Monatsarchiv: Juli 2023

DIE WUT IST BERECHTIGT

Die Schriftstellerin Aya Cissoko über strukturellen Rassismus, verweigerte Würde und die Ursachen der aktuellen Ausschreitungen in ihrem Heimatland Frankreich

Aya Cissoko wurde1978 in Frankreich als Tochter malischer Arbeitsmigranten geboren. Sie studierte Politikwissenschaft und wurde 2006 Amateur-Boxweltmeisterin. Als Autorin befasst sie sich seit langem mit dem Spannungsfeld, in dem die Kinder von Migrantenfamilien in Frankreich aufwachsen. Ihr erstes 2011 veröffenlichtes Buch „Danbé“ wurde unter dem Titel „Wohin ich gehe“ verfilmt. 2017 erschien ihr zweites Buch „Ma“. Ebenfalls im Wunderhorn-Verlag veröffentlichte sie 2023 ihre Familiengeschichte „Kein Kind von Nichts und Niemand“. Cissoko lebt und arbeitet in Paris.  

Seit letzte Woche bei einer Verkehrskontrolle im Pariser Vorort Nanterre ein Polizist den 17-jährigen Nahel Merzouk erschoss, wird Frankreich von gewalttätigen Unruhen erschüttert.  Autos brennen, Geschäfte werden zertrümmert, die Polizei liefert sich Straßenschlachten mit Jugendlichen. Sind Sie überrascht von diesem Ausbruch der Gewalt?

Nein, kein bisschen. Viele haben schon lange davor gewarnt und ich selbst habe in meinen Büchern über die fortgesetzte Ungerechtigkeit geschrieben, denen nicht  nicht-weiße Franzosen ausgesetzt sind. Die Wut ist berechtigt. Wir Abkömmlinge von Migranten,egal ob Männer, Frauen, Kinder haben genug von diesem unwürdigen Leben. Sind frustriert von der täglichen institutionellen Gewalt. Das kocht jetzt alles hoch, weil der Staat das Problem totgeschwiegen hat.

Heißt das, dass die Ermordung des 17-jährigen Autofahrers nur eine Wut sichtbar macht, die sich bei den Jugendlichen bereits seit Jahren angesammelt hat?

Ja, die Entfremdung und Enttäuschung hat schon vorher stattgefunden. Wir haben in Frankreich eine ungerechte und hierarchisierte Gesellschaft, von der viele aufgrund gesellschaftlicher, rassischer und ökonomischer Marker von Geburt an ausgeschlossen bleiben.

Offiziell gilt ja immer noch diese speziell französische Spielart des Säkularismus, die behauptet, dass man unabhängig von Religion, Rasse oder Klasse erstmal ein gleichberechtigter französischer Bürger ist…

Der Staat und die Schulen propagieren ein Ideal des Universalismus, der aber an der Wirklichkeit längst gescheitert ist.

Wollten Sie deshalb als Kind lieber eine Weiße sein, wie sie in Ihrer Familiengeschichte „Kein Kind von Nichts und Niemand“ schreiben?

Ein Kind kann viele Dinge noch nicht verbalisieren. Aber ich habe schon in jungem Alter gespürt, dass die Behandlung von Schwarzen und Weissen nicht die selbe ist. Und natürlich wollte ich zur stärkeren, respektierteren Gruppe gehören.        

Gleichzeitig, schreiben Sie, hätten Sie sich als Kind für Ihre aus Mali eingewanderte Mutter geschämt. Warum?

Die Helden, die uns im Alltag und in der Schule vorgesetzt wurden, hatten nicht unsere Abstammung, nicht unsere Hautfarbe. Wie konnte ich überhaupt jemand sein, wenn ich nicht reich, wichtig und mächtig war? Meine Mutter aber war schwarz und arm. Das heißt sie blieb in der französischen Gesellschaft so gut wie unsichtbar. Erst als ich älter wurde, erkannte ich über welche Kraft sie verfügte. Dass sie und mein Vater sehr wohl Helden waren. In der griechischen Mythologie ziehen die Helden aus ihrer Heimat fort, gehen dem Unbekannten entgegen und setzen sich ungeheuren Gefahren aus. Genau das haben meine Eltern getan: In einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht kannten, in einer Gesellschaft, die sie systemisch benachteiligte, ihnen nur schlecht entlohnte Arbeit und eine prekäre Existenz  zugestand, trotzdem zu bestehen und uns Kinder großzuziehen.   Deshalb habe ich drei Bücher über meine Familie geschrieben. Um die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel zu erzählen. Um die verkannte Würde meiner Eltern anzuerkennen.

Immerhin haben Sie es geschafft zu studieren, sind als Box-Sportlerin und Buch-Autorin international bekannt. Heißt das nicht, dass sich mit dem nötigen Ehrgeiz doch Wege aus der Misere öffnen?

Ich habe mit dem Boxen vor allem angefangen, um nicht durchzudrehen. Die Schläge, die ich sonst im Leben einstecke, im Ring zu parieren, und zurück zu schlagen. Aber diese Phrase, dass man alles erreichen kann wenn man nur will, bleibt ein Märchen. Ich bin im 20sten Arrondissement, einem armen Viertel von Paris aufgewachsen. Menschen, die dort und anderen Immigranten Vierteln oder auch den Banlieues leben, haben sich ihr Leben nicht ausgesucht: Nicht die prekäre Wohnsituation in der sie aufwachsen, nicht die Schulen, die sie besuchen dürfen, und nicht die Arbeit, die man sie machen lässt. 

Sie schreiben von einem gelegten Wohnungsbrand, die fünf Menschen, darunter ihren Vater und ihre Schwester töteten. Ihre Mutter musste danach  zehn Jahre vor Gericht kämpfen, um als Opfer dieser kriminellen Brandstiftung anerkannt zu werden.

Dieser Kampf meiner Mutter hat mir das Ausmaß institutioneller Gewalt gezeigt, der wir Nicht-Weiße unterworfen sind. Es ist die gleiche Gewalt, die heute die Wut der jungen Menschen befeuert. .

Sie besuchen ja auch häufig für Lesungen Schulen, in denen vor allem Jugendliche mit migrantischem Hintergrund unterrichtet werden:  Sehen Sie Fortschritte bei der Inklusion seit ihrer eigenen Schulzeit?

Nein, im Gegenteil. Die Schulen in Frankreich sind heute segregierter als je zuvor. Die Regierung von Nicolas Sarkozy hatte die Wirtschaft aber auch das Bildungssystem liberalisiert.  Die Verlierer dieser Liberalisierung sind die staatlichen Schulen und Bildungs-Institutionen. Dort bleiben die Armen und Nicht-Weißen unter sich.  Diejenigen Eltern aber, die sich im französischen Schulsystem auskennen  und die über die notwendigen Mittel verfügen schicken ihren Nachwuchs an die sogenannten besseren Schulen.

Wollten Sie mit Ihrem Buch „Kein Kind von Nichts und Niemand“  die Öffentlichkeit über die Verhältnisse in Frankreich aufrütteln?

Das Buch ist offensichtlich als Brief an meine Tochter geschrieben. Aber es adressiert letztlich alle Leser: Seht, wie willkürlich über unser Leben bestimmt wird.  Seht all die Kämpfe, die wir führen müssen, um nicht unsere Menschenwürde zu verlieren. Uns bleibt nichts als unsere Wut. Niemand soll glauben, dass die Jugendlichen die Unruhen als Spiel betrachten. Vielmehr geht es um so elementare Dinge wie Leben und Tod, um Würde und Menschlichkeit. Darum dass sie nicht mehr Angst haben müssen,  von einer Polizeiwaffe getötet zu werden. Denn das ist kein Einzelfall gewesen.

Aber diese Zerstörungswut, all die brennenden Autos und zerschlagenen Fensterscheiben werden doch den Graben zwischen den Jugendlichen,  den Ordnungsorganen und der Restgesellschaft doch nur noch vertiefen, oder?

Eingeschlagene Scheiben und demolierte Geschäfte kann man reparieren. Das ist nur materieller Schaden. Aber die Leben der Verstorbenen nicht. Schon in den 80er Jahren gab es  den „Marche pour la egalité“, den Protestmarsch für die Würde nichtweißer Franzosen – und nichts ist passiert. Wenn man will, dass die Gewalt aufhört, muss man sich die darunter liegenden Probleme endlich zu Herzen nehmen. Konkret heißt das: Es reicht nicht, die Polizei zu reformieren. Man muss die Strukturen,die die Ungleichheit in  unserer Gesellschaft festschreiben, die uns unsere Würde rauben, reformieren.

Siebezeichnen die Wirkungsweise der französischen Polizei als Fortschreibung der Kolonialpolitik. Wie meinen Sie das?

Menschen nicht-weißer Hautfarbe werden von ihnen dauernd kontrolliert. Und wenn Sie wissen wollen, was die Polizei denkt, lesen Sie eine Presseerklärung, die zwei Polizeigewerkschaften gerade veröffentlicht haben. Darin werden die jungen Männer, die auf der Straße protestieren, nicht als Menschen sondern als „nuisibles“, als Schädlinge , bezeichnet. Und ein harter, gnadenloser Einsatz – also letztlich ihre Vernichtung – gefordert.

Haben Sie das selbst so erlebt?

Ich bekomme das als Frau weniger ab, da sich die Polizeigewalt hauptsächlich gegen junge Männer richtet. Sie werden nicht als Bürger, sondern eher wie Feinde behandelt. Dazu passt es, dass in Meinungsumfragen fast drei Viertel der Polizisten sich als Sympathisanten der Front National, also einer rechtsextremen und rassistischen Partei bezeichnen. Viele von ihnen haben sich sogar Nazi-Embleme tätowieren lassen. Wir weisen schon seit Jahrzehnten auf das Problem hin: Dass sich viele Polizisten gerade in den armen und Einwanderer-Quartieren wie Besatzer benehmen. Um die dort lebenden nicht-weißen jungen Männer zu unterwerfen. Ich habe zwei junge Neffen – und ich habe jeden Tag Angst um sie. 

In den Medien werden vor allem die dramatischen Gewaltszenen  gezeigt – und weniger die dahinterstehenden Missstände diskutiert. Erleben Sie das auch so?

Ich kann es gar nicht oft genug wiederholen: Es geht hier nicht um Randale, sondern um die Egalité, die Gleichheit, die ja seit der französischen Revolution zu den Eckpfeilern unserer Republik erklärt wurde. Egalité, das heißt ein Leben in Würde für alle. Das ist nicht verhandelbar. Auf den Demonstrationen höre ich immer wieder eine Parole, die es auf den Punkt bringt:  Pas de justice, pas de paix. Keine Gerechtigkeit, kein Friede. 

Interview: JONATHAN FISCHER