Monatsarchiv: März 2017

Stolz und Vorurteil – Jugendliche aus Migrantenfamilien sollen ihrer Heimat Deutschland misstrauen und seien deswegen anfällig für Verschwörungstheorien. Das behauptete das Innenministerium. Kann das stimmen?

Kenans Eintrag bei Facebook ist deutlich. Er zeigt eine Zeichnung, in der ein Anhänger des sogenannten Islamischen Staats Dartpfeile auf eine Zielscheibe wirft, die Israel sein soll. Kein einziger Pfeil hat das Ziel getroffen. Stattdessen sieht man links und rechts an den Wänden Pfeile stecken, die auf Ländernamen wie Frankreich, Deutschland, Ägypten, Syrien, Türkei gelandet sind.

Kenan ist ein 22-jähriger muslimischer Mazedonier, der seit seiner Jugend in München lebt und arbeitet. Die Unterstellung ist offensichtlich: Die Medien verschweigen uns etwas, es gibt geheime Drahtzieher des Terrors – und wenn ausgerechnet Israel vom IS verschont bleibt, ist das ein wichtiger Hinweis. Kenan hat darüber viel mit seinen Kumpels aus der Moschee diskutiert. Alle sind sich einig. „Wer Herz und Verstand hat“, sagt Kenan, „der muss das glauben.“ Nur: Auch in Israel gab es Anschläge von IS-Anhängern, wenn auch nicht so spektakuläre wie in Nizza oder Berlin. Und warum gerade Israel der IS-Komplizenschaft verdächtigen und nicht etwa die ideologisch den Terroristen viel nahestehenderen Golfstaaten? Solche Einwände lässt Kenan schlicht nicht gelten: „Es geht doch bei den Terroranschlägen darum, den Islam schlecht zu machen. Und da frage ich mich, wer kann Interesse daran haben? Wer möchte den Muslimen unbedingt schaden?“

Ähnlich argumentiert Mert. Der 19-jährige Lehrling im Einzelhandel ist zwar als Kind türkischer Einwanderer in München geboren. Aber richtig akzeptiert, sagt er, habe er sich von den Deutschen nie gefühlt. „Wir Türken haben immer unsere eigenen Cliquen mit anderen Migrantenjungs gebildet.“ Dazu gehörte auch das geteilte Weltbild, dass man „Opfer“ dunkler Mächte wäre. „Wir haben beschlossen, nicht mehr alles zu glauben“, sekundiert der 16-jährige Ali, ebenfalls Lehrling in einem Supermarkt.

Eines glauben alle in der Clique: dass nicht Angela Merkel oder der amerikanische Präsident die Politik bestimmen, sondern „Zionisten, Illuminaten, Anti-Christen, die Rothschilds und Rockefellers“. Mert sagt das ohne den Deut eines Zweifels. Sein Freund Ali nickt: „Die haben Obama nur an die Macht gebracht, um die Menschen zu täuschen, dass sie angeblich so liberal sind.“ Das wisse er aus einer Youtube-Reportage. Mert, Ali und ihre Clique informieren sich nicht in Tageszeitungen, auch nicht bei den Nachrichtenportalen der großen Medien. Aus Misstrauen.

Die Bundesregierung hat das Problem der Falschnachrichten schon im Blick, die seit dem amerikanischen Wahlkampf Fake News heißen. Das Innenministerium hat Ende Dezember angekündigt, ein Abwehrzentrum gegen Desinformation einzurichten. Die Ankündigung erwähnte ausdrücklich „türkischstämmige Menschen“ als Zielgruppe, neben den für Kreml-Propaganda besonders anfälligen Russlanddeutschen. Man müsse hier die „politische Bildungsarbeit intensivieren“.

Im Gespräch mit migrantischen Jugendlichen fallen immer wieder Sätze wie: „Die Politiker verarschen uns bloß.“ „Wir sind für die Deutschen doch die Sündenböcke.“ Oder auch: „Der Westen möchte uns Muslime nur verunglimpfen.“ Mert, Ali und Kenan jedenfalls stehen exemplarisch für viele muslimische Migrantenjugendliche in Deutschland.

Kenan, der als Türsteher und in der Baufirma seines Vaters jobbt, und dessen Facebook-Timeline hauptsächlich seine Erfolge als Amateurboxer und Familienbilder zeigt, ist ein athletischer junger Mann, dessen nettes Lächeln manchmal noch eine kindliche Schüchternheit offenbart. Zum Islam kam er durch einen Freund, dessen Disziplin und Freundlichkeit ihn in der Schule beeindruckten. Der Glaube, sagt Kenan, sei sein größter Halt. „Nur wenn ich bete, fühle ich diese Dankbarkeit und Liebe.“ Was er auf Facebook teilt, sind keine plumpen Fake News. Aber es gibt deutliche Richtungen: Erdoğan, die Saudis und muslimische Konvertiten spielen da Heldenrollen, ihre westlichen Kritiker werden als vermeintliche Dummköpfe vorgeführt.

Oft sind es „Bauchgefühle“, sagen Mert und Ali, die darüber entscheiden, ob sie eine Nachricht auf Facebook für wahr halten und teilen. Da kann es schon mal zu Widersprüchen kommen. Etwa wenn Mert den Post eines deutsch-russischen Freundes likt, der Putin auf Kosten von Obama feiert, und gleichzeitig flammende Aufrufe zur Rettung der von russischen Jets bombardierten Bevölkerung Aleppos teilt.

Auf den Widerspruch angesprochen, sagt Mert: „Da habe ich aus Reflex gehandelt.“ Das klingt fast entschuldigend. Vorausgegangen waren lange Netzdiskussionen des Autors mit Mert und seinen Facebook-Freunden. Und am Ende blieb oft nur die frustrierende Einsicht: Hier werden vor allem eigene Lebenserfahrungen verteidigt. Es stehen Glaubenssätze gegen Glaubenssätze.

Im direkten Kontakt wirkt Mert überaus einnehmend. Höfliche Umgangsformen, gut gestutzter Bart und seine Vorliebe für moralische Diskurse lassen den 19-Jährigen oft älter wirken als seine gleichaltrigen Arbeitskollegen. Wenn er ein Thema hat, dann: Gerechtigkeit. Daheim, am Arbeitsplatz, in der Weltpolitik. Der junge Deutschtürke stammt aus einer eher weltlich-liberal eingestellten Familie, sein Facebook-Profil zeigte lange das Nebeneinander einer Kirche und einer Moschee. Sein Bekenntnis zum Islam ist relativ neu. Davor haben Gangster-Rap und Fußball die Lücke gefüllt, die mehrere Schulverweise, zwei abgebrochene Lehren und ein Leben als Scheidungskind bei ihm hinterlassen haben.

Auf Merts Facebook-Seite finden sich auch überwiegend versöhnliche Botschaften: dass Muslime die unterschiedlichen Religionen respektieren sollten. Dass er Jesus respektive den Propheten Issa liebe. Und dass der Koran keine Rechtfertigung zum Morden gebe. Dazwischen aber hatte Mert auch Posts der umstrittenen Salafistenorganisation „Die wahre Religion“ verbreitet. Als ihr „Lies!“-Verein, der in den Fußgängerzonen kostenlos Korane verteilte, im letzten Herbst als verfassungswidrig verboten wurde, postete die Webseite wahrheitswidrig: „Der Koran ist in Deutschland verboten.“ Mert wusste, dass das nicht stimmt. Und er war schockiert zu hören, dass der Verein junge Muslime für den Dschihad anwirbt. Warum hat er dennoch die extremen Ansichten von Salafisten geteilt? „Ich hatte das Gefühl, wir Muslime müssen zusammenhalten.“

Es ist der Schulterschluss derjenigen, die sich am Rand der Gesellschaft wähnen. Wie Mert, Ali oder Kenan fühlen sich viele der jungen deutschen Muslime in der Defensive, sind sie auf der Suche nach der Verschwörung, dem Komplott, das die Ablehnung, das Misstrauen, das sie erfahren, erklären würde.

Verschwörungstheorien aber liefern nicht nur ein einfaches und deshalb irgendwie bequemes Bild der Welt. Sie kompensieren auch die Scham, Opfer zu sein. Liefern vermeintliches Geheimwissen, ein Gefühl der Überlegenheit. „Die meisten Menschen“ schreibt der amerikanische Psychologe und Trauma-Therapeut Dr. Laurence Heller, „entwickeln als Reaktion auf die Scham … konträre Gegen-Identifizierungen und Ich-Ideale, die auf Stolz basieren und in denen sich spiegelt, wie sie sich selbst gerne sehen möchten oder von anderen gerne gesehen werden wollen.“

Zusätzlich identifiziert Heller noch einen weiteren Abwehrmechanismus. Menschen, die in ihrer Kindheit traumatisiert wurden, tendieren dazu, ihr Leben lang innerlich ein vages Gefühl der Bedrohung zu verspüren. Ein Gefühl, das sie in der Folge auf ihre Umwelt projizieren.

Die meisten der Facebook-Seiten, die Mert oder Kenan bevorzugt teilen, sind jedenfalls kaum geeignet, das Vertrauen in die westliche Demokratie zu stärken. „Die Wahrheit liegt auf der anderen Seite“, „Killuminati“, „Islamisches Erwachen“, „Anti-Bild“ oder „Türktastisch“ heißen sie. Ihnen gelten Amerika, Israel, die westlichen Machthaber – und natürlich die Medien, die angeblich in deren Diensten stehen – als dauerverdächtig. Muslime kommen fast grundsätzlich nur als Verfolgte vor. Werden missverstanden und beleidigt. Man feiert dafür palästinensische Steinewerfer oder manchmal auch den „Widerstandskämpfer“ Erdoğan.

Typisch sind die Facebook-Kommentare des Erdoğan-Fans und Netz-Demagogen Bilgili Üretmen. Seine auf die Terroranschläge in Berlin gemünzte „Satire“ wurde vor allem von Deutschtürken und jungen Muslimen geteilt. Einige Hunderttausend Mal. Üretmen macht sich darüber lustig, dass islamistische Attentäter, in Nizza oder Berlin, stets ihre Ausweise hinterlassen. Ob das wirklich ein Zufall sein könne?

Die Unterstellung ignoriert erst mal das Leid der Opfer. Und suggeriert, dass der Anschlag nur eine Inszenierung unter Mitwirkung der Polizei sei. Auch der 25-jährige Tarkan M. hat diesen Post zustimmend kommentiert. „Das entzieht sich doch der Logik“, meint er und schreibt: „Leute denkt mal nach: Wie kann der Attentäter über zwei Grenzen ungehindert bis Italien kommen?“

Nun ist Tarkan ein relativ gebildeter und informierter junger Deutschtürke, der als Rechtsanwaltsgehilfe arbeitet und regelmäßig Nachrichtenportale wie spiegel.de und focus.de liest. Dennoch glaubt er an eine Selbstzensur der Journalisten, und dass „die deutsche Regierung Einfluss darauf nimmt, was die Medien berichten“. Das klingt bisweilen nach AfD. Und manchmal kreuzen sich tatsächlich die Ängste der Ausländerhasser mit denen der Migranten.

Seine Freundin, erzählt Tarkan, wohne in einer Kleinstadt 30 Kilometer östlich von München. Weil es dort ein Flüchtlingsheim gebe, bestehe er darauf, sie mit dem Auto heimzufahren. „Seit den Nachrichten über Silvester in Köln habe ich so ein Gefühl, dass die gefährlich sind.“ Er hat auch die Fake News über von Flüchtlingen vergewaltigte Mädchen gelesen. Die nachgeschobenen Dementis schafften es nicht mehr in die Nachrichten-Hits. Und möglicherweise hat die Bundesregierung nicht nur ein Fake-News-Problem. Denn auch Muslime scheinen oft mit Erklärungen dafür zu ringen, warum Angela Merkel und die Bundesregierung die Grenzen für Millionen ihrer geflüchteten Glaubensbrüder geöffnet haben.

„Wir misstrauen ihren Motiven“, sagt Tarkans Freund Emre, ein 28-jähriger Student der Ingenieurswissenschaft. „Politiker sind nun mal verlogen. Wir Türken wissen das besonders gut: Erdoğan etwa hat den IS heimlich unterstützt und beschuldigt jetzt Amerika.“ Emre sagt das so nüchtern, als wäre er ein Protokollbeamter. Er spricht zögerlich, scheint jedes Wort genau abzuwägen. Dass er auch den türkischen Staatschef in sein Misstrauen einschließt, unterscheidet ihn von vielen seiner Bekannten. Viele Deutschtürken, sagt Emre, würden der türkischen Staatspropaganda mehr Glauben schenken als der freien Presse hierzulande. „Jede Verschwörungstheorie ist ihnen recht – solange sie nur von Erdoğan kommt.“ Er hat auch eine Erklärung dafür. Man identifiziere sich mit einem starken Mann, einer starken Partei oder Religion, um die eigene Wunde zu rächen: „Ich habe auch lange alles an Deutschland schlechtgemacht. Weil ich verletzt war. Weil ich als Kind mit ansehen musste, dass meine Mutter wegen ihres Kopftuchs angespuckt wurde.“ Psychologe Heller nennt das „falschen Stolz“, der vor schmerzhaften Erinnerungen schützt.

Emre sagt, er habe inzwischen aufgehört, mit seinen Landsleuten zu diskutieren. Weil Fakten dabei schlichtweg nicht zählten. Das passt zu einer Studie der University of Southern California. Die im Dezember 2016 im Wissenschaftsmagazin Scientific Research veröffentlichten Untersuchungsergebnisse könnten erklären, warum Menschen oft an Fake News festhalten, auch wenn sie mit einer gegenteiligen Beweislage konfrontiert werden: „Politische Überzeugungen ähneln religiösen Überzeugungen“, sagt der federführende Professor Jonas Kaplan, „indem sie definieren, wer man ist und zu welchem sozialen Zirkel man gehört. Um also eine alternative Sichtweise in Betracht zu ziehen, müsste man auch eine alternative Version seiner selbst bedenken.“

Das heißt letztlich: Wer Fake News und Verschwörungstheorien effektiv bekämpfen will, kann sich nicht auf bloße Gegendarstellungen verlassen. Ein gelungenes Beispiel im Kleinen liefert etwa der Berliner Verein ufuq. Mit seinem Projekt „Was postest du?“ schickte er eigens für die Online-Arbeit geschulte junge Muslime dorthin, wo ihre jugendlichen Glaubensgenossen Orientierung suchen: In Facebook-Gruppen mit Titeln wie „Fragen über den Islam“ oder „Probleme und Lösungen im Islam“, die oft mehrere Zehntausend Mitglieder haben. Dabei ging es nicht darum, „richtige“ Antworten auf Glaubensfragen zu geben, sondern Klischees und verzerrte Darstellungen zu hinterfragen und das Meinungsspektrum zu erweitern.

Wenn die Bundesregierung allerdings mit einem Desinformations-Abwehrzentrum politisch intervenieren will, wirft das vor allem Fragen auf: Wie will man auf die tieferen Ursachen hinter dem Misstrauen mancher Bevölkerungskreise reagieren? Was, wenn die „türkischstämmigen Migranten“ nicht deshalb für Fake News empfänglich sind, weil es ihnen an Information oder Urteilskraft fehlt, sondern weil das Misstrauen gegen den „Mainstream“ mit einem Gefühl des Ausgeschlossenseins korreliert? Wir gegen sie. Und sie gegen uns. Wer sich selbst abgewertet fühlt, der mag nicht der Wahrheit der vermeintlich Mächtigen glauben.

JONATHAN FISCHER

SZ 17.2.2017