schöne. Und ein Denken, das, anders als Christentum, Totalitarismus und Idealismus, keine Erfüllung in einer fernen Zukunft versprach, sondern die Ambivalenz des Lebens umarmte.
Das faszinierte auch Außenstehende. Bald entwickelten Halbwahrheiten über Zombies und Blutopfer ein Eigenleben und befeuerten die Popkultur. „Vor Lautréamont und CG Jung, vor Antonin Artaud und Burroughs und Genet“, schreibt der Kulturwissenschaftler Hubert Fichte, „.hat der haitianische Vaudou eine surreale Schicht der Sprache, eine Popschicht, mit seinen Litaneien, Götterkatalogen und Tranceperformances eröffnet.“ Wie in Haiti, wo Voodoo sich aus den Erfahrungen des Widerstandes gegen Sklaverei und die Vorherrschaft der ökonomischen und politischen Eliten speiste, funktionierte Voodoo auch in New Orleans als klandestine Gegenkultur. Ein Sud, der bis heute das lokale Selbstbewusstsein unterfüttert, „anders als Amerika zu sein“.
Jedes Jahr versammelt Glasmann Tausende weiß gewandete Gläubige aller Hautfarben zu den traditionellen Taufzeremonien am Bayou St. John. Und sie ist nur eine von Dutzenden Priesterinnen. Die Spuren dieser praktischen Lebensphilosophie finden sich überall: in der Architektur, dem Essen, den Chants der Mardi Gras Indians. Oder auf Friedhöfen, wo Handys, Computerbildschirme und -tastaturen – wer weiß, ob man sie nicht auch im Jenseits gebrauchen kann? – die Gräber schmücken. Oft verschwimmt die Grenze zwischen Seelsorge, Spiritualität und Scharlatanerie. Da vermarktet etwa Queen Bianca mit eigenem Internet-Shop ihre Ahnenlinie. Die Urenkelin von Marie Laveau, der berühmtesten Voodoo-Priesterin der Stadt (sie lebte von 1794 bis 1881), verkauft „Monkey & Cock“-Amulette, die ihren Besitzern die Erfüllung dreier signifikanter Wünsche in drei Jahren garantieren sollen. Oder auch „mit mächtigen Geistern gefüllte“ Zombie Spirit Bottles. Nun, ja.
Touristen begegnen meist nur dem folkloristischen Teil der Religion. Sie lassen sich auf Voodoo-Touren zu den letzten Ruhestätten berühmter Voodoo-Heiler führen. Machen ihr Kreidekreuz auf dem Grabstein von Marie Laveau. Und staunen, wie viele Songs die Musiker aus New Orleans ihren Voodoo -Priestern gewidmet haben. Allen voran Dr. John. Der Grammy-gekrönte Pianist hat seinen Namen einem berühmten Heiler des 19. Jahrhunderts entliehen und ist nicht nur selbst ein ordinierter Houngan oder Priester, sondern nutzt auch Voodoo-Litaneien für seine Musik: „Diese krude Mischung aus afrikanischen, christlichen, spanischen und Choctaw-Elementen hat immer unsere Geschichte gespiegelt.“
Angst vor dem Fremden hatte Voodoo nie. Das macht die Modernität dieses Glaubens aus: Statt Hierarchien zu bilden, summiert er ganz basisdemokratisch die Elemente verschiedenster Kulturen. Auch Miriams Voodoo Spiritual Temple an der Rampart Street am Rande des French Quarters wirkt auf den ersten Blick wie ein Multikulti-Flohmarkt: magische Seifen made in Mexico, Mojo-Bags, Puppen. Dazwischen Bilder der Priesterin mit umgehängter Riesenschlange. Ausschnitte aus europäischen und amerikanischen Zeitungen.
Wie läuft das Geschäft? „Meine eigentliche Arbeit“, sagt Miriam leise, „ist unentgeltlich und unbezahlbar.“ Die tiefgefurchten Gesichtszüge unter ihrem Kopfwickel erinnern an eine afrikanische Maske. Regelmäßig hält die Afroamerikanerin Seancen im benachbarten Congo Square ab, dort, wo vor 200 Jahren die Sklaven allsonntäglich ihre Trommeln und „alten Geister“ zum Leben erweckten. Priestess Miriams Service-Angebot: „Hochzeiten, Segnungen und Taufen, Beseitigung von Flüchen, Beratungen zur Selbstermächtigung, therapeutische Sitzungen, Knochenlesen“.
Auf ihrem Hof sind bunte Ensembles aus Spielzeug, Messern, Rumfläschchen, Plastikfiguren und Ketten aufgebaut – Altäre für die afrikanisierten katholischen Heiligen. Es duftet nach Räucherstäbchen. „Voodoo kommt aus der Fon-Sprache in Benin“, erklärt die Priesterin, „und bedeutet eine unsichtbare Kraft, den Schöpfer aller Dinge. Wie die Heiligen im Katholizismus agieren die afrikanischen Loa als Mittler zwischen dem Schöpfer und der menschlichen Welt. Sie helfen uns, indem sie sich mit unseren Energien, unserer Intelligenz verbinden.“ Klingt fast wie aus einem New Age-Buch. Mit dem Unterschied, dass Voodoo – im Gegensatz zur Santeria der Latinos – in einigen eher geheimen Spielarten auch das Böse anrufen kann. Als kurz nach Katrina in der Wohnung über Priestess Miriams Tempel die zerstückelte Leiche eines Mordopfers gefunden wurde, flammten uralte Ängste auf. Waren hier etwa doch böse Geister am Werk?
Sallie Glassman hat zu einer Heilungs-Zeremonie ins Foyer des Healing Centers gerufen. Trommler spielen sich in Trance, ein Mardi Gras Indian wirbelt im Kostüm aus hellblauen Federn und Perlenstickereien herum: „I shall be fire, ho-na-nae…“ Repetitve Chants, die ein Dutzend weiße und schwarze Frauen zu immer wilderen Tänzen anstacheln. Später werden sie einen Kreis bilden und mit haitianisch-kreolischen Gesängen die Gottheit Eleggua anrufen: Sie möge dem angrenzenden Viertel neue Wege eröffnen.
Es hat eine der höchsten Mordraten in New Orleans. „Wir pumpen mit dem Healing Center neue Energien in die Nachbarschaft.“ Wo die Kommune versage, erklärt Glassman, müsse die Voodoo-Gemeinde die Initiative übernehmen. Nach Katrina hatte sie Rückkehrern kostenlose Trauma-Behandlungen und materielle Unterstützung beim Wiederaufbau zerstörter Häuser angeboten. Medizinische Hilfe für die Armen gehöre zur Voodoo-Tradition. Der Zusammenhang zwischen dem Revival des in Westafrika wurzelnden Ahnenglaubens und den Desastern der letzten Jahre liegt für sie auf der Hand: „Die Menschen haben Katrina als Aufruf verstanden, wieder die Balance zwischen geistiger und materieller Welt zu finden und New Orleans zu einem besseren Ort zu machen“.
Ganz handfest demonstrierte die Priesterin das vor einigen Jahren in ihrer Bywater-Nachbarschaft. Das Viertel drohte zum offenen Crack-Markt zu verkommen. Weder die Polizei noch die Stadtverwaltung schritten ein. Schließlich entschloss sich Glassman, mit Nachbarn bei einer Straßenzeremonie die Krieger-Gottheit Ogun herbei zu trommeln: „Einen Tag später stand der Anführer des Drogenrings vor meiner Tür und bat mich, den Zauber aufzuheben“. Vergebens. Der Drogen-Kingpin wurde geschnappt, ganze Lagerhäuser mit Crack ausgehoben, mehrere Polizisten als Helfer enttarnt. Mit einem Schlag sank die Kriminalität im Viertel um 60 Prozent. Und Kommunalpolitiker riefen in der Folge bei der Priesterin an: Ob man nicht enger zusammen arbeiten könne?
„Voodoo ist die Religion der Überlebenden“, sagt Glassman, und es ist nicht klar, ob sie über haitianische Sklaven oder von Katrina, Kriminalität und Korruption geplagte New Orleanians spricht. „Diese Religion erlaubt uns, über unsere Grenzen hinaus zu wachsen.“ Ihr neuestes Projekt: ein jährliches „Sacred Music Festival“, das in New Orleans unter anderem buddhistische, hinduistische, Indianer- und Voodoo-Musiker zusammenbringen soll – das spirituelle Gumbo ist für weitere Zutaten offen.
JONATHAN FISCHER
Die Welt 20.11.2013