Die Möglichkeit, sich jederzeit noch einmal neu zu erfinden: Liegt darin nicht die ganze Strahlkraft Amerikas? Der Grund, warum dieses Land der Nabel der Popwelt ist? Man könnte ein Buch mit fantastisch anmutenden Verwandlungsgeschichten füllen: etwa der des Soulsängers und Bischofs Solomon Burke, der sich abwechselnd als Bestatter, Limousinenverleiher, Inhaber einer Schneeräumkolonne oder auch einer Popcorn-Fabrik durchs Leben schlug. Oder die Metamorphosen des George Foreman, vom Schwergewichtsweltmeister zum Straßenprediger und Vertreiber eines millionenfach verkauften fettfreien Grills.
Von den Popstars der Gegenwart aber beherrscht niemand das „Bäumchen, wechsle dich“ so virtuos wie Calvin Broadus Jr. Zwanzig Jahre nach Erscheinen seines Debütalbums „Doggy Style“ hat er bereits drei Aliasse verbraucht: das des Gangster-Rappers Snoop Doggy Dog, des Pimp-Darstellers Snoop Dogg und zuletzt das des religiös erleuchteten Reggae-Propheten Snoop Lion.
Nun kommt eine weitere Verpuppung: zum Funk-Master Snoopzilla. Das dazugehörige Album „7 Days of Funk“ nimmt uns mit auf eine Reise zurück in die Zukunft. Genauer: Zum tiefergelegten Funk der Achtzigerjahre, dem musikalischen Fundament des Westküsten-Hip-Hop. Albumproduzent Dam Funk und Snoop sind beide Jahrgang 1971, beide in Los Angeles geboren, beide mit der Bass-Musik von Bootsy „Bootzilla“ Collins, Rick James oder Zapp groß geworden. Sie atmen den Funk.
Aus dem Musikstudio in Amsterdam, wo Snoopzilla und Dam Funk Audienz halten, dringen dicke süßliche Schwaden in den Vorraum. Nach drei Stunden Wartezeit öffnet sich die Tür: gedämpftes violettes Licht. Und zwei schwarze Männer mit verspiegelten Sonnenbrillen in einer Wolke aus Nebel, Sprüchen und Gelächter. Es dauert eine Weile, bis sie sich dem Interviewer zuwenden.
Wie darf man die neue Snoopzilla-Persona in die biografische Erzählung einordnen? „Hip-Hop in den Achtzigern“, dröhnt der Schlaks im übergroßen Trainingsanzug, „war gewalttätig. Wir rappten über all den negativen Mist der Straße. Bloods gegen Crips, Drogen und Koks. Heute ist Hip-Hop dagegen ein einziger Spaß. Weil der Kampf vorbei ist. Als ich Reggae machte, ging es mir um eine Botschaft: um Liebe, Frieden, gute Schwingungen. Und nun will ich eben Funk spielen. Das ist meine Freiheit als Musiker. Ich kann tun und lassen, was mir gefällt, what the fuck I like.“ – „Sag‘ einfach, wie es ist, Bruder“, sekundiert ihm Dam Funk, ganz die Gemeinde des Baptistenpredigers. Gegenseitiges Abklatschen, sodass die bunt gerahmten, verspiegelten Sonnenbrillen fast von der Nase rutschen. Genüsslich ziehen sie an ihren Joints, blasen weiße Wölkchen in die Luft. „Funk ist Musik, um sich gut zu fühlen, sich zu bewegen, zu tanzen. Funk lässt sich nicht in Worte fassen. Aber wenn er dich erwischt, dann erwischt er dich“, sagt Snoopzilla.
Aber muss er den Funk überhaupt erklären? Sein bassgesättigter Näselton, die blasiert zerdehnten Silben, der geschmeidige Flow, mit dem ihm „when it’s in you, it’s in you“ über die Lippen kommt – das ist doch schon sein ganzes Evangelium. Gerappter Funk, der Snoop zur weltweiten Marke gemacht hat. Bei ihm zählte nie so sehr, was er sagt. Sondern wie er es sagt. Misogyne Gangster-Klischees und Zuhälterunsinn hin oder her: Sex sells. Und Snoops Nuschelraps zielen direkt auf den Unterleib. Das Comic-Cover seines Debütalbums „Doggystyle“ zeigte ihn als Macker-Hund auf seinem Häuschen, aus dem ein nacktes weibliches Hinterteil herausragt. Seitdem balancieren Snoops Raps auf dem schmalen Grat zwischen Schweinkram, Schurkenfantasie und Selbstironie.
„Gangster, hoes, shiznit“ – wie ernst er das alles meinte? „Ich habe nur beschrieben, wo ich herkomme. Ich rappte einen Film. Einen Film aus der Sicht von jemandem, der das genauso gelebt hat und den Schmutz unter der Erfolgsgeschichte hervorkehrt. Warum sollte jemand mit Drogen dealen und denselben Gang-Mist verzapfen wollen wie ich als Jugendlicher? Es gibt bessere Wege zum Erfolg! Deswegen komme ich auch nicht mit erhobenem Zeigefinger und sage: Mach dieses und jenes nicht. Nein, ich lebe heute als positives Vorbild.“
Davon konnte bei Calvin Broadus Jr. lange nicht die Rede sein. 1993 stand er wegen Mordes an einem feindlichen Gangmitglied vor Gericht – und kam nur frei, weil die Jury ihm glaubte, dass er in Notwehr gehandelt habe. Anfangs schlachtete sein Produzent Dr. Dre Snoops Gangster-Ruf entsprechend aus.
Doch das Image passte nicht wirklich: Snoop spielte lieber mit einer Karikatur des Pimp oder Zuhälters. Dichtete Dada-Verse, „shizzle to my nizzle“, nahm komödiantische Filmrollen und trainierte in seiner Freizeit die Footballmannschaft seiner Söhne. Auch lebte er vor, was es heißt, nicht an sich selbst zu kleben. Als ihm nach Superhits wie „Drop It Like It’s Hot“ Mitte der Nullerjahre die Luft auszugehen drohte, machte er Country-Songs mit Willie Nelson, beglückte Katy Perry mit seinem Genuschel – und ließ sich 2012 ein Reggae-Album auf den Leib schneidern. Natürlich belächelten ihn die Kritiker: Snoop Lions Beteuerung, er sei die Reinkarnation Bob Marleys, seine Pilgerfahrt nach Jamaika und sein bekiffter Talk von „der Öffnung seines dritten Auges“ schienen einen grotesken Endpunkt unter seine Karriere zu setzen. Der Funk wurde sein Rettungsanker. Er lässt den Westküsten-Rapper zum Sound seiner Jugend zurückkehren, zu den Songs, zu denen der halbwüchsige Calvin das Kiffen und Tanzen lernte.
Es war eine Zeit, in der die Mutter vergeblich versuchte, ihren Sohn im Gospelchor zu halten. Die Straßen boten mehr Abenteuer, die Drogen mehr Geld. Und doch bereut Snoop seine Zeit als Kirchensänger nicht: „Ich habe den Funk immer als Fortsetzung des Gospel verstanden. Wir kommen alle aus der Kirche, haben das gute Gefühl und das Wissen um richtig und falsch aus dem Gottesdienst mitgenommen.“ Dam Funk nickt: „Funk lässt dich spüren, dass wir Teil der schwarzen Erfahrung sind, einer weltweiten Erfahrung.“ Schon der erste Durchlauf von „7 Days Of Funk“ zeigt die Nebenwirkungen: stresslösend, stimmungsaufhellend, energetisierend.
Funk ist nicht zufällig in der Zeit entstanden, in der die Ghettos in Amerika brannten und die Hoffnungen der Bürgerrechtsbewegung in einer Depression zu ertrinken drohten. Und bis heute hat sich sein Rezept kaum verändert: rollende elektronische Bässe, einfache Synthesizer-Melodien, bekiffte Mitsingchöre. Snoopzillas Schnurren fügt sich organisch in die Beat-Hydraulik. Nur weicher und cooler klingt das als die Vorbilder aus den Achtzigerjahren. Kalifornischer. So muss es sich anfühlen, im gefederten Jeep über die Kuppen des Sunset Boulevard zu gleiten – die Sonne im Gesicht, eine kühle Pazifikbrise im Nacken.
Eine zufällige Partybegegnung hatte Dam Funk und Snoop Dog zusammengebracht: Snoop hörte die Grooves des Indie-Produzenten, sprang spontan auf die Bühne und rappte dazu. Zwei Jahre später war die Idee zum gemeinsamen Album ausgegoren: Dam Funk schickte Snoop nach und nach die Tracks. Und der rappte angeblich impromptu im eigenen Badezimmer dazu. Eine Herzenssache. Sie erscheint auch nicht bei einer großen Plattenfirma, sondern auf dem Indie-Label Stones Throw, der Heimat von Exzentrikern wie Madlib oder Vex Ruffin.
„Dams Sound hat den Funk aus mir herausgekitzelt“, sagt Snoopzilla. In seinen Raps hört man kaum noch etwas von dem alten Zyniker, eher eine lockere Mischung aus Nostalgie, abgeklärtem Genuss – und manchmal gar einem Schuss Lebensweisheit. Da predigt der Rapper harte Arbeitsethik („Niggaz Hit D Pavement“), beschwört er die romantische Liebe („I’ll Be There 4 U“) und hängt einer gescheiterten Beziehung nach („Faden Away“). Gerade mal 34 Minuten dauert das Album. Das ist ungefähr das alte LP-Format.
Funk-Fans dürfen „7 Days of Funk“ also als Nachtrag zu all den Parliament-, Funkadelic- und Atlantic-Starr-Scheiben in den heimischen Plattenschrank sortieren. „Viele denken, es gehe nur noch um Verkaufszahlen“, sagt Snoopzilla. „Aber: Es gibt Wichtigeres. Fuck radioplay. Funk dreht sich um Emotionen. Verkaufen ist gut, aber fühlen ist besser.“ Dann beugt sich Calvin Broadus gewichtig nach vorne. Kinder, sagt er, hätten die Gabe, den wahren Menschen hinter der Maskerade zu spüren. Seinen zwei Söhnen und der Tochter müsse er sich jedenfalls niemals erklären.
Ob er einen Erziehungsratschlag von Vater zu Vater mitgeben dürfe? „Wenn deine Kinder anfangen, Musiktexte zu verstehen, musst du aus deiner Elternrolle schlüpfen und ihr Freund werden. Dann lassen sie dich eher in sich hineinschauen. Lass sie in deiner Gegenwart Spaß haben. Verbiete ihnen nichts. Dann wirst du merken, dass sie meine Texte besser verstehen als du selbst.“ Gelächter. Abklatschen. Und eine Rauchschwade als Ausrufezeichen.
JONATHAN FISCHER
Die Welt 15.12.2013