Nein, die Bob Marley-Tourbusse halten hier nicht an. Die Straßen ringsum menschenleer, dafür vernagelte Fenster, Mauerreste – immer noch ähneln Teile der jamaikanischen Hauptstadt einer Kriegszone, Erinnerung an die späten 70er und frühen 80er Jahre, als die blutige Fehde zwischen von Kuba und der CIA bewaffneten Milizen ihren Höhepunkt erlebte. Wenn hier dennoch ab und zu ein Taxi vorbeifährt, dann meist mit japanischen Touristen: Für einen Schnappschuss eines weißen schmucklosen Gebäudes mit der Aufschrift Studio One. Ein Ort, wo vor beinahe fünf Jahrzehnten Ska, Rocksteady und Reggae ihren Siegeszug durch die Welt antraten. Wo sich jamaikanische Geschichte zu magischen Songs verdichtete. Und wo Bob Marley 1963 als Teil eines chaotischen Vokalquintetts seine frühesten Platten aufnahm – als noch niemand ahnte, dass der Typ vom Land ein Jahrzehnt später zum ersten Superstar der Dritten Welt aufsteigen würde, seine Songs einmal afroamerikanische Bürgerrechtsmärsche, die Aufstände des arabischen Frühling und europäische Studentenproteste befeuern würden. Was aber ist bis heute geblieben? Von einer Musik, die bis heute hunderte Millionen Tonträger verkaufte und stets für die Armen und Unterdrückten Partei ergriff? Was bedeutet Marley noch jenseits der sexy Kiffer-Porträts auf den T-Shirts? Und wer sind seine Erben im Jamaika von heute?
Erst nach mehrfachem Zuruf öffnet ein Gärtner das Tor:. Ich habe Glück: Ein alter schwarzer Mann mit Schiebemütze, der sich als Vin Morgan vorstellt, sitzt auf einem Klappstuhl im Hof und klebt Papierlabel auf einen Stapel Singles. Nachpressungen alter Aufnahmen. „Ich habe seit 1971 die meisten davon als Teil der Hausband arrangiert und begleitet.“ Die Talente standen täglich vor der Tür Schlange. Jamaika sucht den nächsten Hit. Wenn die Sänger gefielen, wurde gleich aufgenommen. Sechs Dollar pro Session hätte er bekommen, sagt Vin. Für Instrumental-Tracks, die dann immer wieder mit neuen Gesangsparts recyclet wurden. Jamaika war schon damals seiner Zeit voraus. Denn die Studios hatten nur einen Zweck: Die Soundsystems genannten mobilen DJ-Anlagen mit neuer Musik zu beliefern. Vin produzierte mit seiner Hausband damals so etwas wie billige Samples. Dass die damals eingespielten Riddims noch heute populär sind, verwundert ihn nicht: „Wir nahmen mit nur zwei Spuren auf. Eine für den Sänger. Und die andere mussten sich Bläser und Rhythmusgruppe teilen. Manchmal ließen sich die Musiker von der Begeisterung mitreißen und wurden gegen Ende lauter. Oder wir korrigierten einen Fehler nicht – weil der Song so einfach besser klang.“ Mit diesem menschlichen Faktor könnten die neuen Digital-Produktionen nicht konkurrieren. Und dann ist da noch dieser typisch kratzige Sound. Auf den Originalbändern klinge alles sauber, sagt Vin. Aber weil die Vinylpressen der Konkurrenz gehörten, hätten sie die Studio-One-Matritzen mit Nadeln bearbeitet. Jetzt habe man ihn sogar auf CD übernommen. „Die Fans empfinden das Kratzen inzwischen als eine Art Gütesiegel“. Bereits Ende der 90er Jahre hatte sich der inzwischen verstorbene Labelbetreiber Sir Coxsone Dodd nach New York abgesetzt. Vermarktungs-Logistik, eben. Immerhin sind die alten Riddims begehrte Samples für aktuelle Rhythm‘n Blues- und HipHop-Hits. Vin führt in den dunklen Dachboden des Hauses. Ein paar Regale voller Singles-Kisten – fünf Dollar das Stück. Das sei alles, was geblieben sei.
Doch die Liebesbeziehung von Jamaika mit dem westlichen Pop ist beileibe nicht abgeschlossen. Im Gegenteil. HipHop-Superstars wie Drake profilieren sich mit Dancehall-Rhythmen und Patois-Raps. Shaggy und Sting haben gerade zusammen „Don‘t Make Me Wait“ aufgenommen, einen Vorboten der jedes Jahr wiederkehrenden Sommer-Reggae-Hit-Welle, während die besten deutschen HipHop-Produktionen der letzten Jahre, von Bonez MC und Raf Camoras „Palmen aus Plastik“ bis zu Trettmanns „Billie Holiday“ sich im Sound wie in den Bildern von Bob Marleys Heimat inspirieren lassen. Selbst jamaikanische Veteranen finden im Westen ein junges Publikum: Hier werden die Roots-Reggae-Künstler als Vertreter einer antiautoritären Gegenkultur gefeiert. Hipster mit Rastalocken und Rebellen-Bonus. Müssten da die Orte, an denen ihre Musik einst enstand, ncht längst Wallfahrtsorte sein? Mit Goldkordel-geschmückten Eingängen und angeschlossenen Souvenir-Shops? Nichts wäre weiter entfernt von der Realität der Orange Street. Vor einem halben Jahrhundert galt die Straße ein paar Ecken südlich des Studio One als Schlagader des lokalen Musikgeschäfts – alte Fotos zeigen ein Studio neben dem anderen, dazwischen die Plattenhändler, die die DJs mit dem neuesten Treibstoff versorgten. Heute gähnt einem aus allen Ecken der Verfall entgegen. An einer Open-Air-Bar lehnt ein älterer Rasta mit Ledermütze. „Hey, Du suchst nach Musik? Hier läuft nicht mehr viel“. Der Mann muss es wissen: Errol „Flabba“ Holt gehört zu den Legenden des Studiobusiness. Seit den 70er Jahren hat der Bassist Hits von Gregory Isaacs, Eek-A-Mouser oder Prince Far I den entscheidenden Unterboden geliefert und mit seiner Band Roots Radics einige der erfolgreichsten Dancehall-Riddims aller Zeiten geschaffen. Die meiste Zeit, sagt Holt, toure er durch Europa und Nordamerika „Die Menschen dort schätzen unsere Musik mehr“. Ein verblasstes Graffito weist auf die einstigen Studios von Prince Buster hin, an der Ecke rauchen ein paar betagte Musiker vor einem winzigen Aufnahmeraum, in dem früher mal Roots Reggae-Nummern, heute aber vor allem Radio-Werbeclips produziert werden. Und der Plattenladen daneben? „Ich spiele dir alles vor“, sagt der Besitzer und legt einen Turm zerkratzter Singles in zerschlissenen Pappen auf die Theke. Das Business läuft heute digitial, die letzte Vinylpresse in Kingston hat schon vor Jahren dichtgemacht.
Am Ende der Orange Street, wo die Straßenverkäufer Maniok und Zuckerrohr anbieten, und Kingston einen fast afrikanischen Flair entfaltet, steht ein älterer Mann in sorgfältig gebügeltem Hemd vor dem Tor zu einer anderen Zeit. „Randy‘s Record Store and Studio“ prangt darüber. Pat Scabba steigt eine steile Treppe hinauf in den schummrigen Raum. „In den 60er und 70er Jahre lagerten immer eine Menge Musiker vor der Tür – damit ich sie jederzeit für eine Session hereinrufen konnte“, erinnert sich der 66-jährige Produzent, selbst einst Sänger der Itals. Unter anderem die Skatalites, Toots & The Maytals oder Augustus Pablo seien Stammgäste gewesen. Lee „Scratch“ Perry, der Produzent und Mentor des jungen Bob Marley spielte hier dessen bahnbrechendes Album „Soul Revolution“ ein. Heute gleicht das Studio einem Flohmarkt: Ein Verhau von antiquierten Tonbandmaschinen, Mischpulten, Plattenpressen und Musikinstrumenten. „Kennen Sie „Mr. Brown“ von Bob Marley?“ fragt Scabba und zeigt auf eine Farfisa-Orgel, der die Hälfte der Tasten fehlt. Klar, wer kann diese von Horrorfilm-Orgeln, statischem Brummen und Gestöhne untermalte Nummer schon vergessen? Dass Lee „Scratch“ Perry ausgerechnet in diesem Schuppen seine Soundeffekte schichtete und die Blaupause für die Pop-Produktion der Zukunft schuf! „Anfang der 80er Jahre ging das Geschäft zugrunde“ sagt Scabba. „Wegen der Schießereien zwischen den Gangs trauten sich die Kunden nicht mehr nach downtown“. Schlimmer noch: „Laptop-produzierte Hits wie ‚Sleng Teng‘ machten die Musiker im Studio überflüssig“.
Demnächst solle auch „Randy‘s“ zum Museum konvertiert werden. Eine Musik-Gedenkstätte mehr für Kingston – neben Marleys zum Multimedia-Spektakel aufgerüstetem Wohnhaus an der Hope-Road, dem Peter Tosh-Museum oder den Tuff-Gong-Studios, wo heute Lauryn Hill, Snoop Dogg oder der aus Köln stammende Gentleman Reggae-Nummern in historischem Ambiente aufnehmen. Die Oldschool-Aura vermarktet sich gut. Aber hier in Jamaika? „Die bessere Gesellschaft“ erklärt Chris Blackwell, der 80-jährige ehemalige Chef von Island Records, „konnte sich nie damit anfreunden, dass ein barfüßiger Typ mit Zottelfrisur ihre Kultur repräsentiert“. Blackwell, der weiße Sproß einer jamaikanischen Unternehmerfamilie, hatte 1959 nicht nur das erste jamaikanische Label gegründet. Er war es auch, der Marley, Tosh und andere Sänger ermutigte, über die üblichen Cover von Soul-Schnulzen hinauszugehen. „Mir gefiel ihre Rebellen-Pose. Musik war in Jamaika immer auch Politik“. Marley als Kind eines weißen englischen Aufsehers und einer schwarzen jamaikanischen Mutter geboren, war seiner hellen Hautfarbe wegen stets angefeindet worden. Schwarze Jamaikaner argwöhnten, sie haben erst seinen Erfolg im Westen ermöglicht. Und seine Familie väterlicherseits? Bei einem Tee-Salon in einem der besseren Häuser von Kingston ist zufällig ein Onkel Marleys zugegen. „Wir haben Bob immer ignoriert“, sagt Andrew Bloomfield, ein vornehmer Herr mit weißen Haaren. „Aber nicht wegen seiner schwarzen Mutter. Sondern weil er kiffte.“ Und noch etwas verrät er. „Unsere Vorfahren sind hauptsächlich Deutsche. Auch Bob hat das im Blut“.
Ein Rasta-Idol, dessen Frisur auf die Locken der indischen Sadhus zurückgeht, dessen Rhythmen afrikanische, und dessen Familie deutsche Wurzeln hat: Marleys „One Love“ – Botschaft, seine Beschwörungen, schwarz und weiß, arm und reich zu transzendieren, spiegeln das Patchwork seiner jamaikanischen Heimat. „Juden, Spanier, Engländer, Iren, Deutsche und Afrikaner habe ihre Melodien und Rhythmen in den großen jamaikanischen Stew gegeben“, sagt Herbie Miller. „In der Karibik enstanden durch Sklaverei und erzwungenen Bevölkerungaustausch die ersten modernen Gesellschaften“. Der Direktor der Musikabteilung des „Institute of Jamaica“ räumt Stapel von Platten und Büchern zur Seite, um dem Besucher einen Stuhl in seinem Büro anzubeiten. In der viktorianischen Villa nebenan kann man Jamaikas Beitrag zur Weltkultur besichtigen: Unter anderem die erste solide elektrische Gitarre der Welt aus den 40er Jahren. Ihr Erfinder Hedley Jones sollte ein Jahrzehnt später die gewaltigen Lautsprecherboxen konstruieren, mit denen jamaikanische Soundsystems bis heute die Hosenbeine der Tänzer zum Flattern bringen: HipHop, Techno, alle Bass-Musik hat hier ihre Wurzel. Warum aber konnte gerade Jamaika, eine Insel mit weniger als drei Millionen Einwohner, zu einer solchen kulturellen Weltmacht aufsteigen? Miller verweist auf die Rasta-Kultur. „Weil die Sklavenhalter mit ihren Lügen unser Selbstvertrauen unterminierten, mussten wir in uns gehen, unseren Wert jenseits der materiellen Realität suchen“. Also besann man sich auf Mutter Afrika, die Idee von Gleichheit und Brüderlichkeit und ein Leben im Einklang mit der Natur. „Mit der Rasta-Botschaft gingen jamaikanische Musiker auf einen weltweiten Erlösungs-Feldzug: Jetzt hatten sie nicht nur Musik, sondern eine komplette Identität zu bieten“.
Von dieser Identität allerdings ist in den Straßen Kingstons wenig zu spüren. Aus Autoradios, Geschäftseingängen und Smartphones scheppern hektische, von aggressiven Computer-Riddims getriebene Gesänge. Dancehall. „Sie quatschen uns zurück in die Sklaverei,“ schimpft Herbie Miller als ein Jeep mit aufgedrehten Boxen passiert: „Punnanny, punnanny…“ Patois für das weibliche Geschlechtsorgan. „Reggae geht es um die Gemeinschaft, Dancehall nur um das Ego.“ Tatsächlich wirken die Obszönitäten des Dancehall im Vergleich mit Marleys Hymnen wie Kneipenwitze nach einem Gottesdienst. Möglicherweise aber spiegelt die Musik auch nur eine politische Desillusionierung. In den 70er Jahren, erzählt Miller, habe die People‘s National Party nicht nur sozialistische Ideen, sondern auch Rasta-Spiritualität hoffähig gemacht. Bob Marley mahnte damals seine Glaubensbrüder: „Wartet nicht auf das Schiff zurück. Euer gelobtes Land Äthiophien könnt ihr hier und jetzt verwirklichen“. 1980 aber habe sich das Klima mit dem Wahlsieg der JLP und deren CIA-gesponserten Milizen radikal verändert. Chemische Drogen wie Crack verdrängten Marihuana. Ghettojugendliche sahen ihre Chance als Dealer. Und ein Teil der Popmusiker wechselte die Seiten. Die Gangs sponsorten Dancehall-DJs, ließen Songs über sich und ihre Gewalttaten schreiben. Kein Wunder, dass Cartel, einer der größten Dancehall Stars der Gegenwart, im Gefängnis sitzt. Wegen Mordverdachts in Verbindung mit Gang-Aktivitäten. Und doch scheint dessen Popularität ungebrochen: „Free Cartel“ prangt es auf vielen Autos – während die Radiostationen sich darin überbieten, möglichst viele Songs des Häftlings zu spielen.
Nach welchen Regeln aber funktioniert der Dancehall? Und wie stehen seine Produzenten zu der großen musikalischen Tradition, die sie beerben? „Mann, ich mag Bob Marley“, sagt Caspa. „Ich stehe auch auf positive Botschaften.“. Der 35-jährige Dancehall-Produzent wirft die Zöpfchen-Frisur nach hinten, nimmt einen Zug von seinem Spliff und bläst eine Wolke in den schwülen Nachthimmel über Kingston. Sein Hinterhof-Studio befindet sich kaum mehr als hundert Meter Luftlinie vom Marley-Museum entfernt. Der Sound aber hat mit der Tiefenentspannung der Reggae-Bässe kaum etwas gemein: Leiernde Keyboards über Beats, die rasseln wie ein Traktor mit Fehlzündung. Aus der offenen Tür plärrt Caspas neuer „Remington“-Riddim in den Garten, wo der Produzent mit seiner Posse die Joints kreisen lässt. „Wir gehen mit der Zeit. Wer kann sich heute noch richtige Instrumente leisten?“ Außerdem sei das Geschäft kurzlebiger geworden: „Die
Jugendlichen in den Dancehalls wollen jede Woche etwas Neues hören.“ Caspa zählt seine Kunden auf. Alles große Namen der Szene. Wie aber erklärt er die Allgegenwart von Sexismus, Homophobie und Gewaltverherrlichung im Dancehall? „Die Leute brauchen immer krassere Sachen. Sie wollen nicht belehrt werden – so funktioniert Unterhaltung nun mal.“ Er persönlich allerdings würde keinen Schwulen-Diss aufnehmen. „Warum nicht?“ fällt ihm ein Kumpel ins Wort, „steht doch schon in der Bibel dass Jah keine Schwulen duldet“. „Battyman“ heißt hier das Szene-Schimpfwort. Man dürfe nicht alles wörtlich nehmen, meint Caspa. Wenn einer vom „Verbrennen“ rede, dann meine er womöglich nur die Reinigung der Seele. Dann scheucht er den Sänger, einen dicken bärtigen Typ mit Goldkette und Gummisandalen zurück ins Studio „Gimme better“. Der Riddim wird aufgedreht, der Mann in der Gesangskabine rapt von reichen Freunden aus Amerika, schwitzt und gestikuliert wie ein Boxer im Ring: „Shell em up, shell em up…“
Fastfood für die Dancehalls. Doch nicht alle in Kingston sind auf diesen Zug aufgesprungen. Seit sieben, acht Jahren erlebt der Roots-Reggae eine Renaissance – ,lassen sich junge Musiker wieder verstärkt von einer Botschaft inspirieren. „Unsere Welt braucht heute die Prinzipien der Rastas dringender denn je“, erklärt Protoje, neben Chronixx, Jah Nine oder Queen Africa Teil der neuen Bewegung. „Rasta bedeutet für mich Diplomatie und Inklusion. Das hilft mir, auf alle Menschen mit einem offenen Geist zuzugehen“. Der junge Roots-Star schlürft einen grönen Tee. Filzlocken rahmen sein schmales, ernsthaftes Gesicht. Hier auf der Veranda seiner Villa in Jack‘s Hill mit dem fantastischen Ausblick auf die tiefer gelegenen Teile Kingstons, den Hafen und das Meer, schreibt Protoje Songs, die an den Respekt vor der Natur, vor den Frauen, vor der eigenen Göttlichkeit appellieren: „I hear it‘s revolution time, but more I fear an evolution of mine“. Bob Marley und seine Zeitgenossen hätten die Revolution gepredigt, sagt Protoje, heute aber müsse man die Botschaften den Menschen wie die Vitamine im Salat unterjubeln. „Erst tanzen sie, dann hören sie zu“. Dancehall sieht er nicht als Konkurrenz: Er schätze die rohe Emotion der Straße, nutze selbst Dancehall-Riddims für seine Musik. „Es fehlt nur die Balance. Bis auf Irie FM ignorieren uns alle Sender. Sie sagen sie müssten Partymusik spielen – um Werbekunden zu bekommen“.
Also produziert man Reggae für den Export. So wie Dale „Dizzle“ Virgo in den Geejam-Studios, zwei Autostunden nördlich von Kingston am Fuße der Blue Mountains. „Rihanna, Alicia Keys, Chris Martin, sie waren alle schon hier. Weil sie unsere Kultur, den jamaikanischen Vibe lieben“. Westliche Plattenfirmen schicken regelmäßig ihr Personal in Virgos High-Tech-Labor. Erst kürzlich habe er einen Workshop für die Top-Songwriter und Produzenten von Rocknation und BMG gehalten. „Sie wollten wissen, wo diese unglaubliche Energie herkommt“. Virgo redet dann über den Bass. Nicht die „leblosen Keyboards der Dancehall-Hits“, sondern über einen Sound, der „Ängste löst, die Hüften lockert und deine Hemmungen fallen lässt“. Der Bass müsse sich mit der Seele verbinden. Virgo lacht. Ja, diese Musik ermutige, aufzustehen, gegen Unterdrückung aller Art. Bob Marley habe schon Recht gehabt. Viele der jungen Künstler glaubten wieder an „One Love“. Sogar die Musikhochschule in Kingston, von der das Gros der Nachwuchsszene stamme, habe seit Kurzem Reggae – neben Latin und Jazz – auf dem Lehrplan. Dale jedenfalls glaubt an eine Kehrtwende des jamaikanischen Pop: „Wenn du eine 70er-Jahre-Platte hörst, dann schiebt dich der Beat und zieht dich gleichzeitig zurück. Du kannst darauf tanzen, du kannst dich entspannen, du kannst darauf sogar meditieren. Am I right Riki?“ Riki Simmonds, eine junge afroamerikanische Sängerin aus Cleveland, klatscht ihn ab. „Ohne Leute wie Marley hätte ich nie angefangen, Songs zu schreiben“, sagt sie. „Gott segne ihn!“ Dann setzt sie wieder die Kopfhörer auf und wippt im Sog der gewaltigen Basslinie.
JONATHAN FISCHER
in gekürzter Fassung in der SZ vom 27.8.2018