Future Beats aus Afrika

Das Africa-Festival in Würzburg wartet mit
bekannten Größen auf. Zu welcher Musik aber
die junge Generation in Kinshasa, Nairobi oder
Bamako wirklich tanzt, zeigen die
„African Music Days“ in München

Wenn Ende Mai in Würzburg das Africa-Festival gefeiert wird, dann pflastern Superlative die Vorankündigung. Seit 1989 hat das größte und älteste Festival für afrikanische Musik und Kultur in Europa mehr als 7500 Musiker auf die Bühne gebracht. Und dabei gut zweieinhalb Millionen Besucher mit Modeschauen, Geschichtenerzählern, exotischer Küche – und natürlich Live-Konzerten beglückt. Das ist eine beeindruckende Leistung. Einerseits. Andererseits geht die Tendenz der Darbietungen wie bei jedem großen Volksfest in Richtung Populismus.

  Da dürfen dann auch eine deutsche Bob-Marley-Tribute-Band die Bühne zur Prime Time rocken. Kommen viele der eingeladenen Künstlerinnen und Künstler gar nicht aus Afrika, sondern leben in Deutschland und Europa. Oder sind wie der Kongolese Lokua Kanza, Elida Almeida von den Kapverden oder die gambische Koraspielerin Sona Jobarteh hinlänglich bekannte Festival-Größen. Nichts gegen eine eingängige, auf europäische Hörgewohnheiten abgestimmte Soul-Jazz-Afro-Reggae-Pop-Wohlfühl-Melange.

  Aber: Zu welcher Musik tanzt denn die junge Generation in Afrika? Gibt es dort nicht gerade jede Menge bahnbrechende Neuerungen? Wer neugierig auf den Straßensound aus Daressalam, Dakar oder Bamako ist, für den sind die „African Music Days“ im Münchner Muffatwerk eine einmalige Chance, eingefahrene Afrika-Klischees herauszufordern. Und dabei experimentierwütige junge Musiker zu erleben, die es sonst selten nach Europa schaffen. Etwa Blinky Bill, einen kenianischen DJ, Produzenten und Sänger, dessen futuristische Elektro-Beats zusammen mit R’n’B-Gesängen und lakonischen Englisch-Suaheli-Raps perfekt den Flow von Kenias Hauptstadt Nairobi einfangen. Oder Arka’n Asrafokor aus Togo, die – Achtung! – westafrikanisch polyrhythmischen Metal jenseits allen Gröl- und Stampf-Verdachts produzieren und deren wunderbare Harmoniegesänge auch Hardrock-Hassern gefallen dürften.

  Und wer hat schon mal hierzulande die Bühnen-Dynamik der senegalesischen Sängerinnen und Rapperinnen Defmaa Maadef erlebt? Oder das südafrikanisch-ghanaische Duo Esinam & Sibusile Xaba, die mit Gitarren, Perkussion und Flöten trance-ähnliche Grooves erzeugen? Insgesamt sieben junge Musiker und Bands werden sich am 25. und 26. Mai an der Isar präsentieren. Und ganz sicher eines vermeiden: altbekannte Weltmusik-Stanzen.

  Wenn etwa Ami Yerewolo aus Mali zum Mikro greift, gehen manche Männer in Deckung. „Ich bin die meist beleidigte und am wenigsten gebuchte Rapperin Malis“, hat sie einmal behauptet. Tatsächlich hat Yerowolo lange als einzige Frau überhaupt im Hip-Hop durchgehalten. Und dann auch noch die konservative Männergesellschaft Malis mit Amazonen-Pose und Sprüchen wie – „auch ihr seid mal aus dem Bauch einer Frau gekommen“ – aus der Fassung gebracht. Gelernt hat Yerowolo ursprünglich Bankkauffrau. Aber dann schmiss sie den gutdotierten Job hin, um sich mit Auftritten bei Balani Shows – traditionellen dörflichen Feiern und Familienfesten – über Wasser zu halten.

  Der Durchbruch gelang ihr 2020 nach einer Begegnung mit dem kamerunischen Bassisten und Produzenten Blick Bassy, der sofort Yerewolos Qualitäten erkannte: Ihre auf Bambara und Französisch gehaltenen Raps haben diesen furios-femininen Flow. Verwandeln ihre Wut in einen strahlenden Meteoriten-Schweif. Bassy ermutigte Yerowolo – sie organisiert nebenbei auch noch das einzige rein weibliche Hip-Hop-Festival Malis – auf die Konventionen von Afrobeats und Hip-Hop zu pfeifen, und stattdessen nur sich selbst auszudrücken. „Je Gére“, heißt einer der letzten Hits der malischen Rapperin – auf Deutsch in etwa „Ich schmeiß den Laden“.

  Aus Tansania, besser gesagt den Armenvierteln von Daressalam, kommt der Singeli-Rapper Sholo Mwamba. Singeli? So heißen die quirligen hochgepitchten Beats, die so klingen wie überschnell abgespielter Drum and Bass – ein Aufputschmittel, zu dem Sholo Mwamba traditionelle Suaheli-Chants und Raps über die Alltagssorgen der einfachen Leute intoniert. „Singeli wechselt dauernd seinen Stil“, erklärt der Superstar der ostafrikanischen Elektro-Variante. „Wir greifen alles auf, was auf den Straßen passiert. Wenn du springen willst, dann springst du. Wenn du laufen willst, dann läufst du.“ Tatsächlich liegen die Ursprünge des Singeli im traditionellen Taraab, der Hochzeitsmusik der arabisch geprägten Küstenregion Tansanias. DJs hatten die Songs beschleunigt und mit verschiedenen Beats gemixt. Hauptsache, die Tänzer spielen verrückt. Sholo Mwamba hat die einst mit kleinkriminellen Milieus assoziierte Musik nun zu respektablem Pop-Ruhm gebracht. Als ehemaliges Straßenkind war er zunächst als Master of Ceremony bei traditionellen Festen eingesprungen, inzwischen treiben seine energiegeladenen Auftritte zehntausende begeisterter Tänzer an den Rand der Erschöpfung.

  Der Bandname von Fulu Muziki übersetzt sich mit „Musik aus Müll“. Und das ist wortwörtlich zu nehmen: Die Musiker aus Kinshasa bearbeiten, beklopfen und behämmern Gegenstände, die andere weggeworfen haben. Blechdosen, Flipflops, Autoteile, Plastikrohre – das sind die Bauteile für ihre Perkussionsinstrumente, die sie aus der Mülldeponie in Ngwaka, einem der abgerockteren Viertel der kongolesischen Hauptstadt gewinnen. Um daraus ihren ganz eigenen afrofuturistischen Sound zu fabrizieren. Eine synkopisch komplex organisierte Lärmorgie, von der Tche Tche, der Sänger und Perkussionist von Fulu Miziki einmal sagte, sie sei ebenso von Straßenkünstlern in Kinshasa als auch von Kino-Superhelden beeinflusst. „Wir holen den Funk aus PVC-Rohren und Metalldosen“. Ebensowichtig wie die Musik: Die aus Fundmaterial gefertigten Kostüme, eine Mischung aus Stammestraditionen und „Wakanda“-Mythologie. Jenseits aller Wahnsinns-Maskeraden aber geht es dem Kollektiv durchaus auch um politische Anliegen. Etwa um die – nicht nur in Kinshasa – lebensbedrohliche Umweltverschmutzung, den Export von Elektronik-, Plastik- und Kleidermüll aus dem Westen nach Afrika und die Notwendigkeit von Recycling. Nicht auszuschließen, dass die Fulu Muziki-Mitglieder auch in München gefundenen Müll zum Tönen bringen.

  Möglich gemacht hat dieses Ausnahme-Festival die „Music In Africa Foundation“. Die 2013 in Nairobi gegründete Nonprofit-Initiative ist inzwischen zur größten Vernetzungsplattform für junge afrikanische Musiker herangewachsen. „Wir haben inzwischen sechs Büros auf dem ganzen Kontinent eingerichtet“, erzählt Jens Cording von der Siemens Stiftung, zusammen mit dem Goethe-Institut Mit-Initiator des Projektes und heute für internationale Beziehungen zuständig. Die Gesamtverantwortung liege inzwischen zu hundert Prozent in den Händen der Afrikaner. Die Siemens Stiftung begleite und fördere lediglich. Was man in zehn Jahren geschaffen habe, übertreffe alle Erwartungen: „Über 43 000 Musiker sind mit ihren Profilen inzwischen auf der Plattform und 150 afrikanische Autoren schreiben für sie. Ich will als Komponist meine Urheberrechte schützen? Suche nach neuen Stilrichtungen? Will mich über die Rolle der Frauen im Musikbusiness informieren? Das alles und mehr kann man da finden.“ Dazu kommen Offline-Initiativen: etwa „Music In Africa Connects“, ein Programm für musikalischen und inter-ethnischen Austausch in Krisenregionen wie Somalia, Tschad oder Nord-Mali. Workshops zu Instrumentenbau und –reparatur. Die Musikkonferenz ACCES als Treffpunkt afrikanischer Kulturschaffender. Oder – während Corona – die Professionalisierung der Produktion von Musikvideos. „Unser Ziel ist, Afrika autark zu machen.“

  Wenn nun über ein halbes Dutzend außergewöhnliche Bands zum Jubiläum im Muffatwerk aufspielen, ist das vor allem eine Chance für uns Westler: „Afrika war schon immer stilistischer Vorreiter“ sagt Cording. „Könnte sein, dass wir ähnliche Klänge in fünf bis zehn Jahren auch in Europa hören.“

JONATHAN FISCHER

SZ 22.5.2023

Die schnellste und schmutzigste Musik der Welt

Es ist der Sound der Stunde: Der ostafrikanische Musiktrend Singeli erweckt die ermüdete Clubkultur zwischen Berlin und New York zu neuem Leben. Dass ein solcher Kult in europäischen und amerikanischen Metropolen gar nicht mehr entstehen kann, liegt nicht nur am Wohlstand

Wer mit offenen Ohren durch die Straßen der tansanischen Hauptstadt Daressalam streift, der wird es bald merken – je abgerockter das Viertel, je schlechter die Straßen, umso aufgekratzter und schneller die Musik. Wenn rund um die verglasten Bürotürme von Downtown noch HipHop und R&B aus Bars und schicken Restaurants schallen, dann pumpen auf dem Kariokoo-Markt, in den heillos überquellenden Dala-Dala-Minibussen und auf Blockpartys sehr viel anarchischere Sounds.

Quirlige, auf 160 bis 300 Beats pro Minute hochgepitchte Beats. Nervöses Keyboard-Genudel. Und Swahili-sprachige Chants, die von Armut, Arbeitslosigkeit und der Ekstase der samstäglichen Kidogoro Parties erzählen, so genannt nach den Kidogoro, Schaumstoffmatratzen oder auch nur Fetzen davon, auf denen die völlig verausgabten Tänzer irgendwann zusammensacken.

Singeli heißt dieses tönende Aufputschmittel. Ein Rhythmus schneller als Drum and Bass oder gar mancher Gabber. Ein Musik gewordener Rauschzustand, der mehr als jedes andere Genre Tansanias Jugend repräsentiert.

„Wir reden von Autos, sie nur von Telefonen“, hat sich ein tansanischer HipHop-Star über die Singeli-Konkurrenz mokiert. Und dabei unwillkürlich den Punkt getroffen: Der Singeli projiziert anders als die ostafrikanische HipHop-Variante Bongo Flava keine Mittelstandsträume. Er ist die Musik der Minibus-Schaffner in abgerissenen Plastikschuhen, die jedes Wort eines Singeli-Hits wie ein Glaubensbekenntnis mitsingen, und wenn Bongo Flava nach Gucci und Chanel riecht, dann transportiert der Singeli, nun ja, eher den Rauch von Kohlefeuern.

In Tansania ist rund die Hälfte der Bevölkerung jünger als 16 Jahre. Es gibt für sie kaum Jobs auf dem formellen Arbeitsmarkt, während die Landflucht die Gettos von Daressalam jedes Jahr um eine halbe Million Einwohner anschwellen lässt. Es ist ein Biotop der Armut und des Überlebenskampfes, wie geschaffen für die Entstehung einer Musik, die gleichzeitig Frustrationsventil und Partydroge sein will. Oder: Was wäre eine Samstagnacht, wenn man sich nicht am Singeli berauschen könnte?

Dabei ist der Singeli nicht die erste Elektro-Variante aus Afrika. Auch der südafrikanische Shangaan, malischer Balani Show oder die unter dem Label „Congotronics“ firmierenden kongolesischen Likembe-Orchester mit ihren übersteuerten Fingerklavieren haben seit einigen Jahren einen Nerv der westlichen Elektronik-Avantgarde getroffen. Bands von Animal Collective über die Berliner Techno-Produzenten Mark Ernestus und Errorsmith bis zum HipHop-Tüftler Flying Lotus ließen sich von ihnen inspirieren.

Und nun vom Singeli. Er ist die womöglich räudigste, lauteste und schnellste aller afrikanischen Dancehall-Varianten. In den Westen gelangte diese Straßenmusik erstmals 2017. Damals veröffentlichte das Afro-Electro Label Nyege Nyege Tapes „Sounds Of Sisso“, eine Kassette mit den bis dato nur auf Daressalams Schwarzmarkt kursierenden Aufnahmen des Singeli-Pioniers Sisso. Für die ermüdete westliche Technoszene eine Offenbarung: Als ob ein frischer nuklearer Brennstab einen abbruchreifen Reaktor noch einmal auf Schmelztemperaturen hochführe.

Der Hype ließ nicht auf sich warten. Sisso, MCZO und Duke, junge Männer ohne jede Ausbildung oder Englischkenntnisse wurden zu DJ-Auftritten ins CTM nach Berlin und das Londoner Café OTO, bis nach Warschau und New York geladen. Die Tansanier brachten ihre Kidogoro-Energie mit. Und zauberten – auch ohne Schaumstoffmatten und Kohlefeuergeruch – hyperkinetische Soundkreisel, wie sie hierzulande noch keine DJ-Kanzel gehört hatte. Darf es noch schneller sein? Der schmutzige Drive und die Hypernervosität machte den Singeli jedenfalls zum Versprechen für alle, die den Ausbruch aus den Genreklischees des globalisierten Techno suchen.

Wobei ja gerade die konstruktiven Missverständnisse, die funkifizierten Fehler den Reiz des Singeli ausmachen. Das beginnt schon beim Namen seines zur Zeit größten Stars: „Sholo bedeutet kleine Vögel und Mwamba ist der Felsen“, erklärt der Sänger und Rapper Sholo Mwamba , ein drahtiger Typ mit blondiertem Afro, eingeflochtenen Zöpfchen und Sonnenbrille. „Eigentlich heißen die Vögel ja Sholwe. Als Kind konnte ich das nicht gut aussprechen und habe immer Sholo gesagt. Das brachte alle zum Lachen.“

Sholo Mwamba und seine Crew rauchen unter einem Strohdach, gerade haben sie den Soundcheck für einen Open-Air-Auftritt bei der Musikkonferenz ACCES in Makumbusho im Zentrum von Daressalaam absolviert. Eine Schulklasse läuft vorüber, auf ihrem Weg in das benachbarte Village Museum. Riesengeschrei, als sie den Musikstar erkennen. Alle wollen Fotos machen. Sholo Mwamba stimmt einen seiner Hits an: Wie auf Kommando ergänzen die Schulkinder den Refrain: „Wenn ich dich rufe, dann kommst du!“

Er selbst, sagt Mwamba, und erst jetzt bemerkt man, wie ausgemergelt er wirkt, ist als Waise und Straßenkind aufgewachsen. „Ich hatte nie die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Erst der Singeli hat mir viele Türen geöffnet.“ Wobei: Es brauchte auch Mwambas Chuzpe. Bei Festen wie dem Erwachsenwerden eines Jungen, der Beschneidung oder einer Hochzeit, passte er die DJs ab, die auf ihrem Laptop traditionellen Lieder und Trommelrhythmen spielen, und sprang einfach als Master of Ceremony auf die Bühne. Als Singeli-Rapper.

Ursprünglich verwendeten DJs und Produzenten Bruchstücke von Taraab, einer an der Swahili-Küste bei Hochzeiten und Familienfeiern gespielten Orchestermusik, mischten sie mit anderen Rhythmen und beschleunigten sie. „Die Taarab-Musik hat einen langsamen Beat. Wenn der DJ aber die Geschwindigkeit erhöht, kann niemand mehr mitsingen – dafür fangen die Menschen an, wie wild zu tanzen.“ Wenn DJs es schon immer liebten mit solchen Aufputschmitteln zu experimentieren, dann funktioniert auch dieses hervorragend. Schnell, Schneller, Singeli.

Schon der Vorgänger des Singeli, der Mchiriku, hatte sich in den Neunzigerjahren mit nudelnden Casio-Melodien und lärmender Lo-Fi-Ästhetik von sämtlichen westlichen Popnormen gelöst. Der Singeli übernahm dann dessen Energie, um dank besserer Produktionstechnik ein Crossover in den Popmarkt zu schaffen. Heute umarmen selbst HipHop-Stars wie Professor Jay die einst verpönte Arme-Leute-Musik. Den deutlichsten Indikator für die Popularität des Singeli aber liefert, wie könnte es anders sein, die Werbung: Ob Mofas, Seife oder Bier – keine erfolgversprechende Marketingkampagne, die auf den Massenmarkt in Tansania zielt, kann es sich leisten, ohne Singeli-Getrommel daherzukommen.

„Früher sagten die Menschen, der Singeli sei die Musik der Wahuni, der Respektlosen.“ Ja, Sholo Mwamba sah sich mal selbst so. Tatsächlich haftet dem Genre immer noch ein zweifelhafter Ruch an: Das liegt an seinen Ursprüngen in Slum-Bars, die mit Insektiziden gepanschten Alkohol verkaufen, den oft aus dem kleinkriminellen Milieu stammenden Tänzern, den illegalen Straßenpartys, die regelmäßig von der Polizei aufgelöst wurden.

Doch noch bevor Fernsehsender und Radiostationen den Singeli aufgriffen, gewann er die Volksabstimmung mit den Füßen: Samstagnacht kann kein HipHop-DJ, keine glitzy Strandparty mit dem Singeli konkurrieren. Inzwischen ist dessen Popvariante längst über die Gettos hinausgewachsen. Sholo Mwambas Videos haben inzwischen Abermillionen Klicks gesammelt. „Selbst die Präsidentin hat öffentlich zu unserer Musik getanzt.“ Der schmale Mann rückt seine Sonnenbrille zurecht und reckt die Faust: „Wir sind respektiert.“

Für sein Konzert im Rahmen der vom deutsch-afrikanischen Nonprofit-Netzwerk „Music in Africa“ initiierten Musikmesse ACCES aber hat er zusätzlich zum DJ eine richtige Band mitgebracht: drei Trommler, zwei Gitarristen und einen Trompeter, Musiker, denen man ansieht, dass sie ihre Zeit nicht im Umfeld klimatisierter Studios verbracht haben. Eines aber verstehen sie meisterhaft: ihre Instrumente als rhythmische Waffen einzusetzen, auf der Bühne eine ganz und gar körperliche Euphorie zu entfachen, die in Wellen auf das Publikum überschwappt. Ein einziger schwitziger, sexy beschleunigter Schleudergang.

Sholo Mwamba stolziert, ganz Märchenkönig, mit Plastikkrone, Hauer-bestückten Schulterschonern und Leoparden-Umhang über die Bühne. Auch seine Tänzerinnen scheinen dem Black-Panther-Filmset von „Wakanda Forever“ entstiegen. „Wir bleiben nie beim Alten“, hatte Sholo Mwamba erklärt: „Singeli verändert sich ständig.“

Jetzt feuert er Chants auf Stakkato-Suaheli ab. Zu schnell selbst für manche Landsleute. Ein Refrain aber bleibt hängen. Über „Ghetto la Bibi“, das Getto, wo seine Großmutter einst über den kleinen Sholo wachte: „Wie wäre es, wenn du endlich schlafen gehst/ Ihre Pfeile können uns nichts anhaben.“

JONATHAN FISCHER

Die Welt 20.5.2023

„Sind Wahlen wirklich das Wichtigste?“

Weltstars wie Beyoncé vergöttern sie, in Mali ist die Sängerin Oumou Sangaré eine Volksheldin. Im Gespräch erklärt sie, wie ihre Heimat zum Krisenherd wurde und wer das Land ruinierte

Maison de Oumou Sangaré“ – das hatte dem Taxifahrer als Zielangabe gereicht. Wer in Bamako Songs wie „Diaraby Néné“ mitsingen kann, und das sind vom Greis bis zum Kind praktisch alle, der weiß auch, wo die Grande Dame des malischen Pop wohnt. Von der großen Teerstraße am östlichen Ufer des Niger, zweigt an einer Tankstelle – „le station d’Oumou“ erklärt der Taxifahrer ehrfürchtig – ein Feldweg ab. Er führt durch Felder und Gemüsegärten, vorbei an halbfertigen Luxus-Rohbauten zu einer etwas abgerockten Villa.

„Oumou Sangaré – Diva“ lautet das Kennzeichen des in der Einfahrt parkenden Jeeps. Der Rest wirkt wie ländliches Mali: Ein paar Esel weiden auf dem Nachbargrundstück. Und gleich am Eingangstor recken zwei weiße Pferde und ein Kamel dem Besucher ihre Hälse entgegen. In Mali gelten sie als Glücksbringer. Und Beschützer des Hauses gegen neidische und böse Gedanken.

„Ani Sogoma“, grüßt eine Hausangestellte auf Bamana, „Madame kommt sofort“, und führt an einem leeren Swimmingpool und einer Kochstelle im Hof vorbei zu einer Schiebetür aus Rauchglas. Dahinter weiße Sofalandschaften, die Schutzhüllen aus Plastik noch auf dem Leder. Auf Regalen und an den Wänden prangen Memorabilien: Oumou in Öl gemalt, Familienfotos und Urkunden, die so nachlässig arrangiert sind wie überflüssiger Hausrat, den Oumou beim besten Willen nicht in einen ihrer anderen Wohnsitze in Paris, New York oder Abidjan mitnehmen konnte.

Längst ist sie dem Dunstkreis des regionalen Pop entwachsen, in dem sie einst mit Hymnen gegen Zwangsheirat und untreue Männer zu Westafrikas bekanntester Frauenrechtlerin aufstieg. Heute zählt Oumou Sangaré selbst die Stars des R’n’B zu ihren Fans: Alicia Keys verehrt sie ebenso wie Beyoncé (die Oumou etwa auf „Mood 4 Eva“ sampelt), Aya Nakamura hat ihr gar den Song „Oumou Sangaré“ gewidmet. Ganz aktuell ist Sangarés nasaler Soulgesang außer auf ihrem eigenen Album „Timbuktu“ auch auf dem gerade veröffentlichten „Voyageur“ ihres verstorbenen Mentors Ali Farka Touré zu hören.

„Ist die Klimaanlage kühl genug? Bei mir muss niemand schwitzen.“ Oumous rauchige Stimme eilt ihr die lange Treppe aus dem ersten Stock voraus. Die 55-jährige Sängerin scheint direkt aus der Garderobe zu kommen. Elegantes Kleid, hochgesteckter Turban, das Gesicht bleich geschminkt.

„Mit Deutschland verbindet mich viel“, erzählt sie. „Wissen Sie, dass ich zur Einweihung des Bundestags nach der deutschen Wiedervereinigung gesungen habe?“ Eine ihrer Schwestern hatte einen Deutschen aus der DDR geheiratet, Verwandte lebten in Hamburg und Freiburg, so habe sie deutsche Geschichte hautnah miterlebt, auch den Mauerfall in Ost-Berlin. Ein Ereignis, das ihr Hoffnung gab. „Deutschland ist heute eine Macht. Wenn ihr zwei lange verfeindete Länder zur Aussöhnung gebracht habt, warum sollten wir das in unserem von Bürgerkrieg zerrütteten Land nicht auch schaffen?“

Die Ausgangssituation allerdings erscheint alles andere als rosig: Seit zehn Jahren schon tobt ein Bürgerkrieg gegen die Dschihadisten, im Norden und der Mitte des Landes kommt es immer wieder zu Massakern an der Zivilbevölkerung. Seit 2020 regiert eine Übergangsregierung in Form einer Junta. Ein Militärputsch hatte den alten Präsidenten Ibrahim Boubacar Keita abgesetzt, das daraufhin von den Nachbarländern verhängte Wirtschaftsembargo kurbelte die Inflation nochmal an, mit Preissteigerungen von bis zu 100 Prozent.

Nun sind die Franzosen, 2012 zur Rettung vor den auf Bamako vorrückenden Dschihadisten gerufen, aus dem Land geworfen worden, die Bundeswehr soll mangels Kooperation seitens der Malier folgen, während man – ausgerechnet – russische Wagner-Söldner zur Stärkung der eigenen Armee ins Land rief.

Oumou Sangaré sieht sich – darauf weist sie mehrmals hin – als Sängerin, nicht als Politikerin. Aber dann redet sie doch: über ihre Verantwortung für ihr Land. Und darüber, dass es sie schmerzt, wie Mali in den westlichen Medien immer nur als Krisenherd wahrgenommen werde. „Wir mögen äußerlich arm erscheinen. Aber innerlich sind wir reich. Bitten Sie mal einen armen Malier, der kaum etwas zum Essen hat, um Hilfe – er wird es mit einem Lächeln auf dem Gesicht tun.“ Stolz und Gutmütigkeit. Das mache laut Sangaré das Wesen ihrer Landsleute aus.

Tatsächlich strahlt das Alltagsleben in Bamako eine gelassene Normalität aus. Händler gehen lachend ihrer Arbeit nach. Polizisten und Soldaten hocken in Teerunden zusammen Die bunt bemalten Kleinbusse im Stadtverkehr hupen um die Wette. So gut wie jedes Wochenende wird am Ufer des Niger ein anderes großes Festival mit Theater, Tanz, Marionettenspiel und Konzerten von Weltklassemusikern gefeiert. Der Optimismus der Malier scheint unerschöpflich. Wenn man von Kultur allein leben könnte, dann würde dieses Land zu den wohlhabendsten der Welt gehören.

Auch wenn Frankreich und Mali gerade im Clinch liegen, das Land aus Perspektive des Westens das Lager gewechselt hat – in der Bevölkerung spürt man keine Feindseligkeit. Im Gegenteil: „Es sind die Regierungen, die ein Problem miteinander haben, aber nicht die einfachen Menschen“, sagt Sangaré. Anders als in westlichen Medien gerne kolportiert, sehen sich die Malier keineswegs ins Abseits manövriert.

Gerade flutet eine Welle des Patriotismus über das Land: Überall, auf Taxis, Bussen, Motorrädern prangt das Bildnis des Juntaführers Oberst Assimi Goita. Malische – und bisweilen auch russische – Fahnen wehen an den großen Straßenkreuzungen. Und die Menschen auf den Straßen reden wieder von „Mali Ba“: Der Rückkehr des „großen Mali“, einer Nation die bereits im 12. Jahrhundert die Universitäten von Timbuktu, später berühmte Königreiche und eine in der ganzen Welt gefeierte Kultur und Musik hervorgebracht hat.

„Auch wenn viele Menschen in Europa das nicht verstehen wollen: Die Mehrheit der Malier steht hinter der Militärregierung“, erklärt Sangaré. Nicht nur, weil die Regierung neue Fabriken und Arbeitsplätze schaffe. Nicht nur, weil die Sicherheitssituation in Bamako sich verbessert habe. Sondern vor allem, weil sie endlich das Erzübel Malis anpackten: „Sie sind die Ersten, die die Korruption bekämpfen, die Verantwortliche auch vor Gericht stellen“. Klar hätten sich die vorigen Regierungen demokratisch genannt. „Aber was war das für eine Demokratie? Die Herrschenden haben sich nur mitsamt ihrem Freundeskreis bereichert. Sie dachten nur an ihre Frauen, an ihre Autos und Häuser, haben alles auf Konten in der Schweiz transferiert.“

Und der Westen? Habe den Komplizen gegeben. Jetzt aber kritisiere man die Militärjunta. Werfe der von ihr eingesetzten Übergangsregierung vor, sich die falschen Partner zu suchen. „Man darf nicht erstaunt sein, wenn Mali gerade sehr deutlich seine Souveränität demonstriert.“ Sangaré erhebt ihre Stimme und nimmt eine mütterliche Strenge an, die sie bisher unter einem Lächeln versteckt hielt: „Die ehemaligen Kolonialherren haben uns zu lange wie unmündige Kinder behandelt. Wir Malier empfangen jeden Gast mit großer Fürsorge. Aber wenn wir Nein sagen, dann meinen wir auch Nein!“

Man hat diese Sätze schon öfter gehört. Bei den Grins, den traditionellen Teerunden der Männer am Straßenrand. Beim Austausch mit malischen Journalisten. Oder auch aus dem Mund junger Rapper wie Master Soumy, die als das politische Gewissen Malis gelten. Oumou Sangaré kennt beide Welten. Den Westen mit seinem Demokratie-Dogma. Und die Nöte der Malier, die Hilfe von allen annehmen, die ihre Konditionen akzeptieren, ihnen ihre Würde lassen. „Sind Wahlen wirklich das wichtigste? Wenn die Militärs Mali voranbringen, die weniger korrupt sind als ihre demokratisch gewählten Vorgänger, dann unterstütze ich diese Regierung!“

Die Malier müssten sich endlich emanzipieren, sagt sie. Mali verfüge über Bodenschätze, große Goldvorhaben, eine weltweit gefeierte Kultur. Wenn man die Vermarktung selbst in die Hand nehme, müsse man nicht in der Rolle des ewigen Hilfeempfängers stecken bleiben. Oumou Sangaré führt in Bamako ihr eigenes Hotel. Sie vertreibt japanische Geländewagen. Hat Rinder- und Fischzuchten. Dazu richtet sie einmal jährlich mitten im Busch, eine Autostunde südlich von Bamako, ein großes Festival mit internationalen Stars aus. Das Festival International Wassoulou soll nicht nur der traditionellen Kultur von Sangarés Heimatregion eine Bühne geben: „Es geht darum zu zeigen, dass wir mit unserem Reichtum Arbeitsplätze schaffen können“.

Wo immer sie auftrete, ermutige sie junge Unternehmerinnen es ihr gleichzutun. Über alle vermeintlichen Hindernisse hinauszuwachsen. „Ich gehörte auch mal zu den Mädchen, die am Straßenrand Wasserbeutel verkaufen. Meine Mutter war alleinerziehend, ich weiß, was Armut bedeutet.“ Ob man die vielen Mädchen gesehen habe, die anstatt in die Schule zu gehen, Wasser schleppen, Mangos oder Kekse verkaufen, um ihrer Familie, ihren Geschwistern die nächste Mahlzeit zu sichern? „Sie sind es, für die ich singe. Sie sind es, denen ich Mut machen will.“

Gerade in einem Land mit geschätzt 70 Prozent Analphabeten gelten Musiker wie Sangaré als Autoritäten, ihnen wird mehr geglaubt als jeder Zeitung, jeder Politikerverlautbarung. Wenn man Menschen in Mali eine Botschaft übermitteln wolle, sagt sie, müsse man sie in einen Song verpacken. So werde sie garantiert gehört. Sie habe in dieser Hinsicht schon viel bewirkt: „Nachdem ich in den Neunzigerjahren über die Polygamie gesungen habe, Mädchen aufgefordert habe, bei Zwangsheiraten vor dem Imam nein zu sagen, diskutierten alle plötzlich über das Tabuthema.“ Natürlich habe sie sich durch ihre unverblümte Art auch Feinde gemacht. Aber sie wisse: Die Jugend stehe hinter ihr. „Die jungen Frauen von heute lassen sich nicht mehr so leicht rumkommandieren. Mehr von ihnen gehen zur Schule. Mehr von ihnen kennen ihre Rechte.“

Nach einer guten Stunde erklärt Sangaré, sie müsse jetzt leider gehen. Zu einer Beerdigungsfeier innerhalb der Großfamilie. Doch das bedeutet – Zeit ist in Mali stets dehnbar – noch längst keinen überstürzten Aufbruch: Zunächst dreht die Diva mit der malischen Begleitung des Journalisten noch bereitwillig ein TikTok-taugliches Fanvideo, packt den Besuchern eine Tüte mit Obst ein, verabschiedet sich mit vielen Wangenküssen und Segenswünschen. „Möge Gott die Deutschen wie die Malier beschützen. Dass beide Länder ihren Frieden finden. Inshallah!“

JONATHAN FISCHER

Die Welt 30.3.2023

„Im Boxring stehst du nackt da – mit all deinen Ängsten“

Früher war er ein Schläger – dann entdeckte Burak Bozkurt das Boxen. Heute bringt er Jugendlichen bei wie man seine Fäuste nutzt und trotzdem ein gewaltfreies Lebe

Vor dem Eingang seines Kellerstudios hat Burak Flyer ausgelegt: Darauf ein selbstgemalter Bär, rote Augen, furchterregendes Zähnefletschen – als Warnschild vor Tollwut wäre das gelungen. Aber lockt man so Kinder zum Boxen? „Wir sind ja hier nicht beim Edeka an der Kasse“, sagt Burak. „In diesem Sport musst du auch mal über dich hinauswachsen, das wilde Tier in dir wecken. Unsere Kids feiern den Bären krass.“

Burak hat seine eigene Philosophie: Vielleicht sei er einfach im falschen Zeitalter geboren. Einem Zeitalter, in dem Raubtiere, Ritter und Schwertkämpfer nicht mehr das Maß aller Dinge sind. Man sieht dem 32-Jährigen in Jeans und Kapuzenpulli an, dass er viel mit seinen Fäusten gearbeitet hat. Muskulöse Schultern, gedrungener Gang. Im Gesicht über dem ordentlich ausrasierten Kinnbart aber flackert etwas Jungenhaftes. Schau mich an, sagen die Augen. Offen, aber bereit zur Konfrontation. Auf der Straße ein Muss.

„Der Kaffee ist gleich fertig.“ Burak hantiert an den Hebeln der Espressomaschine. Sie steht im Umkleideraum seines Box-Studios in München-Neuhausen. Im Hinterhof zwischen Dentallabor und Tattoo-Studio ein kleines Klingelschild: BB Boxing. BB wie Burak Bozkurt.

Burak war ein „Systemsprenger“, also ein Jugendlicher, der sich Schule, Ausbildung und den meisten Regeln der Gesellschaft verweigerte. Heute ist er ein Beispiel dafür, wie gerade das Boxen solche Menschen wieder eingliedern kann: Aggression mit strengen Regeln auszubalancieren, auch als Verlierer Respekt zu bekommen – diese Erfahrung wirkt oft Wunder.

Sein Studio ist ein langer Schlauch mit Lüftungsschlitzen. Zumindest ein Boxring passt rein. Daneben zwei Sandsäcke und Platz für ein paar Matten. In solchen Kellern haben schon viele klassische Boxkarrieren angefangen. Für Burak war es der Beginn eines bürgerlichen Lebens. Obwohl er das bestimmt nicht so sagen würde. „Jetzt predige ich das meinen Kids: Macht nicht die gleichen Fehler wie ich. Straße bringt nichts!“ Und wer könnte das glaubwürdiger erklären als einer, der von sich sagt, er habe früher „jeden Vorwand genutzt, um der Krasseste zu sein“.

Ohne die Boxhandschuhe, sagt Burak, säße er heute wahrscheinlich im Gefängnis

Burak zeigt auf einen glitzernden Wimpel über der Tür. Bism Allāh al-Raḥmān al-Raḥīm zu Deutsch: Im Namen Allahas, des Barmherzigen, des Allerbarmers. Die islamische Gebetsformel. „Das habe ich von meiner Oma geerbt“, sagt Burak. „Schade, dass viele da immer nur an den radikalen Islam denken. Dabei ist das für die guten Vibes.“ Für die guten Vibes hat Burak außerdem noch aufgehängt: ein Bild von Joe Frazier, eines von Muhammad Ali, eine türkische Flagge und ein Auge gegen den bösen Blick. Alles, was ihm heilig ist. Denn das Studio ist mehr als ein Ort sportlicher Ertüchtigung. „Hier stecken so viel Verletzung und Wut drin, so viel ‚Ich werde mich ändern‘ und dazu noch all meine Ersparnisse.“ Wenn Burak von seinen Gefühlen redet, dann gerne in Superlativen. Alles endkrass, endgeil oder echt gefickt. Das kann Zuhörer zum Lachen bringen. Soll es auch. „Reden ist Gold“, sagt Burak. Aber man merkt, dass das Verbalisieren von Gefühlen noch eine neue Disziplin für ihn ist. Lange glaubte er, die Fäuste könnten am besten sprechen. Ein guter Schlag – und aus die Diskussion.

Ohne die Boxhandschuhe, sagt Burak, säße er heute wahrscheinlich im Gefängnis. Tatsächlich steuerte er die längste Zeit seines Lebens geradezu auf eine Kriminellenkarriere zu. Schlägereien seit seiner Schulzeit. Drei Rausschmisse. Drei Schulwechsel. Der Vater hatte die Familie verlassen, als Burak sechs Jahre alt war. Einmal tauchte er noch auf, um den 13-Jährigen zu motivieren, doch seinen Hauptschulabschluss zu machen. „Aber da war es schon zu spät. Ich ließ mir von niemandem etwas sagen. Erst recht nicht von ihm.“ Buraks Mutter kümmerte sich um seine Versorgung. Die Erziehung aber erhielt er auf der Straße.

„Als Kleiner musstest du dich den Älteren unterordnen. Bei uns Türken heißen sie respektvoll Abi, Onkel. Hast du den Mund zu voll genommen, hast du von einem Abi eine Schelle bekommen.“ Was bei dieser Erziehung komplett fehlte: Trost, Mitgefühl, in den Arm genommen werden. Das Wertesystem auf der Straße bezog sich eher auf Testosteron: „Am wichtigsten war da: Wer ist stärker? Habt ihr gesehen, wie der ihn geschlagen hat? Wow, hat der eine rechte Hand! Das war unsere Währung. Danach wurdest du beurteilt.“ Kein Wunder, dass Burak sieben Jahre für seine Schlosserlehre brauchte. Ein Rausschmiss nach dem anderen. Und immer wieder zurück auf Los.

Was er im jungen Alter für richtig gehalten habe, sagt Burak, sei genau das Gegenteil davon. Meistens. Denn so ein paar Glaubenssätze seiner Hooligan-Zeit bekomme er noch immer nicht ganz raus: „Ehre und Stärke“ etwa. Das hat er auf die Wand hinter dem Boxring gepinselt. Etwas kleiner darunter: „Respekt“. Ist das eine Rangordnung? Burak windet sich. Das mit der Ehre heiße doch nur, sich nicht unterkriegen zu lassen. Nicht vom Gegner. Und nicht von den Herausforderungen des Lebens. „Kennst du dieses Gefühl, wenn du richtig unter Druck stehst?“ Früher hatte Burak es schon, wenn ihn jemand falsch ansah. Heute wenn er an seine Geschäftsbücher denkt. Gut, er hat den Kredit für die Einrichtung des Studios fast zurückgezahlt. Auch über Mitgliedermangel – in nur einem halben Jahr hat er schon hundert Schüler gewonnen – kann er sich nicht beschweren. Aber dann gab es letztes Wochenende einen Rohrbruch, er hat einen Teil der Decke neu verputzen müssen, schon kommt die Panik zurück: „Dann habe ich Angst. Dass es mich wieder aus der Bahn wirft.“

Die „Kampfmäuse“ haben bei ihm im Studio eine Wand bemalt – mit Herzchen

Aber dafür hat er ja das Boxen. Und seine zwei Kinder. Die Verantwortung für den achtjährigen Jungen und das siebenjährige Mädchen, sagt Burak, hätte ihn schon oft von dummen Ideen zurückgehalten, beide trainieren bei ihm. Zusammen mit rund 20 weiteren „Kampfmäusen“ – so nennt Burak die Jüngsten in seinem Studio – haben sie hier eine Wand bemalt. Gleich neben dem „Ehre und Stärke“-Graffiti: bunte Kritzeleien. Herzchen, Handabdrücke. Fly like a butterfly, sting like a bee. Hier regiert das Schmunzel-Krokodil.

Einen Tag später in der Turnhalle des TSV 1860 München. „Los, runter mit dir, ein paar Liegestützen schaffst du noch.“ Burak trainiert drei Dutzend schwitzender, sich am Boden windender Boxschüler. Drillt sie. Lässt keine Ausreden gelten. „Die mögen das so, glaub es mir.“ Dabei strahlt der Trainer durchaus etwas Fürsorgliches aus. Er trennt ungleiche Paare. Und gibt auch den Schwächsten das Gefühl, gesehen zu werden. „Die Arme höher, sonst erwischt dich dein Gegner mit dem Haken.“ Einst hat Burak für den Münchner Verein Amateurkämpfe absolviert. Nun leitet er dort – zusammen mit seiner Boxerkollegin Saskia – das Kindertraining. Disziplin, sagt er, sei das Wichtigste. Sich bloß nichts schenken. Dann könne man nachher auf sich stolz sein. Nach dem Training wollen alle noch mit ihm reden. War ich gut? Habe ich das richtig gemacht? Viele der Jungs sehen in Burak eine Vaterfigur. Nein, ein zähnefletschender Bär ist das nicht.

Als er bei „Sechzig“ unter Chefcoach Ali Cukur trainierte, sagt Burak, habe er zum ersten Mal gemerkt, was in ihm steckt. Nicht als Kämpfer, sondern als Mensch. Es war ein glücklicher Zufall, dass eine Kamera lief, als Burak einen seiner Durchbrüche erlebte. Die Szene gehört zu den bewegendsten Momenten von Antje Drinnenbergs Dokumentarfilm „Lionhearted“: Im Rahmen eines Box-Trainingscamps in Accra, Ghana, konfrontiert Ali Cukur seinen großmäulig daherkommenden Schützling: „Jetzt reiß dich mal zsamm. Du schwingst hier große Reden, reißt deine Klappe auf. Aber du bist hier nur der Lehrling. Vielleicht hörst du lieber mal den anderen zu… “ In dem Moment fällt Buraks Kopf auf seinen tätowierten Oberkörper, man sieht Tränen in den Augen schimmern.

Burak ist das immer noch peinlich. Er meint die Kritik. Er habe sich vorher von niemandem etwas sagen lassen – aber Ali ließ sich von Buraks Fassade nicht beeindrucken. Als Mensch schätze er ihn, sagte der Trainer. Aber sein Verhalten müsse er ändern. „Er war der Erste, gegen den ich mich nicht gewehrt habe. Nach Alis Ansprache zitterten mir die Knie. Und ich dachte tagelang über seine Worte nach.“ Im Ring mit Ali habe er sich nicht mehr verstecken können. Der Trainer sehe alles: Was ist fake, was ist echt. Wo spielst du dich nur auf. Wo hast du echte Stärken. „Bei Ali dachte ich: Der weiß, was ich durchmache. Der durchschaut mich. Das hat mich ruhig gemacht.“

Vor dem Boxen, sagt Burak, habe sich alles um seinen Ruf als Schläger gedreht: Andere sollten Angst vor ihm haben. In „Lionhearted“ erzählt er davon. Dieser Lust an der Aggression: „Erst wenn ich Blut gesehen habe, hat es angefangen, mir richtig Spaß zu machen.“ Im Box-Training habe er lange mit sich ringen müssen. Oft wollte er nicht auf den Trainer hören, stellte lieber den Macker aus. Sein Ego-Problem nennt es Burak. Aber gewinnen könne man so nicht. Nicht im Ring. „Beim Boxen musst du dich festen Regeln unterordnen. Du darfst erst kämpfen, wenn der Gong ertönt. Und auch wenn du gerade deinen Schlag ausführst – sobald der Gong wieder ertönt, bremst du ab.“ Das habe ihn so weit gebracht, dass er auch bei Gefahrensituationen auf der Straße Stopp sagen konnte. Obwohl: Ein wenig nagte es schon an ihm. „Ist es nicht feige, einfach wegzugehen? Aber dann habe ich mir gesagt: Diese Person kann mich gerne im Ring herausfordern.“

Burak ist kein Einzelfall. Im Anti-Gewalt-Training spielt das Boxen eine herausragende Rolle. Für den Laien mag es paradox klingen, wenn Richter Gewalttäter ausgerechnet zum Training im Faustkampf verdonnern. Lernen die da nicht, noch besser zu schlägern? Ihre Gewalt technisch zu verfeinern? Um später noch mehr Schaden anzurichten? In der Realität hat das Boxen viele Jugendliche gerettet. Ali Cukur hat es oft erlebt: Dass Jugendliche als Straßenschläger zu ihm kamen und dann nicht nur die Gewalt ablegten. Sondern auch ihre Schule, ihre Lehre schafften. „Im Boxring stehst du nackt da – mit all deinen Ängsten. Wenn du hier etwas erreichst, dann wächst dein Selbstbewusstsein. Weil du dich gezeigt hast.“ Da gebe es die vorlauten Typen wie Burak. Die müsse man runterholen. Aber auch Schüchterne, die sich stets auf der Verliererseite wähnten, könnten mit Boxen nachhaltiges Selbstvertrauen gewinnen. „Ein Lob vom Trainer bedeutet vielen Jugendlichen alles – besonders denen, die sonst nur Ärger und Ablehnung kennen.“

„In Ghana wurde mir klar: Wir haben hier alle Chancen. Alles andere ist nur Gequatsche“

Hat er sich heute hundert Prozent im Griff? Nein, sagt Burak, das wäre eine Lüge. Aber er wisse, was er mit sich selbst ausmachen müsse. Er kommt dann noch mal auf Ghana zu sprechen. Was er von dort mitgenommen habe. Im Film „Lionhearted“ sieht man die Boxer durch Müllhalden und Slums zu ihrem Trainingsgelände gehen. Burak hat da immer zwei, drei afrikanische Kinder an der Hand. Hebt sie auf den Arm. „Ich kann nichts dafür“, flachst er in die Kamera. „Die halten sich an mir fest.“ Die Wahrheit ist wohl, dass er sich auch an ihnen festhält. Ein Stück von sich selbst in ihrer kindlichen Unschuld und Begeisterung findet. Bis heute halte er Kontakt mit einem seiner damaligen Sparringspartner. Er habe auch eine Spendenaktion gestartet, um einem Boxstudio in Accra zu helfen, einem Klub, wo es weder Boxsäcke noch Handschuhe gibt. Von Dusche ganz zu schweigen. „Und dann haben wir Jungs früher immer vom Ghetto geredet. In München! In Ghana wurde mir klar: Wir haben hier alle Chancen. Alles andere ist nur Gequatsche.“

Eine Münchner Gesamtschule. Die 8. Klasse hat den Film „Lionhearted“ angeschaut, jetzt dürfen die Schüler Burak ihre Fragen stellen. Was er fühlen würde, wenn er heute junge Menschen sehe, die ähnlich tickten wie er damals zu seiner Schlägerzeit? Mitgefühl, sagt Buraks Gesicht. Aber das ist kein Wort für ihn. Also redet er von Stressvermeidung. Davon, dass man seinen Wert eher im Ring finde als auf der Straße. Dass er jede Menge erfolgreiche Boxer kenne, die sich noch nie geprügelt haben. Die Schüler haben auch ein paar Boxübungen mit Burak gemacht. Jetzt hängen sie ihm an den Lippen. Er ist der Abi, der ihnen Halt zu geben verspricht, der sie dort abholt, wo sie sich selbst sehen. „Wir Menschen haben oft so eine Wut in uns, und wollen das rauslassen. Und da ist der Sandsack ideal dafür. Nach dem Training ist der ganze Schmerz , also der emotionale Schmerz in dir weg. Das ist ein geiles Feeling.“

Mag sein, dass einige irgendwann zu ihm ins Boxstudio kommen. Wegen der Disziplin, des Respekts, auch des Lobs des jungen Trainers. Als Sozialarbeiter, sagt Burak später, tauge er trotzdem nicht: „Ich habe mal drei Wochen in einem Sozialprojekt Schüler bei den Hausaufgaben betreut. Die waren so respektlos. Und ich durfte als Lehrer nicht austicken.“ Da, sagt Burak, sei ihm ein für allemal klar geworden: Er stehe von nun an auf der anderen Seite.

JONATHAN FISCHER

SZ 30.1.2023

Die Kraft der Bilder in der Krise. Die „Rencontres de Bamako“, größte Fotobiennale Afrikas, zeigt wie der Kontinent und seine Diaspora sich selbst denken

Zunächst versucht die Eingangsdame im Distrikt-Museum von Bamako, dem Besucher ein Ticket zu verkaufen. Den Einwand, dass die Biennale kostenlos sei, kann sie nicht entkräften. Aber, so kontert sie, zumindest für jedes geschossene Foto sei ein Obulus zu entrichten. Da müsse sie aber schon reich sein! Treffer, Gelächter. Man ist sich nicht böse. Im Gegenteil. Die Dame, sie bezieht sicherlich wie die meisten staatlichen Angestellten Malis ein Hungergehalt, gibt anschließend dennoch ihr Bestes, hat auf Nachfragen sogar ein paar Erklärungen – „mehr hat mir mein Chef leider nicht gesagt“. 

Eine gar nicht untypische Anekdote. Denn Bamako, eine Stadt, in der Trauben von Mofas, Eselsgespanne und buntbemalte , aber marode Kleinbusse permanent die Straßen verstopfen, wo die Glas-Beton-Hochhäuser der Banken an Ziegenmärkte grenzen, und überall Verkäuferinnen-Mädchen Schalen voller Wasserbeutel auf dem Kopf balancieren, scheint vor allem damit beschäftigt, das eigene Überleben zu organisieren. Da kann es schon passieren, dass die größte Foto-Biennale Afrikas von vielen wie die Landung eines wunderlichen UFOs wahrgenommen wird. „Ich habe davon gehört“, erklärt etwa Amadou Traore, junger Inhaber eines der vielen digitalen Fotostudios am Straßenrand.  Ein Foto kostet bei ihm nicht mehr als ein Häufchen Mangos. Trotzdem ist damit nicht viel Geschäft zu machen „ Wie soll ich von Kunst leben?  Ich bin froh, wenn ich genug  Künden für  Bilder von Hochzeiten und Familienfeiern finde.“ 

Tatsächlich galt das Medium Fotografie in Mali lange als bloßes Dienstleistungsgewerbe. Es ist relativ neu, dass junge Fotografen, darunter auch Frauen, ihre Kameras auf die Welt außerhalb des Studios richten. Und  – wie etwa John Kalapo, Fatoumata Diabate oder Kani Sissoko – auch international Furore machen. Das ist auch ein Verdienst der Biennale. Zum 13. Mal bringt die „Rencontres de Bamako“ Intellektuelle und Künstler aus der ganzen Welt nach Mali, über 70 der interessantesten afrikanischen und afrodiasporischen Fotografen der Gegenwart stellen hier aus. Ihre Sujets und Diskurse zeigen dabei ein wachsendes Selbstbewusstsein. Den Willen, sich – parallel zum jüngsten politischen Prozess des Gastlandes Mali – von westlichen und postkolonialen  Bevormundungen zu verabschieden.  „Mali hat sich auf provokative Weise dekolonialisiert“, sagt Igor Diarra, Direktor der Galerie Medina , wo die Biennale einen von sieben über die ganze Stadt verteilten Ausstellungsorte unterhält. „Wegen der Spannungen mit Frankreich sind bestimmte westliche Medienvertreter nicht gekommen. Das ist schade. Aber man darf nicht vergessen, dass jede Krise auch eine Chance der Neuorientierung ist“.

Schon auf der Fahrt durch die Stadt wird sichtbar, von was er spricht. Mali hat in den letzten zwei Jahren zwei Militärcoups erlebt. Nun gilt der Putschisten-Oberst Assimi Goita mit seiner Übergangsregierung als starker Mann – und weil er anders als seine demokratisch gewählten Präsidentenvorgänger sichtbar Maßnahmen gegen die Korruption ergreift, feiert ihn die Bevölkerung. Sein Konterfei prangt auf Taxis und Kleinbussen. Eine Welle des Patriotismus überschwemmt das Land. Malische Flaggen flattern von Mopeds und Geschäften. Eine Unabhängigkeitserklärung. Vor einigen Jahren sah man auch noch die Trikolore der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Immerhin hatten französische Militärs den Norden des Landes 2012 von einer Okkupation durch Tuareg-Separatisten und Dschihadisten befreit. Doch dann fielen die Franzosen in Ungnade: „Weil sie die fortgesetzten Massaker und Überfälle der Dschihadisten nicht verhinderten“, erklärt der junge malische Journalist Youssef Koné,,“ machte sie die Bevölkerung mit verantwortlich dafür. Dazu kam der Ärger über die fortgesetzte Einmischung der Franzosen in die malische Politik“. Nun hat man sich neue Verbündete gesucht – und ausgerechnet die russische Wagner-Miliz zu Hilfe geholt, offizielle lediglich als „Ausbilder“. Man merkt die neuen Verhältnisse vor allem an den russischen Fahnen, die an großen Plätzen verkauft werden. Und den hitzigen Diskussionen der allabendlichen Grins oder Teerunden am Straßenrand: Ist es richtig, dass die Regierung die französischen Staatssender RFI und France24 im Land verboten hat? Wer sagt die Wahrheit und was ist nur Propaganda? Und:  Worauf können sich Malier in der Zeit der Krise noch verlassen?   

„Wo die Politik sich verfahren hat“, sagt Diarra, „kann die Kultur spontan Brücken bauen. “ Tatsächlich wird die Foto-Biennale seit ihrer Gründung 1994 gemeinsam von der französischen Kulturbotschaft „Institut Francais“  mit dem malischen Staat finanziert. Baut sie seit drei Jahrzehnten Brücken nicht nur zwischen Europa und Afrika, sondern auch innerhalb der Afro-Diaspora beziehungsweise zwischen verschiedenen Ländern Afrikas. Das ist beispielhaft in der Galerie Medina zu sehen. Dort sind historische Fotos des legendären malischen Porträtisten Seydou Keita Arbeiten von jüngeren westafrikanischen Fotografen gegenübergestellt. Seydou Keita und Malick Sidibe: Diese auch im Westen gefeierten  Studiofotografen hatten in den 60er und 70er Jahren mit ihren Kameras den Aufbruchsgeist der malischen Jugend eingefangen, einen Optimismus, der noch ungebrochen an die Fortschrittsversprechen der Unabhängigkeit glaubte. Man versuche gerade, erklärt der Galerie-Direktor, die  damals abgebildeten Personen ausfindig zu machen. Um auch hier die Geschichte fortzuschreiben.  Das passt zum Motto „Vielfalt , Differenz, Erbe und Werden“, das Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der aus Berlin kommende Chef-Kurator der Biennale ausgegeben hatte. So scheinen etwa die Bilder des  ivorischen Fotografen Ananias Léki Dago eine gewisse Ernüchterung auszudrücken: Sei es das Pokerface eines Mannes, der an seiner Zigarette zieht, der abgewendete Blick eines Trinkers, Frauen, die wie Gefangene durch ein Gitter blicken.  Dago illustriert hier eine Stimmung zwischen Bar-Coolness und Desillusion – und wirkt damit, neben seinem von afroamerikanischen Moden inspirierten Wegbereiter und Idol Paul Kodjo ganz im Hier und Jetzt.

Nächste Station, der alte Bahnhof von Bamako: Die Uhr steht, das prächtige Kolonialgebäude wirkt traumverloren.  Im Jahre 1924 war es  von den Franzosen als Zwischenstation einer Eisenbahnlinie zwischen dem senegalesischen Dakar und Niamey im Niger erbaut  worden. Später, in den 60er und 70er Jahren formierte sich im angeschlossenen Buffet de la Gare die Musikszene Malis mit der Rail Band und ihrem bis heute durch die Welt tourenden Superstar, dem Sänger Salif Keita.  Zugverkehr das bedeutete Zukunft. Doch seit dem Beginn der Krise vor über zehn Jahren sind die Bahnsteige verwaist  Zwischen den Schienen weiden Ziegen. Im Unkraut der Abstellgleise verrotten ein paar  Waggons. Während vor dem Haupteingang alte Männer in weiten, glänzenden Boubous-Gewändern  Domino spielen. Erst vor kurzem hat die Militärregierung mit einer Testfahrt angekündigt, zumindest den Zugverkehr bis in die westliche gelegene Stadt Kayes wieder herstellen zu wollen. Und auch die Biennale hat das historische Gebäude für sich entdeckt. Aber erst muss ein Wärter gefunden werden, der einem aufschließt.

Das Nebeneinander von Geschichte und Gegenwart hat seinen Charme: Neben einem Messing-Schild „Gepäckaufgabe endet 15 Minuten vor Abfahrt des Zuges“ etwa hängen Nourhan Maayoufs großformatige Schwarz-Weiß-Bilder von afrikanischen Wohnzimmern – dieser ständigen Verhandlungszone zwischen Gemeinschaft und Rückzug. Seif Kousmate sucht in seiner Serie nach den Spuren des Traumas vergangener ethnischer Konflikte im Zusammenleben von ruandischen Hutu und Tutsi. Andere Arbeiten spüren neben geschlossenen Kartenschaltern der Rolle der Frauen für die Gesellschaft in Trinidad und Tobago nach, oder überblenden die Aufnahmen des eigenen Körpers mit den von der Kolonialmacht ausgestellten Dokumenten des Großvaters.  

Diese thematische Vielfalt kann verwirren.  Und das soll sie auch. Denn auf diesem Treffen der Fotografen, Künstler und Intellektuellen geht es laut dem künstlerischen Direktor Ndikung um eine Sprache der Zwischenräume, Identitäten, die vermeintliche religiöse, politische, ethnische oder sexuelle Gewissheiten in Frage stellen.  „Unser Thema ist die Multiplizität“, erklärt Ndikung. Er hatte schon die letzte Rencontres de Bamako kuratiert und leitet seit 2023 das renommierte Haus der Kulturen in Berlin. „ Jeder Mensch trägt – das erklärte schon der  malische Schriftsteller Amadou Hampate Ba – eine Mehrzahl von Personen in sich.“ Zu Ende gedacht ist das eine nachdrückliche Toleranz-Botschaft. Ndikung hatte nicht ohne Hintersinn ein Biennale-Motto in der Landessprache Bamana gewählt: „Die Personen der Person sind in der Person mehrfach“ ließe es sich übersetzen. Oder: Jeder Mensch trägt viele Welten in sich. Physisch, psychisch, spirituell.

Daneben aber setze die Biennale auch konkrete wirtschaftliche Impulse: „Früher“, sagt Ndikung, „ließ man die Fotos in Frankreich drucken. Heute vergeben wir alle Aufträge an lokale Ateliers und Unternehmer.“ So sollten junge Fotografen ermutigt werden,  ihre Kunstwerke vor Ort zu produzieren. Und überkommene Minderwertigkeitskomplexe gegenüber dem „made in Europe“ ablegen.

Tatsächlich entwickelt die Biennale ihre stärksten Momente da, wo Fotos und Videos unmittelbar mit dem Alltag Bamakos korrespondieren. Etwa bei der multimedialen Installation „Koungo Fitini“, kleinere Probleme- des Belgiers Arnold Grojean. Im Distrikt-Museum porträtiert er die Straßenkinder der Stadt, ja lässt sie selbst zu Wort kommen. Viele von ihnen leben gleich nebenan rund um den großen Markt. Für den Rest der Gesellschaft aber bleiben sie Phantome. Hier aber öffnen sie sich in erschütternden Augenzeugenberichten und Zeichnungen. Es geht um kleinkriminelle Banden, sexuellen Missbrauch, die Betäubung durch Drogen und immer wieder rohe, lebensbedrohliche Gewalt. In ihren großformatig aufgezogenen Gesichtern spiegeln sich nicht nur Verlorenheit und Härte. Sondern auch ein wilder Lebensmut. Natürlich stellt sich die Frage: Wird hier das Leid der anderen exotisiert? Reduziert sich hier Afrika womöglich auf Negativ-Klischees? Immer wieder halten afrikanische Fotografen ihren westlichen Kollegen diese legitime Kritik entgegen. Hier aber gibt es einen entscheidenden Unterschied: Die Straßenkinder haben im Lauf mehrerer Jahre mit Grojean gelernt, mit Kamera und Fotoatelier umzugehen, und sie haben alle Medien genutzt, um ihre Geschichten selbst zu erzählen.

Sehr pittoresk geht es im Monument für den ersten malischen Präsidenten Modibo Keita, einem realsozialistischen anmutenden Palais am Niger-Ufer zu – und das nicht nur weil die Hitze schon einige der Fotos von den Stellwänden gelöst hat.  „Afrikaner sind Genies der Alltags-Improvisation“, sagt die malische Fotografin Fatoumata Diabate. Eine resolute Frau, die eigenen Angaben nach nur durch Vermittlung einer Tante einen Platz an einer der renommierten Fotoschulen in Bamako erhielt, und die lange kämpfte, um sich als Frau und Fotografin in einem von Männern dominierten Metier durchzusetzen. Mit der von ihr geleiteten „Association des Femmes Photographes de Mali“ hat sie nun einen der in Bamako allgegenwärtigen Kleinbusse in ein mobiles Fotoatelier verwandelt.  Wer  zur Arbeit oder zum Markt will, verbringt oft Stunden zusammengepfercht in der Enge und Hitze der sogenannten „Sotramas“ . „Es sind die Blicke der Passagiere, ihre Kraft, aber auch ihre Erschöpfung, die mehr über den Alltag Malis aussagen als jede Rede“, erklärt Diabate.  Vor einem schwarz-weiß-karierten Vorhang –  inszenieren sich nun die Passagiere selbst. Werden sie von Leidenden zu Helden. Durchaus komische Noten entwickeln  auch Diabates Portraits von improvisierten Corona-Maskierungen. Ein mit Gemüseblatt maskiertes Männergesicht, Taucherbrillen, Damenslips und Socken als  Behelfsschutzmittel, ja selbst Radios und Fernseher mit Atemschutz – das oszilliert  zwischen Erfindungsreichtum  und kreativem Wahnsinn.   

Seydou Camara streicht fast zärtlich über die Papierfahnen an den Wänden des Cinema Hilal. Zwischen Reihen von Eisenstühlen haben ein paar Männer ihre Gebetsmatten ausgerollt. Auf der anderen Seite waschen Frauen Geschirr in großen Plastiktrögen. Während ein Mechaniker unter den Fotos eines Schönheits-Salons an einem Motor herumschraubt. Gerade deshalb schätzt Camara, ein Macher-Typ mit gewinnendem Lächeln,  das alte Freiluftkino im Herzen der Medina Bamakos  als Ausstellungsort. Zusammen mit den jungen Fotografinnen seiner Initiative Yamarou hat er dessen Wände zu einer großen Straßen-Galerie umfunktioniert. Immer wieder bleiben ambulante Marktfrauen oder spielende Kinder vor den Fotos stehen. Es sind Themen mit denen hier jeder vertraut ist:  Der Blick eines Flüchtlingskindes aus einem mit Plastikplanen improvisierten Zeltes. Eine Fotografin, die die Inhalte des Schmuckkästchens ihrer  verstorbenen Mutter zeigt.  Oder Frauenkörper, die unter übereinandergelegten Schichten von Kleidung ersticken – Symbol für den sozialen Druck, sich für jedes Fest neue kostspielige Kleider schneidern zu lassen: „Wir von Yamarou“, erklärt Camara. „haben einen sozialen Auftrag: Vermeintliche Selbstverständlichkeiten und Rollenbilder in Frage zu stellen. Und die Menschen so zum Reden zu bringen“.

Auch deshalb veranstaltet Camara,  selbst ein international renommierter Fotograf,  mit Yamarou regelmäßig Fotoworkshops für Kinder und Jugendliche. Das Medium Foto sei nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil es in einer Gesellschaft von 70 Prozent Analphabeten von allen gelesen werden könne. Letztes Wochenende habe Yamarou ein Marionettentheater, eine Modenschau und  Musiker ins alte Kino gebracht. „Die Straßen ringsum sind aus allen Nähten geplatzt. Danach haben wir alle zusammen sauber gemacht“. Es sind solche Off-Aktionen, die das UFO der Biennale dann doch  in den populären Quartieren  der Stadt landen lässt. „Wenn in Mali etwas fuktioniert“, erklärt Camara, „dann ist es der Gemeinschaftsgeist. Deshalb habe ich trotz aller Krisen Hoffnung für unser Land“.     

JONATHAN FISCHER

In gekürzter Fassung erschienen in der NZZ 4.2.2023

Weißer Mann mit Messer

Der tausendseitige Bericht einer kolonialen Raubmission des Surrealisten Michel Leiris ist neu erschienen. Hat er noch etwas zu sagen?

Michel Leiris’ „Phantom Afrika“ gleicht einer dieser Postkarten mit je nach Betrachtungswinkel wechselndem Bildmotiv: Vordergründig stellt es das Tagebuch einer ethnologischen Feldstudie dar. Leiris begleitete die Dakar-Djibouti Mission, diese berüchtigte französische Afrika-Expedition der Jahre 1931 bis 1933, als ethnologischer Sekretär und Archivar. Der den französischen Surrealisten nahestehende Schriftsteller beschreibt darin – auf fast tausend Seiten! – kulturelle und religiöse Rituale.

  Zumindest ist das sein Auftrag. Denn wenn es dabei bliebe, wunderte man sich doch, warum dieser 1934 zuerst bei Gallimard Paris erschienene und in der deutschen Übersetzung vergriffene Ethnologie-Klassiker nun im Berliner Matthes & Seitz Verlag eine redigierte und erweiterte Neuauflage erhält. Wer sollte sich außerhalb von Seminar-Bibliotheken für diesen Ziegelstein interessieren?

  Tatsächlich begleitet Leiris, ein Jazz- und Philosophie-begeisterter Großstadt-Intellektueller, eine zweieinhalbjährige Sammelorgie, bei der Dogon-Masken und äthiopische Kirchenmalereien, rituelle Umhänge und blutverschmierte Fetische eingesackt werden, eine Unternehmung, die bis heute als entscheidend für die wissenschaftliche Entwicklung der Ethnologie gilt. Was aber wenn die Einheimischen ihre Kultgegenstände nicht freiwillig rausrückten? Was wenn die Expedition – wie fast alle europäischen Feldforschungen dieser Zeit – zu kriminellen Methoden wie Einschüchterung, Erpressung, Diebstahl, Raub und Gewalt griff, um Masken, Statuen und religiöse Objekte zu entwenden?

  „Phantom Afrika“ mutiert hier von einer Heldengeschichte zu einem düsteren Krimi, der angesichts von Leiris’ psychoanalytisch eingefärbtem Schreibstil – er beschreibt auch seine Träume und inneren Konflikte, gesteht angesichts des Gebarens seiner Expeditionskollegen bisweilen eigene Scham- und Schuldgefühle ein – mehr als nur historische Bedeutung hat.

  Leiris macht sogenannte Feldforschung als kaum kaschierten Raub erkennbar, beschreibt die Arroganz der Kolonialisten wie die Ohnmacht der Afrikaner und wirft en passant einiger seiner eigenen Lieblings-Mythen über den Haufen. Und das obwohl, oder gerade weil der Autor selbst in einem moralischen Dilemma steckt. Einmal hofft er, in Afrika ein Heilmittel gegen seine Zivilisationsmüdigkeit zu finden, ja „ein Herz zu entwickeln“ – dann wieder packt ihn sein altbekannter Ennui.

  Leiris hatte der Afrika-Expedition 1931 auf Anraten seines Freundes Georges Bataille zugestimmt. Auch sein Psychoanalytiker befürwortete die Reise. Denn was könnte einem Schriftsteller mit Schreibblockaden, sexuellen Phobien und Alkoholproblemen schon besser bekommen als das Eintauchen in vermeintlich primitive und unverdorbene Kulturen? Leiris hoffte jedenfalls auf eine persönliche Transformation. Afrika würde das heile Kind in ihm wecken. Kein Wunder, dass die Aufzeichnungen des Expeditions-Sekretärs vor allem die eigene mentale Zerbrechlichkeit spiegeln. An einer Stelle sinniert Leiris über die Frage, warum ihn wohlbekleidete europäische Damen mit ihren Tabus sexuell mehr reizen als die Nacktheit, die er mancherorts in Afrika antrifft. Vor seiner Reise gehörte Leiris lange zu den Pariser Surrealisten, die ihre politisch-revolutionäre Haltung mit einer ausgesprochenen Afrika-Schwärmerei überhöhten. Ihre Hoffnung: In der Fremde könne man sich seiner bourgeoisen Prägung entledigen.

  Leiris ist nicht der erste mit diesem Unterfangen. Arthur Rimbaud etwa ließ das Gedichteschreiben sein, um nach Afrika zu segeln – und kam Jahre später krank aber voller wilder Geschichten zurück. André Gide veröffentlichte nach einer Reise durch die französischen Kolonien Ende der 20er Jahre populäre Reiseberichte wie „Voyage au Congo“ und „Retour du Tchad“. Leiris kannte beide. Und folgte in Rimbauds Fußstapfen der Illusion, in Afrika als Rebell getauft zu werden.

  Ähnliche Verwandlungs-Fantasien, beziehungsweise deren Verdammung, spielen heute auch in die Debatte über kulturelle Aneignung hinein. Doch eines wird auch Leiris irgendwann klar: Er kann seine Nation und Klasse nicht leugnen. Seine libidinösen Afrika-Fantasien zerschellen immer wieder an der politischen Wirklichkeit. Besonders Leiris’ Idee, Rettung bei den Einheimischen zu suchen, scheint zunehmend absurd, halten diese doch selbst religiöse Rituale ab, um ihren miserablen Lebensbedingungen zu entkommen.

  Es sind die literarischen Qualitäten, die „Phantom Afrika“ herausheben und zu Leiris’ vielleicht nicht bestem, aber erfolgreichstem Werk machen. Claude Lévi-Strauss erklärte ihn später zu einem der „wichtigsten Schriftsteller des Jahrhunderts“. Stets ringt der Autor mit dem eigenen Interessen-Zwiespalt, stellt die Authentizität von Darbietungen der Afrikaner in Frage, ahnt, dass nicht nur die Europäer die Einheimischen betrügen, sondern auch letztere den Eindringlingen eigene Märchen auftischen. Dass Leiris es mit der Objektivität gar nicht erst versucht, sondern Emotionen wie Freude, Sorge, Frustration, sexuelle Lust und Scham in teils schnoddrigen Kommentaren einfließen lässt, macht den einst als „unseriös“ Verleumdeten zum Vorreiter einer grundlegend neuen Ethnografie.

  Wenn der Expeditionsleiter Marcel Griaule sich später gegen die Veröffentlichung von „Phantom Afrika“ stellte, hatte das aber vor allem mit Leiris’ ungeschönten Raub-Schilderungen zu tun: Wie etwa dem Bericht von der widerrechtlich erbeuteten Kono-Maske in Mali. Als das Oberhaupt der Kono die Weißen mit Forderungen nach komplizierten Tieropfern von seinem Heiligtum fernhalten will, wird Griaule grob: Er lässt dem Dorfoberen ausrichten, dass „als Vergeltung dafür, dass man uns hier offensichtlich zum Besten hält, der Kono gegen ein Entgelt von 10 Francs auszuliefern sei, wenn der Dorfobere und die Notabeln des Dorfes nicht von der angeblich im Lastwagen versteckten Polizei abgeführt werden wollten… Entsetzliche Erpressung!… Der Dorfobere ist am Boden zerstört.“

  Griaule schickt sodann einen seiner Angestellten, die Maske zu holen, die „weder die Frauen noch die Unbeschnittenen sehen dürfen, weil sie sonst sterben müssen“. Im Dorf bricht Panik aus, Männer mit Stöcken treiben hastig ihre Frauen und Kinder in die Häuser hinein, während Leiris halbamüsiert notiert: „Umgeben von einer Aura besonders mächtiger und unverfrorener Dämonen oder Schweinehunde lassen wir die Leute in ihrer Verblüffung zurück“.

  Auch der Expeditionssekretär ist offensichtlich nicht gefeit gegen den Machtrausch, den er als „Weißer mit einem Messer“ verspürt. Er verleiht zwar in „Phantom Afrika“ dem Unternehmen eine gewisse Menschlichkeit, aber letztlich stellt Leiris doch die kolonialen Herrschaftsstrukturen nicht in Frage. Die rund 3500 Objekte, die die Mission Dakar-Djibouti einsammelte, machen heute den Stolz Pariser ethnografischer Museen aus – auch wenn Emmanuel Macron versprochen hat, einige davon zurückzugeben. Leiris aber sollte viele seiner Ideen von einst revidieren: Er unternimmt weitere Reisen nach Afrika und in die Karibik, befreundet sich unter anderem mit dem afrokaribisch-französischen Négritude-Mitbegründer Aimé Césaire, arbeitet für Jean Paul Sartres Zeitschrift Les Temps Modernes und wächst in den Fünfzigerjahren zu einem Anwalt der anti-kolonialistischen Linken heran.

  Afrika hatte Leiris zwar nicht als Person geheilt, aber immerhin als Literat auf das richtige Gleis gesetzt. In einem Brief an seinen Freund Georges Bataille schreibt er später, man könne als Ethnograf letztlich nur über eigene Erfahrungen wahrheitsgemäß Auskunft geben: „Wie intensiv wir auch imaginieren, die Erfahrung der einheimischen Person zu leben, wir können niemals in seine Haut schlüpfen.“

JONATHAN FISCHER

SZ 19.12.2022

Der Bibliothekar, der sein Leben riskierte


Als Mali von islamistischen Milizen überfallen wurde, machte sich Abdel Kader Haidara auf eine gefährliche Reise. Er schmuggelte Tausende Schriften aus Timbuktu. Nun sind sie im Internet einsehbar. Ein Besuch in seiner Werkstatt in Bamako – und in einem Land, das wieder zwischen die Fronten gerät.

Wir sind in Mali, Bamako, Baco Djocoroni. Auf einem ungeteerten Weg, vorbei an Ziegen und spielenden Kindern erreicht man einen unscheinbaren malvenfarbenen Flachbau. „Savama-DCI“ steht auf einer Banderole im Eingangsbereich: so heißt die Organisation, die Dr. Abdel Kader Haidara einst gegründet hat, um die Manuskripte von Timbuktu zu retten und konservieren.
Im Internet lassen sich jetzt über 40.000 nach Themen geordnete Manuskriptseiten einsehen. Begleitend sind den arabischen Originalen englische Übersetzungen der Hauptaussagen beigefügt. In seinem Büro im ersten Stock empfängt der Chef-Bibliothekar Haidara in traditioneller, bestickter Tunika.


Herr Haidara, Ihr Schreibtisch ist voller Bücher und Papierstöße, in den Regalen daneben türmen sich in Lederkladden gefasste Originalmanuskripte. Wie sieht Ihre tägliche Arbeit aus?
Abdel Kader Haidara: Ich kontrolliere einerseits die schon konservierten Manuskripte. Andererseits durchforste ich noch nicht erfasste Schriften: Was berichten sie, wie alt sind sie, sollen wir sie übersetzen lassen? Wir sind nach zehn Jahren mit dem Gros der Konservierung und Digitalisierung durch. Nur noch einige tausend der Schriften lagern zur Bearbeitung in unseren klimatisierten Lagern.

Für die Online-Präsentation von 40.000 Seiten, die vom 11. bis zum 20. Jahrhundert reichen, haben sie sieben Jahre lang gearbeitet. Was hat so lange gedauert?
Haidara: Zunächst war die Konservierung ein langwieriger Prozess. Und dann ging es darum, eine repräsentative Auswahl zu treffen, Schlüsselpassagen zu identifizieren und zu übersetzen. Sodass die Leser nachvollziehen können, warum diese Manuskripte das kollektive Gedächtnis Afrikas und der Menschheit repräsentieren.

Vor genau zehn Jahren haben Sie diese Manuskripte aus dem von Dschihadisten besetzten Timbuktu herausgeschmuggelt und 285.000 von ihnen in Sicherheit nach Bamako gebracht. Wie kam es dazu?
Haidara: Ich war damals Leiter einer der größten Familienbibliotheken von Timbuktu, der Mamma Haidara Memorial Library. Zusammen mit anderen Bibliothekaren kümmerte ich mich bereits seit 2007 darum, die oft seit Jahrhunderten in Häusern eingemauerten oder gar in der Wüste versteckten Manuskripte zusammenzutragen und digital zu erfassen. Als die Dschihadisten 2012 Bibliotheken plünderten und Manuskripte verbrannten, mussten wir dringend handeln: Wir Bibliothekare konnten mit der
Unterstützung der Einwohner Timbuktus unvorstellbaren Schaden von diesem UNESCO-Weltkulturerbe abwenden. Nachts katalogisierten und verpackten wir die alten Handschriften in über 1000 Metallkisten und schmuggelten sie unter Obst- und Gemüsekisten versteckt aus Timbuktu heraus. Von dort aus transportierten sie Kuriere mit Pirogen auf dem Niger und anschließend mit Lkws bis Bamako.

Wegen dieser waghalsigen Aktion werden Sie von westlichen Medien gern als eine Art Superheld-Bibliothekar, der „badass librarian of Timbuktu“ betitelt. Gefällt Ihnen das?
Haidara: Nun ja, meine Mitstreiter und ich haben für diese Aktion auf jeden Fall unser Leben riskiert. Aber war das wirklich übermenschlicher Mut? Damals schienen wir gar keine andere Wahl zu haben, wenn wir die Zeugnisse unserer großen alten Zivilisation nicht für immer verlieren wollten….

Sie haben das aus Liebe zur Wissenschaft getan?
Haidara: Sie müssen eines verstehen: Die Manuskripte, die meine Familie und andere Familien aus Timbuktu seit Generationen hüten, gelten nicht als Teil des elterlichen Erbes. Sondern der am meisten interessierte Sohn wird mit der Pflege und Instandhaltung der Bibliothek betraut. In meiner Familie war ich derjenige. Damit geht eine große Verpflichtung einher.

Sie wurden andererseits auch kritisiert und vom britischen Journalisten Charlie English in seinem Buch „The Booksmugglers of Timbuktu“ verdächtigt, die Gefahr übertrieben und westliche Hilfsgelder veruntreut zu haben.
Haidara: Ich kenne die Anschuldigungen. Aber ich habe mir nichts vorzuwerfen. Jeder kann unsere Buchhaltung kontrollieren, da ist alles ordentlich festgehalten.

Wie erklären Sie sich dann die Vorwürfe?
Haidara: Sie stammen im Wesentlichen von einem einzigen Journalisten. Charlie English war enttäuscht, dass ich nicht mit ihm zusammenarbeiten wollte. Ich hatte bereits eine exklusive Kooperation mit dem Autor Joshua Hammer (für dessen Buch „The Bad Ass Librarians of Timbuktu“) vereinbart.

Zurück zur zweifellos verdienstvollen Arbeit, die Sie mit Ihrem Savama Institut geleistet haben: Nach welchen Kriterien haben Sie die Manuskripte ausgewählt, die nun im Netz veröffentlicht werden?
Haidara: Ich habe zuerst die umfangreichsten und gewichtigsten Bücher berücksichtigt. Und dann noch einmal nach den Inhalten sortiert: Die ausgewählten Bücher handeln von Religion, Rechtsprechung, Sozialkunde, Medizin, Geschichte und Geografie. Vieles daraus wirkt bis heute brandaktuell. Darunter etwa eine Schrift über die Korruption und ihre negativen Auswirkungen auf den Staat aus dem 19. Jahrhundert.

Welche Rolle hat Deutschland bei der Restaurierung gespielt?
Haidara: Wir haben Deutschland sehr viel zu verdanken. 2014 kam ein Team von Restauratoren von der Uni Hamburg, um uns auszubilden – in Hochzeiten waren es bis zu 140 Angestellte, die in diesem Haus an der Konservierung und Digitalisierung arbeiteten. Zusätzlich kam etwa von der Gerda-Henkel-Stiftung eine Menge technische Hilfe. Ohne deren Entfeuchtungsgeräte drohten die aus Timbuktu geretteten Manuskripte während der Regenzeit in Bamako zu verrotten.


Sie haben vor acht Jahren vom deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier den Afrikapreis entgegengenommen und dabei auch mit deutschen Bibliothekarskollegen Kontakt aufgenommen. Was ist Ihnen davon geblieben?
Haidara: Mich hat ein Besuch des historischen Archivs der Staatsbibliothek in Berlin schwer beeindruckt. Mit welchem Aufwand in Ihrem Land Kulturgüter geschützt werden! Um zu den alten Büchern zu gelangen, musste ich durch mehrere Schleusen hindurch, Sicherheitstüren wurden geöffnet und geschlossen bis hin zu einem Aufzug in einen voll klimatisierten Keller…

Das Gegenteil von den Zuständen in Mali?
Haidara: Nun ja, wenn man gerade aus Bamako kommt und Hunderttausende historischer Manuskripte provisorisch in Metalltruhen und Koffern gelagert hat, ist das natürlich ein harter Kontrast. Wir hatten damals Garagen zur Lagerung angemietet. Aber die Gefahr für die Manuskripte bestand nicht nur durch das feuchte Klima, sondern auch durch ihren Wert. Die Orte waren folglich geheim und rund um die Uhr bewacht. Heute kann ich sagen: Wir haben 95 Prozent der insgesamt über 450.000 Manuskripte aus Timbuktu und Umgebung für die Nachwelt gerettet

Welches der vielen Manuskripte hat Sie persönlich am meisten beeindruckt?
Haidara: Dazu gehört auf jeden Fall ein medizinisches Buch aus dem 15. Jahrhundert: Es handelt von der Kunst des Operierens, speziell Operationen der Geschlechtsorgane. Das hatte ich nicht erwartet. Die Beschreibungen gehen bis hin zu Analysen der Gewebezellen und der Blutwerte…

Die Zeugnisse der alten Universitätsstadt Timbuktu scheinen in vieler Hinsicht dem Mythos von der Rückständigkeit der islamischen Welt zu widersprechen.
Haidara: Tatsächlich gibt es da ein weiteres Lieblings-Manuskript von mir. Es stammt aus dem 18. Jahrhundert und behandelt die Menschenrechte aus der Perspektive der Frauenrechte. Das beginnt mit der Heirat: Die Frau muss ein Mindestalter haben, der Bräutigam muss die Respektierung ihrer Rechte garantieren, und sie, wenn sie schwanger ist, schonen und versorgen. Als Nächstes kommt das Recht des Neugeborenen und Kindes auf Zuwendung, Nahrung, Erziehung. Von ihm aus werden die allgemeinen Menschenrechte entwickelt. Sie enden nicht mit dem Tod. Denn auch der Verstorbene hat das Recht auf seine Würde.

Mali ist eines der ärmsten Länder der Welt. Und die Konservierung der Manuskripte kostet hunderte Millionen von Euro. Warum halten Sie es trotzdem für wichtig, diese Schriften für die Menschheit zu erhalten?
Haidara: Wir können bis heute viel aus diesen alten Schriften lernen. Sie sind – weil sie bisher in Familienbesitz waren und weder Universitäten noch Bibliotheken zur Verfügung standen – eine noch nicht erschlossene Fundgrube für die Wissenschaft. Und dann korrigieren sie auch ein Weltbild: Lange glaubte man im Westen, dass das präkoloniale Afrika ein unzivilisierter Flecken auf der Landkarte war. Nun wird klar: Wir besitzen eine reiche Schriftkultur, Afrikaner haben schon seit einem Jahrtausend ihre Geschichte und Wissenschaft in Büchern festgehalten.

Kommen viele Forscher zu Ihnen, um sich mit den Inhalten der Manuskripte zu beschäftigen?
Haidara: Anfangs riss der Strom der Journalisten, Historiker und Wissenschaftler kaum ab. Aber heute kommt kaum noch jemand nach Bamako. Der Militär-Coup, das Embargo der Nachbarländer und die Nachrichten über die Attentate der Dschihadisten schrecken die meisten Besucher ab. Aber Sie merken das bestimmt selbst: Bamako bleibt friedlich. Jeder geht hier seinem Alltag nach wie immer.

Mir ist aufgefallen, dass die ganze Welt über die Manuskripte von Timbuktu berichtet, in Bamako aber wissen viele Menschen kaum etwas darüber. Wie wollen Sie das ändern?
Haidara: Das ist der nächste Schritt: Wir sind gerade mit dem Kulturministerium dabei, die Manuskripte auch für lokale Schulen und Universitäten aufzubereiten. Schließlich kann die Beschäftigung mit ihnen nicht nur unser Wissen erweitern – sondern malischen Studenten auch ein ganz neues geschichtliches Selbstverständnis verleihen. Inshallah! So Gott es will!

Interview: Jonathan Fischer

Die Welt 7.9.2022

bsh

So kämpft eine Unternehmerin gegen das Verderben

Eine Agrarwissenschaftlerin aus Mali kehrt in ihre Heimat zurück und baut eine eigene Firma auf. Sie macht Früchte haltbar, die sonst vergammeln würden – und liefert die Lösung für ein großes Problem.

Am Stadtrand von Malis Hauptstadt Bamako steht inmitten von Feldern und Brachen ein zweistöckiger Kasten. Gleich nebenan entladen kleine Boote am Nigerufer ihre Fracht. Nur eine löchrige Piste führt hierher. Die Mauern sind vom roten Staub eingefärbt. Auf einer Werbetafel am Eingang glänzen bunte Saftflaschen. „Zabbaan – le secret de ma journée“ steht darauf, „Zabbaan – das Geheimnis meines Tages“. Daneben parken ein paar dreirädrige Lastwagen – die Infrastruktur, um Supermärkte, Hotels und Restaurants in Bamako mit Säften zu beliefern. Dass sich die Marke Zabbaan einmal gegen die überzuckerten, künstlich geschmacksverstärkten Produkte der Konkurrenz durchsetzen würde, das war die Hoffnung von Firmengründerin Assiata Diakite. Aber was hat sie dazu motiviert, einen gut bezahlten Job in Europa aufzugeben, um in einem der ärmsten Länder der Welt zu investieren?

Die meisten Lebensmittel verderben, bevor sie auf den Markt kommen

Mali sei ein Land der ungenutzten Ressourcen, sagt Diakite. „Wir haben in der Landwirtschaft eine Lebensmittel-Verlustrate von bis zu 65 Prozent.“ Das sind fast zwei Drittel. „Mangels Lager- und Konservierungsmöglichkeiten verdirbt in der Erntezeit ein Großteil der Früchte, bevor sie auf den Markt kommen, weil wir keine Industrie haben, um sie zu verarbeiten und zu veredeln.“ Erschwert wird der Handel durch die seit Jahren anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen im Norden des Landes und instabile politische Verhältnisse.

Wie in den Nachbarstaaten der Sahel-Region ist die Mehrheit der erwerbstätigen Malier in der Landwirtschaft beschäftigt. Doch es fehle an langfristigen Strategien, meint die Unternehmerin. Besonders in der Mango-Saison werde das deutlich: Da könne niemand die riesigen Mengen an frischen Früchte kaufen und essen, die Verkäuferinnen am Straßenrand anbieten, sagt Diakite. Doch als Trockenfrüchte in Form von Mangochips, als Marmeladen und Säfte im Glas ließen sie sich lange haltbar machen. In einem Regal vor ihrem Büro präsentiert Diakite ihre Produkte: Mango-, Ingwer-, Marengo- und Baobab-Säfte. Dazu kommen Hibiskusblütentees, zahlreiche Konfitüren – und demnächst auch Fruchtjoghurts.

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Assiata Diakite ist gerade mal 25 Jahre alt, als sie 2016 ihre eigene Firma mit knapp 15 Angestellten, einer Fabrikhalle und einer kleinen Flotte von Lieferwagen gründet. Dazu gehört eine gute Portion Mut. Zum einen weil eine Uni-Absolventin ohne vermögende Eltern so ziemlich zu den Letzten gehört, denen eine heimische Bank einen Gründungskredit gewähren würde. Zum anderen ganz einfach, weil sie jung ist. Und eine Frau. Sich unter dieser Voraussetzung eine Führungsposition oder gar eine Firmenleitung zuzutrauen – das löst in einer patriarchalen und von den Älteren geprägten Gesellschaft wie Mali zwangsläufig Widerstand aus. Die Agrarwissenschaftlerin bekam das etwa auf Konferenzen zu spüren, bei denen sie über Lebensmittelverluste und deren Minimierung sprach. „Glaubt diese junge Frau etwa, sie habe uns etwas im Wissen voraus?“, hieß es da. Die alten Männer hätten sie statt als Unternehmerin und Expertin eher wie „eine etwas zu vorlaute Tochter“ behandelt. Für Diakite mit ein Grund, warum man in Westafrika trotz enormer Lebensmittelverluste einen langen Atem für Innovationen brauche.

Eine Aufsteigerin ohne Chefallüren

„Ich bin im Norden Malis als Tochter von Landwirten aufgewachsen“, erzählt die Firmengründerin im klimatisierten Büro im Obergeschoss der Fabrik. „Zu Hause haben wir alle Lebensmittel selbst angebaut und weiterverarbeitet.“ Sie wirkt nicht wie eine Aufsteigerin, die sich mit Chefallüren beweisen muss. Ihr Gesicht leuchtet freundlich, wenn ihr einer der Angestellten – es sind inzwischen mehr als 30 – im Flur begegnet.

Diakite hatte dank eines Stipendiums in Frankreich Ernährungswissenschaft und Lebensmittellogistik studiert, anschließend kamen Praktika und Anstellungen in Paris und London. „Ich hätte in Europa viel Geld verdienen können. Für mich aber war von vorneherein klar: Ich kehre zurück und gründe eine Firma in Mali. Mein Land braucht mich.“ Während in Europa bereits alle Nischen besetzt, das Potenzial ausgereizt sei, könne man mit einer guten Idee in Mali enormes Wachstum generieren. „Zabbaan zeigt das Potenzial der gesamten heimischen Agrarindustrie.“

Ihre Fabrik habe mit 200 bis 300 Flaschen täglich angefangen, sagt sie. Im Moment würden 5000 Flaschen Fruchtsaft täglich produziert. Das bedeutet ein enormes Wachstum. „Wir arbeiten wie die Chinesen“, ergänzt die Firmenchefin mit einem Augenzwinkern und spielt damit auf den Fleiß an, der den Asiaten nachgesagt wird. „Und es zahlt sich aus.“ Selbst nach Frankreich exportiere sie inzwischen.

Wie aber konnte sie ihr Unternehmen finanzieren? Zumal die Banken in Mali Kredite nur an Vermögende vergeben, und dann noch mit satten 25 Prozent Zinsen?

Diakite erzählt von den internationalen wissenschaftlichen Wettbewerben, die sie als Uni-Absolventin noch in Europa gewonnen hatte. Ihr Thema: Innovationen für das Agrobusiness und nachhaltige Lebensmittelverarbeitung. Die Preisgelder hätten ihr finanzielles Fundament gebildet. Dazu habe sie in der ersten Zeit nach ihrer Rückkehr noch als Beraterin für ausländische Unternehmen in Mali gearbeitet.

Viele Einheimische glauben noch immer, dass Importiertes besser sei

Gerade baue sie eine kleine Nische für Bioprodukte auf. „Wir werben mit dem Geschmack unserer Säfte. Aber das braucht Zeit und viel Kommunikation: Die Menschen hier sind derart an die überzuckerten und künstlich aromatisierten Importprodukte gewöhnt, dass sich ihr Geschmack erst mal umstellen muss.“ Zudem müsse sie gegen den Irrglauben ankämpfen, dass Importiertes besser sei. „Viele unserer Kunden dachten anfangs, unsere professionell aufgemachte und beworbene Produktpalette könnte nur aus Frankreich oder Libanon stammen.“

Die Firmenchefin führt die Treppe hinunter in die gekachelten Produktionsräume. Zwei gewaltige, glänzende Metallzylinder, die sie gebraucht aus Deutschland importiert habe, sind das Kernstück ihrer Saftproduktion. Daneben gibt es noch eine Abfüllstation, einen Lagerraum und Türme von Plastikkästen mit Saftflaschen. Diakite tippt mit dem Finger auf eine Landkarte von Mali, die an der Wand hängt: Sie zeigt die landwirtschaftlichen Kooperativen, mit denen sie zusammenarbeitet, derzeit sind es 21. „Wegen der Krise brechen viele Märkte in Mali zusammen. So schaffen und sichern wir zumindest Arbeitsplätze.“ Außerdem habe sie zusammen mit der Unicef 2500 Frauen in Mopti, in einer von Dschihadisten bedrohten Region, in landwirtschaftlichen Kooperativen organisiert.

Um die hohen Verluste an Lebensmitteln dauerhaft zu senken, hat die Unternehmerin in einigen Räumen im Obergeschoss ein Weiterbildungsinstitut für junge Firmengründerinnen eingerichtet. Sie lernen dort, Ernteüberschuss zu konservieren, wie man etwa aus Tomaten Pulver und Paste herstellt. Dazu kommt ein theoretischer Part, in dem sie lernen, ihre Marktchancen zu bewerten, einen Businessplan zu erstellen und ihre Produkte zu vertreiben. Vierwöchige Fortbildungen diese Art gebe es in Mali noch nicht, sagt Diakite. „Den Menschen hier fehlt es nicht an Ehrgeiz und Arbeitswillen – aber oft an dem notwendigen Know-how.“ Know-how, das sie nur allzu gern weitergibt.

JONATHAN FISCHER

SZ 23.8.2022

IHR WISST NICHTS. UND IHR KÖNNT UNS NICHTS. DENN WIR FÜRCHTEN NUR GOTT Der Musiker Vieux Farka Touré tritt aus dem Schatten seines legendären Vaters Ali Farka Touré. Für die Islamisten in Mali hat er eine klare Botschaft. Sein Wüstenblues wird auf der ganzen Welt geliebt, aber in der Heimat wartet das kritischste Publikum. Das hat einen speziellen Grund.

Wenn Vieux Farka Touré nicht gerade auf Tournee in Europa oder Nordamerika ist gehört sein Sound zur Akustik von Bamako. Sein Wüstenblues prägt die Nächte der westafrikanischen Metropole. Selbst wenn man nicht vor einer der Freiluftbühnen am Niger sitzt, trägt der Wind die bluesigen Riffs bis in die Nachbarviertel, kann man noch am gegenüberliegenden Ufer zu den hypnotisch schaukelnden Rhythmen seiner Band tanzen. Eine Ngoni-Laute kratzt aufreizend. Die E-Gitarre wirbelt Blue Notes herum. Und dann noch dieser wunderbar melancholische Gesang! Das wirkt wie ein archaisches Gebet inmitten der lauten schmutzigen Niger-Metropole, dieses Gewimmels von Marktplätzen und maroden Kleinbussen. Tatsächlich reichen die Klänge der Band Jahrhunderte zurück. Mit den vom Niger an den Mississippi verschleppten Sklaven bildeten sie einst die Fundamente des Blues. Und doch vernimmt Vieux Farka Touré in Bamako stets auch ein paar maulende Stimmen: „Er kopiert doch nur den Vater“, sagen die einen. Oder auch: „Was haben diese Rockgitarren in der Musik der Songhai verloren?“

Dazu muss man ein, zwei Dinge wissen: Vieux Farka Touré ist der Sohn und Erbe des Sängers und Gitarristen Ali Farka Touré, des Mannes also der den sogenannten Desert Blues weltweit popularisierte, und dem es zu verdanken ist, dass heute westliche Musiker von Damon Albarn bis Robert Plant auf der Suche nach den Roots nach Mali pilgern, Hipster wie Black Keys Produzent Dan Auerbach mit Musikern aus dem Sahel aufnehmen, ja die Zukunft des Pop gerne mal vom Niger her gedacht wird. Als sein Vater 2007 starb, war Vieux als dessen Nachfolger prädestiniert. Und wusste erst mal nicht, wie er diese Ehre tragen sollte: „Du kannst nicht einfach das selbe spielen wie dein Vater“, sagt Vieux, traditionelles besticktes Damastgewand und modische Brille, während einer Arbeitspause in seinem „Ali Farka Touré“-Studio. Zwar stammt die Familie aus Niafunké in der Region Timbuktu, aber allein in Bamako können malische Musiker halbwegs überleben. „Dank meiner Amerika-Tourneen“, sagt Vieux, „geht es mir nicht schlecht. Aber um auch in Mali anerkannt zu werden, muss ich meinen eigenen Weg finden. Und das kann schwer sein.“

Und dann gibt es noch eine Herausforderung: Mali hat womöglich das kritischste Publikum der Welt – zumindest wenn es um Musik geht. Dass aus dem Land, es gilt als eines der ärmsten Afrikas, seit Jahrhunderten legendäre Musiker kommen, hat eben auch ein gewisses Niveau der Musikrezeption bewirkt. Wer neu ist muss sich messen lassen: Etwa an Sängern wie Salif Keita und Oumou Sangaré, Ngoni-Virtuosen wie Bassekou Kouyaté, Koraspielern vom Schlag eines Toumani Diabate oder Ballaké Sissoko, rockenden Tuaregbands wie Tinariwen. Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Auch deshalb hat sich Vieux Farka Touré für sein siebtes Album ungewöhnlich viel Zeit gelassen. Drei Jahre lang habe er daran gearbeitet: „Ich habe in der Vergangenheit stets ein bisschen Reggae, Funk oder Rock zur Melange hinzugefügt. Aber nun ging es für mich zurück zu den Wurzeln: Welche Instrumente, welche Arrangements passen da? Es fühlte sich so an, als würde ich für die Nachbarn vor meiner eigenen Haustür spielen. Oder mich – wie früher – mit meiner Gitarre ans Nigerufer in Niafunké setzen“.

Um es vorwegzunehmen. „Les Racines“, veröffentlicht beim britischen Label World Circuit – Heimat unter anderem des Buena Vista Social Club – ist Tourés Meisterstück. Sublime Bluesmeditationen wie „Lahidou“, das sanft rollende Liebeslied „Flany Konare“ oder „Les Racines“ mit seiner Flamenco-Perkussion und den brütenden Gitarrenriffs sind schon jetzt Klassiker. Songs für die Ewigkeit. Und Liebesbriefe an den Vater. Dieser hatte Vieux oft auf seine Reisen und Tourneen mitgenommen. Und ihm erstmal abgeraten, Musiker zu werden. Warum? „Er wollte mich beschützen“, erklärt der Sohn. „Ich sollte nicht die gleichen Enttäuschungen erleben wie er.“ Sein Vater sei von den eigenen Managern betrogen worden und oft mit leeren Taschen von Konzerttouren in Frankreich zurückgekehrt. Vieux solle lieber zum Militär gehen. Die Menschen zu beschützen sei genau so wichtig, wie sie zum Tanzen und Singen zu bringen. Am Ende aber

tauschte Vieux seine Gitarre

nicht gegen eine Kalashnikov ein – aus gutem Grund: „Musik ist die mächtigste Waffe in unserem Land. Sie bedeutet mehr als Unterhaltung. Viel mehr. Einerseits dient sie als Kitt für den sozialen Zusammenhang – und dann transportieren die Songs stets Botschaften“.

Der Musiker erzählt von den Reisfeldern, wo die Bauern bei der Arbeit Musik hören. Von Landbewohnern, die zwar kein Fernsehen und keine Zeitung kennen, aber immer ihr kleines Radio dabeihaben. Von dem Gros der Bevölkerung, das zwar nicht lesen und schreiben, aber viele Texte auswendig kann. „Alles was sie in ihrem Leben lernen entstammt unseren Songs“.

Der Musik, die in ihrer Kargheit und Anmut an die Arrangements des Vaters erinnern, hat Vieux dringliche Botschaften zur Seite gestellt. Etwa „Ngala Kaourene“ mit seinem Appell an die Einheit der Malier über alle ethnischen Grenzen hinweg. Oder „Gabou Ni Tie“: Hier tadelt er Jugendliche, die sich der traditionellen Erziehung und den Ratschlägen ihrer Eltern entziehen. Dafür macht er die Texte der Nachwuchsmusiker verantwortlich: „Sie singen: Ich liebe diese Frau. Sie hat einen großen Arsch und macht mich verrückt. Die wahren Musiker Malis aber drehen sich nicht nur um sich selbst. Sondern um die Belange der Gemeinschaft“. Wen er mit den wahren Musikern denn meine? Vieux schwärmt von der Popdiva und Frauenrechtlerin Oumou Sangaré. Oder auch von Rappern wie Master Soumy. Dessen sozialkritische Botschaften träfen ins Schwarze. Er selbst, sagt Vieux, mache sich viele Gedanken um seine Lyrics. Oft handeln sie von Familienkonflikten. Von Eifersucht. Und wie man Streitigkeiten friedlich beilegt. Direkt in die Politik aber wolle er sich nicht einmischen. Nur die Dschihadisten adressiert Ali Farkas Sohn unverblümt. Sie hatten während ihrer Besetzung des Norden Malis im Jahre 2012 Musiker mit dem Tod bedroht, und deren Instrumente verbrannt: „Ich singe ‚Ihr seid gekommen, um die Musik anzuhalten. Aber ihr wisst nichts. Und ihr könnt uns nichts.Denn wir fürchten nur Gott“.

Auch zehn Jahre nach der Befreiung der Städte des Nordens durch die Franzosen bleibt es für die Musiker gefährlich. Weite Landstriche sind der Kontrolle der Regierung entglitten, ganze Dörfern wurden von islamistischen Terroristen niedergemetzelt. Der Militärcoup vor einem Jahr, das Zerwürfnis der Übergangsregierung mit Frankreich und das Embargo der ECOWAS-Nachbarländer gegen Mali hat die Krise noch verschärft. Außerhalb von Bamako ereignen sich täglich Überfälle. Trotzdem tourt Vieux Farka Touré nach wie vor. „Vor meinen Auftritten in Niafunké, Diré und Timbuktu hatten mir die Dschihadisten Warnungen geschickt. In letzter Zeit sind immer wieder Musiker entführt worden. Aber wir hatten unsere Vorkehrungen getroffen“. Vieux Farka Touré sagt, niemand könne ihn von seiner Mission abbringen: Die Musik seines Vaters weiterzutragen. Und die Sehnsucht nach einem friedlichen, toleranten Mali am Leben zu erhalten.

Inzwischen unterrichtet er in seinem Studio auch junge Musiker und Tontechniker. Zwei Ratschläge Ali Farka Tourés seien ihm dabei besonders wichtig. Langsamkeit – als Gegengift zu den überhandnehmenden Fastfood-Pop-Produktionen aus dem Laptop. Und Verzicht. „Mein Vater hat mir beigebracht, wie wichtig es ist, die Musik einfach zu halten. Wenn du das neue Album hörst, merkst du dass ich nicht viel Lärm mache. Weil gerade die schlichteste, gelassenste Musik am meisten zu Herzen geht“.

Vieux Farka Touré „Les Racines“ (World Circuit)

JONATHAN FISCHER

Die Welt, 22.7.2022

Photo: Kiss Diouara

Rilke lerntRumba

Die Verhältnisse sind kompliziert, die Nächte lang,
und alle warten auf diesen einen Song:
Der federleicht schwingende Roman des
kongolesischen Autors Fiston Mwanza Mujila
aus Graz über das untergehende Zaire

Dieser Roman riecht nach Schweiß, nach Klebstoff und Bier. Er nähert sich den Hoffnungen und Enttäuschungen, dem ganzen Irrwitz des postkolonialen Afrika von ganz unten, aus der Perspektive kongolesischer Minenarbeiter, Glücksritter und Straßenkinder. Sie wollen überleben, versuchen aus dem Niedergang des korrupten Regimes des Diktators Mobutu ihre Vorteile zu schlagen. In Fiston Mwanza Mujilas „Tanz der Teufel“ bersten eine Menge Träume. Und doch hat der Roman so überhaupt nichts Schweres an sich.

  Das mag an der satirischen Einfärbung liegen und an der Musik im Ohr: Immer rauscht im Hintergrund die Rumba. Ihre silbrigen Gitarren und honigsüßen Gesänge konterkarieren den Verfall mit federleichtem Swing. Man sollte diesen Roman unbedingt zur Musik von Papa Wemba, von Camille Feruzi, Wendo Kolosoy und Tabu Ley Rochereau lesen. Der Soundtrack des zentralen Handlungsorts, einer Bar namens „Mambo de la Fete“, besteht daraus. Und sie bringt Mujilas Figuren erst zum Tanzen. „Diese Seiten“, schreibt der aus Lubumbashi stammende, aber seit mehr als zehn Jahren in Graz lebende Schriftsteller im Nachwort, „wurden oft in der Nacht geschrieben, zu südafrikanischem Jazz … und zairischer Rumba“.

  Was wäre der Kongo – zur Zeit des Romans heißt das Land noch Zaire – ohne sein Nachtleben? In den Nachrichten präsentierte sich das Land schon damals als Ort der Korruption und blutiger Bürgerkriege. Dass genau hier auch diese liebliche Tanzmusik gedeiht und alle Unbill übertönt, das ist ein wiederkehrendes Wunder. Polizisten und Gauner, Geschäftsmänner und Prostituierte lassen sich allabendlich im „Mambo de la Fete“ von der Rumba bezirzen. Und auch die Straßenkinder vom Lubumbashi zieht es an diesen magischen Ort: Hier werden Fantasien Wirklichkeit, die sonst nur der Klebstoff-Rausch möglich macht. Hier werden die Diamanten aus den Minen auf der anderen Seite der angolanischen Grenze verflüssigt.

  Die späten Mobutu-Jahre scheinen alle Spielregeln auf den Kopf zu stellen: „Man kann am Abend als armer Teufel ins Bett gehen, als ärmster Teufel der Welt, und am nächsten Morgen als Minister oder Kriminalinspektor oder sogar als bevollmächtigter Botschafter der Republik Zaire in Nordkorea oder dem Königreich Belgien aufwachen …. Das war die einzige Möglichkeit dieses Landes, allen seinen Kindern eine Chance zu geben … denn Geld ist wie Glück, es braucht Mut, um es zu kriegen, egal auf welchen Wegen es zu einem kommt.“

  Vordergründig geht es hier um das Glücksspiel der Straße. Um eine Generation junger Zairer, die weder ein reiches Elternhaus noch Bildung oder Beziehungen haben – dafür aber jede Menge Fantasie und Ambition. Da sind Sanza, Molakisi und Ngungi, die aus ihren Familien weggelaufen sind, um sich auf den Straßen als Männer zu bewähren, die Klebstoff schnüffeln, um dann per Flugzeug in geheimnisvolle Welten voller Schlösser, Champagner und Bediensteter zu reisen. Da sind der ehemalige Geschichtslehrer und Politaktivist Magellan, der vom Aufstand träumt, und der Geheimdienstfunktionär Monsieur Guillaume, der die Straßenkinder als Spitzel rekrutiert und von deutschen Dichtern schwärmt.

  Und da ist schließlich Tshiamuena, die Madonna der Minen von Cafunfo: Sie behauptet, zweihundert Jahre alt zu sein, früher in Japan gelebt zu haben und hellseherische Fähigkeiten zu haben. Sie wacht über die Schürfer, die auf der anderen Seite der Grenze in Angola Diamanten suchen. In einer Welt, in der jeder nur sich selbst der Nächste ist, gibt sie eine Art Heiligenfigur ab. Doch ihre Ratschläge zählen nicht viel. Die alten Hierarchien sind außer Kraft gesetzt.

  Mujila springt zwischen den Perspektiven, erzählt mal in Ich-Form, dann wieder wie ein jovialer allwissender Märchenonkel. Dass diese Brüche nicht stören, liegt an der Agilität und dem Charme seiner Sprache. Er sehe sich in der Tradition von Ernst Jandl, sagt Mujila. Indem er mit den Worten spiele, schaffe er eine andere Ebene: „Wir Kongolesen bemühen uns, eine neue satirische Sprache zu finden, um dem Theater der Grausamkeiten etwas entgegenzusetzen.“

  Bisweilen streut Mujila urkomische Überlebensweisheiten in die Erzählung. Oder legt steile Kurven in den Plot: etwa wenn ein ehemaliges Straßenkind zum Erzbischof aufsteigt, der „die Schlafkrankheit heilte, familiäre Flüche abwendete, Nachtehemänner und andere Nachtehefrauen abwehrte“ – natürlich gegen Beteiligung am Werk des Herrn von hundert Dollar. Mujilas heiter-lakonischer Ton muss sein. Er hält den Leser emotional auf Distanz, lässt Absurdität und Willkür lachhaft erscheinen. Zwischen Gaunerei und Grazie, Glückseligkeit und Größenwahn passt nicht viel Moral. Schon gar nicht im „Mambo de la Fete“. Der titelgebende „Tanz der Teufel“, im französischen Original heißt der Roman „La Danse du Vilain“, ist der Song, auf den alle Gäste hier warten. Eine Stunde und 39 Minuten dauert er, ein Exzess um seiner selbst willen. Selbst Franz Baumgärtner, ein österreichischer Schriftsteller aus St. Pölten und Stammgast der Bar, trommelt dazu fieberhaft auf den Tisch, fühlt sich an das Gejaule von Zebras erinnert und hört „blasphemische Redundanzen wie bei Günter Baby Sommer“.

  Mujilas Faszination für die Bar als gesellschaftliches Panoptikum befeuerte bereits sein gefeiertes Debüt „Tram 83“ und kehrte als „New Jersey Bar“ in seinem am Deutschen Theater in Berlin und am Burgtheater in Wien aufgeführten Theaterstück „Zu der Zeit der Königinmutter“ wieder. Inspiriert hat ihn seine Jugend: „Meine Großeltern hatten eine Bar, ich habe dort die Welt entdeckt.“

  Mujila wurde 1981 in Lubumbashi, der Bergbaustadt im Süden Kongos, geboren, studierte Literaturwissenschaft und kam 2009 nach Graz, wo er bis heute lebt und an der Universität afrikanische Literatur unterrichtet. Er schreibt Theaterdramen, Opernlibrettos auf Deutsch und Französisch, führt seine Texte mit Jazzmusikern auf oder wie im Januar 2021 gar mit dem Symphonieorchester Berlin. Und er liebt die japanische Chanteuse Hibari Misora, deren Song „Mambo de la Fete“ in „Tanz der Teufel“ einfließt.

  Er fühlt sich als vieles gleichzeitig: europäischer Schriftsteller, Kosmopolit und Kongolese. Seine Themen findet er im Zaire seiner Jugend, dessen Musik und Mythologien er in Aufzählungsorgien verpackt. Seine Sprache lässt den sensorischen Überfluss der Bar seiner Großeltern aufleben, wo er in den Schulferien Stühle räumte, Bierkästen schleppte und lernte, Ennui auf Eskapismus und Rumba auf Rausch zu reimen.

  Raffiniert, wie Mujila sein spiegelverkehrtes Alter Ego Franz Baumgärtner in den „Tanz der Teufel“ schickt. Der österreichische Schriftsteller kämpft in Zaire mit seiner Mehrfachidentität wie den Verlockungen des Nachtlebens. Und weil sein Romanprojekt stockt, rennt er stets mit einem Koffer voller Zettel herum – „hundert Sätze in erbärmlichem Zustand“.

  Auch der Geheimdienstler Guillaume, eigentlich für Bespitzelung, Sabotage, Erpressung und Entführung zuständig, bringt die Literatur ins Spiel. Wenn er nicht gerade Rumba hört, schwärmt er von Rilke, Kafka, Paul Celan, Wolfgang Borchert und dem slowenischen Dichter Srečko Kosovel. Wo sonst könne man etwas über „Exile, illegale Grenzübertritte, antiquiertes Vagabundieren“, ja die Leidenschaft an sich erfahren?

  Wenn Mujila verhandelt, was Literatur im Chaos vermag, dann webt er in seine Aliasse jede Menge biografische Fußnoten. Und spricht en passant über die großen Themen des postkolonialen Afrika: vom Raubbau an den Bodenschätzen über die innerafrikanische Migration bis zur Allgegenwart der Korruption. „Er zeigt die wachsende Kluft zwischen der afrikanischen Bevölkerung und der politischen Klasse, die sich nur selbst bereichert“, begründete die Jury die Auszeichnung von „Tanz der Teufel“ mit dem renommierten Prix Les Afriques. Nein, Hoffnung findet man in seiner Groteske kaum. Aber dafür jede Menge Musik – und ein paar Rhythmen, die alles, ja wirklich alles verzeihen lassen.

JONATHAN FISCHER

SZ 8.6.2022