Monatsarchiv: Januar 2015

Die Zukunft beginnt in Afrika: Wie die Uni Bayreuth einen Kontinent neu versteht

 

Die ehemalige bayerische Zentralbank neben dem Opernhaus in Bayreuth heißt seit einiger Zeit Iwalewa-Haus und beherbergt ein Afrika-Kulturzentrum. Dort richtete zum Beispiel die vor zwei Jahren gegründete „Academy of Advanced African Studies“ der Universität Bayreuth ihr jährliches „49°“-Festival aus. Paul D. Miller war dort vor einiger Zeit zu Gast, der unter dem Namen DJ Spooky als der Intellektuelle des Hip-Hop bekannt geworden ist. Und wer anders könnte akademische Erkenntnisse zur Zukunft Afrikas in Musik fassen?

Afro-Futurismus in Bayreuth: „Das ist eine längst fällige Korrektur eines verdrängten Kapitels deutscher Geistesgeschichte“, sagt die Afrika-Dozentin und Mit-Initiatorin des Projekts „Future Africa – Visions in Time“ Susan Arndt. „Afrika galt lange als Kontinent ohne Geschichte – was impliziert, dass es hier auch keine Vision von Zukunft gibt.“ Sie führt den Rassismus Wagners und Hegels an, oder Kants Rechtfertigung der Sklaverei mit dem mangelnden Zukunftssinn angeblich „tierischer“ schwarzer Menschen. „Deshalb wollen wir Afrika als Ort mit einer Geschichte von Zukunftsvisionen zeigen“. Vor allem afrikanisch inspirierte Kulturtechniken erlangten heute weltweite Bedeutung. Schon mal über die Afro-Wurzeln von Share-Ware, Sample-Technik und laufend modifizierten Apps nachgedacht?

Wer DJ Spooky zuhört, wie er im Iwalewa-Haus ein Streichquartett dirigiert, dessen erste Takte im Computer abspeichert, durch seinen Mixer jagt, gegen die Musiker anspielen lässt, dazu ein Drum-Sample eines James-Brown-Stücks spielt, der hat bereits ein wenig vom Afro-Futurismus begriffen. Beziehungsweise von dessen grundlegender Methode: Dem Remix.

„Die Kunst ist ein Ort unbegrenzter Möglichkeiten“, sagt er. „Und der Afro-Futurismus spielt mit diesem Potenzial. Ich möchte den Menschen Werkzeuge an die Hand geben, um über alternative Geschichten nachzudenken. Und alternative Zukunftsentwürfe“. Dann fragt er belustigt: „Kennen Sie das?“ Und lässt Zitate von Sun Ra bis Heidegger, Steve Jobs bis Afrika Bambaataa abspielen, neben Richard Wagner und Ludwig Feuerbach, über die Miller einst seine Doktorarbeit schrieb.

Die Masse an Information kann leicht verwirren. Zumal Spooky jeden Anspruch auf Eindeutigkeit und Endgültigkeit entschieden abwehrt, er sei doch kein Anthropologe, sondern Remix-Künstler und als solcher dem afrikanischen Prinzip des niemals Abgeschlossenen verpflichtet. Der Gegner allerdings ist klar: Die Fiktion der Ethnizität und der Nationalstaaten, „die die Europäer einst nötig hatten, um sich selbst gegen das Andere zu definieren, und die all die Monströsitäten und Ideologien des 20. Jahrhunderts nach sich zogen“.

Da passt es, wenn Susan Arndt die Ideen nationaler Befreiungsbewegungen als eine von vielen afrikanischen Antworten sieht. Die Unabhängigkeitsdenker des Kontinents hätten zwar eine weltweite Ausstrahlung gehabt. Andererseits schaffe die Technologie-Freudigkeit der Afrikaner einen Umbruch von unten: Gerade die Orte in der Diaspora – und dazu gehört in den Advanced African Studies auch Afroamerika – fungierten als Scharniere zwischen politischen und kulturellen Entwicklungen auf dem Kontinent und dem Westen. „Ob Jazz, Surrealismus oder die digitale Alltagskultur von heute, sie sind von der schwarzen Diaspora geprägt, und ihr Wissen wandert wieder zurück nach Afrika“. So würden Nationalgrenzen zunehmend irrelevant, hätten sich etwa die schwul-lesbischen Communities Afrikas dank Internet längst transnational vernetzt. Schlagwort: postethnische Gesellschaft und Postkulturalismus.

Wenn Philosophen wie Kwame Anthony Appiah die dazugehörige Theorie liefern, spielt DJ Spooky mit den Fragmenten, baut er in seinen Multimedia-Installationen selbst an deren Umsetzung mit. Der New Yorker, hatte Arndt geschwärmt, spekuliere entlang derselben großen Zukunftslinien, die insgesamt 50 Forschungsprojekte der Advanced African Studies akademisch aufbereiteten. Nur dass er als Künstler assoziativer arbeiten könne.

„Ich möchte mithilfe elektronischer Musik einen Sinn aus den hyper-beschleunigten Umbrüchen unserer Gegenwart filtern. Die Poesie der Daten erwecken.“Hatte nicht Marshall McLuhan bereits in den 70er-Jahren eine Zukunft, in der alle ihr Wissen miteinander teilen, vorausgesagt? Er nannte sie „new Africa“. Und weil DJ Spooky mit McLuhan daran glaubt, dass Zukunft erst durch den Rückgriff auf die Vergangenheit entsteht, kommt der Sohn eines einst für Angela Davis engagierten Rechtsanwalts auf die im Netz scheinbar überholten Faktoren Rasse und Klasse zu sprechen.

Sehr weiß und sehr männlich habe die Computertechnik in den Dreißigerjahren begonnen – die kybernetischen Innovationen von heute verdankten sich ursprünglich dem Wettlauf um das Knacken geheimer Codes im Zweiten Weltkrieg, einem Datenkrieg zwischen Deutschen und Alliierten. Lange blieben Computer die Domäne von genialen Spinnern und einsamen Nerds. Selbst Computer-generierte Musik hatte etwas Feierliches und Steifes. Bis ein paar Schwarze kamen und die Technik zweckentfremdeten, Beats auf Computern kreierten und alles Dagewesene remixten: Was zuvor elitär behaftet war, entwickelte sich dank der neuen DJ-Kultur und dem respektlosen „Archiv-Fieber“ des Hip-Hop zu einem Freizeitvergnügen.

Share Ware und Apps taten das Ihre zur Schaffung einer weltweiten digitalen Pop-Kultur. DJ Spooky aber erinnert an die afrikanischen Wurzeln dieser nomadischen Ästhetik: „Die Art und Weise, wie Afroamerikaner Kultur im 19. und 20. Jahrhundert erlebten, ihre Idee von Fragmentierung, Umformulierung und mehrfach besetzten Codes hat die digitale Revolution vorweggenommen“.

Um kulturelle und gesellschaftliche Codierungen geht es auch den rund einem Dutzend Post-Doktoranden der Advanced African Studies in Bayreuth, ihre Forschungsergebnisse finden weltweit Beachtung. Das Fach gliedert sich in fünf Teilprojekte: Afrikanische Zukunftsvisionen im 19. und 20.Jahrhundert spielen ebenso eine Rolle wie ökologische und soziale Modelle, die Strategien des Naturschutzes oder des Umgangs mit dem Klimawandel enthalten. Die Mittelschichten werden als Ausdruck des sozialen Aufbruchs untersucht, und – unter dem Stichwort „Revolution 3.0“ – die kulturellen und gesellschaftlichen Ikonografien afrikanischer Revolutionen anthologisiert. Afrika, sagt Arndt, bezeichne hier keinen Kontinent der Opfer. Sondern einen der Akteure.

Ihr Forschungsprojekt „Zukunft Internet und Diasporas“ betrachte die schwarzen Communities in Amerika und Europa als Motoren afrikanischer Zukunftsvisionen. Gerade die neuen Formen digitaler Kommunikation würden alte Afrika-Klischees aushebeln, auch auf dem Kontinent selbst: „Wer glaubt noch an den Mythos vom angeblichen ‚digitalen Graben‘ zwischen dem Westen und Afrika? Selbst wenn sie nicht den neuesten Mac haben: Die Afrikaner haben uns in punkto digitaler Kompetenz längst überholt.“

Arndt zufolge sei „Unterentwicklung“ ein problematischer Begriff: Im Gegenteil bewege sich Europa auf Afrika zu: Viel selbstverständlicher als hierzulande würden sich Afrikaner über ihre Handys in weitläufigen sozialen Netzen bewegen, mit Apps improvisieren, ihr Wissen online teilen und umgekehrt auf akademisches Wissen aus dem Westen zurückgreifen. DJ Spookys postethnische Multimedia-Vision spiegele da bereits mancherorts die Realität. „Die Zukunft ist schon da, sie ist nur ungleichmäßig verteilt“, hatte DJ Spooky behauptet. Susan Arndt ergänzt, dass Afrikaner sehr wohl gezielt in diese Richtung investierten: „In Ruanda hatte ich ein sehr viel schnelleres Internet als hier in Bayreuth“.

JONATHAN FISCHER

SZ 14.1.2015

Vom Standpunkt des Löwen: Der senegalesische Rapper Awadi kritisiert die Politik und weiß, warum die flüchtende Jugend Afrikas ihr Leben riskiert

 

 

Vor kurzem hat US-HipHop-Star und Produzent Ahmir Questlove Thompson mit seinem Genre abgerechnet: „HipHop bot einmal Widerstand an“, schrieb er in einem viel beachteten Internet-Essay, „aber heute rearrangiert er nur noch symbolische Fracht auf dem black starliner, schiebt leere Container hin und her“.

Hat diese Musik also jede Mission verloren? Ist HipHop mit dem Eingang in den Mainstream gesellschaftspolitisch zahnlos geworden? Um sich vom Gegenteil zu überzeugen, muss man allerdings über den Atlantik schauen, dort wo materielle Übersättigung dem Löwen Hip-Hop noch nicht die Stimme geraubt hat. „Ohne uns Rapper“, sagt trotzig wie selbstbewusst Didier Awadi, „hätte die ,géneration consiente‘, die selbstbewusste Generation junger Afrikaner, kein Sprachrohr“.

Der Mann mit den Rastalöckchen gilt als Pate des politischen HipHop in Westafrika, hat mehrere Generationen von afrikanischen Rappern geprägt und findet mit seiner schonungslosen Rhetorik auch im Westen Gehör. Erst recht seit dem Flüchtlingsansturm aus Afrika. Denn Didier Awadi rappt nicht nur über die „Migranten“, wie er sie nennt, er rechnet in seinem – nun auch mit deutschen Untertiteln erschienenem Dokumentarfilm „Le Point de Vue de Lion“ – mit der Migrationspolitik aus afrikanischer Sicht ab. Analysiert vom „Standpunkt des Löwen“ aus.

„Wenn die westlichen Länder sagen: ,bleibt doch lieber in Afrika, wir können nicht alle Armen und Gestrauchelten aufnehmen‘, dann muss man erst einmal verstehen, welche Prozesse die Misere in diesem Teil der Welt bedingen“, so seine Überzeugung.

Über Didier Awadis breites Gesicht rinnen Schweißbäche. Er zündet sich eine Zigarette an und lässt langsam den Blick von der Dachterrasse seiner Sankara-Studios über das Univiertel von Dakar schweifen. Seit 1989 hat Awadi – mit Positive Black Soul und später solo – einige der wichtigsten Platten des westafrikanischen HipHop aufgenommen wie „Un Autre Monde Est Possible“ (Eine andere Welt ist möglich). Heute betreibt er außerdem noch einen Musikverlag, organisiert eine Vielzahl von Konzerten, ein jährliches Filmfestival und HipHop-Konferenzen von Kapstadt bis Casablanca.

Das größte westliche Majorlabel hat sein Potential – und das von heimischem HipHop – erkannt und verhandelt mit Awadi gerade über die Gründung des Ablegers Universal Africa.

Doch am liebsten redet er freilich über: Migration. Warum die Jugend ihre Hoffnung verloren hat, warum allein 60.000 Senegalesen in den letzten 10 Jahren bei der Überfahrt ertrinken mussten. „Es gab immer wieder afrikanische Politiker, die Alternativen entwickelten, die die Menschen mit Stolz erfüllten“, sagt Awadi. „Aber der Westen unterstützt bis heute lieber korrupte Typen, die für ein bisschen Taschengeld nach seiner Pfeife tanzen.“

Er zeigt jetzt auf das lebhaft bunte, mühelos die ganze Wand füllende Graffiti hinter sich: Es zeigt Thomas Sankara, den Ex-Präsidenten Burkina Fasos, der mit seinen sozialistischen Visionen die ehemalige Kolonialmacht Frankreich herausgefordert hatte, und schließlich 1987 ermordet wurde.

Awadi hat Sankara und anderen Präsidenten wie Kwame Nkrumah, Nelson Mandela oder Julius Nyerere Songs gewidmet: „Ich will den Jugendlichen afrikanische Idole zeigen. Die Möglichkeit, vor Ort etwas zu ändern.“

Im Senegal, sagt Didier Awadi, gäbe es zwar so etwas wie eine Demokratie. Doch das hindere die jeweiligen Machthaber nicht im Geringsten an Vetternwirtschaft und kompletter Ignoranz der Bedürfnisse der Bevölkerung. Nach jeder Wahl aufs Neue. „Europa kommuniziert nur mit der reichen Elite. Aber die hat mit unserer Lebenswirklichkeit kaum etwas zu tun“.

Nicht umsonst bekämen die senegalesischen Rapper mehr Respekt als die Politiker: „Wer erzählte sonst von den gebrochenen Wahlversprechen? Wer berichtete der Welt, dass die senegalesischen Fischer nichts mehr fangen, weil europäische Trawler das Meer vor ihrer Küste leerfischen? Wer würde das Recht auf Jobs, auf Mitbestimmung, auf Reisefreiheit einfordern?“

Rapper seien vor allem kritische Kommentatoren. Mit einer Botschaft, die sich auch an die Europäer richte. Er befürworte nicht, sagt Awadi, dass so viele Landsleute auf winzigen Nussschalen über den Atlantik übersetzten. „Aber der Westen verlangt von uns freie Märkte, überschwemmt uns dann mit seinen Lebensmittelüberschüssen und zerstört so die Landwirtschaft vor Ort. Am Ende bleibt uns nichts, um eine Zukunft zu gestalten, um unsere Familien zu ernähren. Die meisten Migranten folgen doch nur dem Strom des Geldes“.

HipHop hat hier – anders als in Questloves Amerika – noch eine Aufgabe: Die Stimmen der Ungehörten hörbar zu machen. Politisch pointiert. Laut wie Löwengebrüll.

JONATHAN FISCHER

Die Welt 19.1.2015

Malis Schatz – Das Land am Niger ist arm, aber reich an Musik. Ein Festival soll nun Touristen zurückbringen, trotz Sicherheitsbedenken

Wir haben nicht viel Geld, keine Industrie, kein Erdöl“, hat der malische Sänger und Geschichtenerzähler Bassekou Kouyate einmal gesagt, „aber wir haben unsere Musik. Das ist unser wahrer Schatz. Früher haben die wenigsten unser Land auf der Karte gefunden. Heute wollen Menschen aus der ganzen Welt wissen, wer wir Malier sind“, so Kouyate.

  Die musikalische Ausstrahlung Malis: Man könnte sie allein an der Zahl der Reisen messen, die westliche Popstars in eines der ärmsten Länder Afrikas buchen. Auf der Suche nach uralten Klängen – und Inspiration für den Sound von morgen. Led Zeppelin -Veteran Robert Plant sowie Brit-Rocker Damon Albarn kommen bereits seit über einem Jahrzehnt zum Jammen an den Niger. Kollegen und Touristen folgten ihnen. Mali, so schien es, würde eine große Zukunft in seinen Musikfestivals haben. Noch im Januar 2012 improvisierte U2 -Frontmann Bono in den Sandbühnen nördlich von Timbuktu zusammen mit Tuareg-Nomaden einen Song über den Frieden. Es sollte die bisher letzte Ausgabe des legendären „Festival au Désert“ bleiben. Nur wenige Wochen später fegte ein Bürgerkrieg durchs Land. Tuareg, die für einen eigenen Staat kämpften, besetzten den Norden Malis, um danach von ihren einstigen islamistischen Verbündeten verdrängt zu werden. Am Ende stand halb Mali unter der Scharia, der islamischen Rechtsprechung. Und auch eine über Jahrtausende lebendig gebliebene Musiktradition drohte unterzugehen.

  Die Islamisten ließen Radio, Fernsehen, Tanz und Unterhaltungsmusik verbieten. Sie belegten Musiker mit Todesdrohungen, verbrannten deren Instrumente. Die Folge war eine Fluchtwelle aus dem besetzten Norden in den Süden. Der Tourismus kam im ganzen Land zum Erliegen. Hotelangestellte, Handwerker, Fremdenführer standen plötzlich ohne Arbeit da. Musikern, die nicht nur von traditionellen Hochzeiten lebten, brachen wichtige Auftrittsmöglichkeiten weg. Zwar dauerte der Spuk gerade mal ein knappes Jahr – dem französischen Militär gelang es bereits Anfang 2012, die Islamisten aus Städten wie Timbuktu und Gao wieder zu vertreiben. Doch die Auswirkungen sind bis heute spürbar. Die Islamisten haben nicht nur die technische Ausrüstung des „Festival au Désert“ zerstört. Ihr Eroberungszug nährte auch das alte Misstrauen zwischen Norden und Süden, vertiefte die politischen Gräben zwischen Tuareg und Zentralregierung. Ausländer können den Norden des Landes bis heute nicht gefahrlos bereisen; auch 2015 wird keine Live-Musik über die Sanddünen um Timbuktu schallen.

  Viele der Bands, die dort einst eine Heimat fanden, können nun allerdings ein paar Hundert Kilometer weiter südlich auftreten: beim „Festival sur le Niger“. Das zweite große Musikfestival Malis wagt in diesem Februar eine Neuauflage, in Ségou, einer verschlafenen Stadt, in der alte Lehmbauten stehen, Eselsgespanne durch Magnolienalleen ziehen und bemalte Holzpirogen am Ufer des Niger liegen. Traditionelle Tänzer werden kommen, bildende Künstler und Theatermacher ebenso wie die besten heimischen Musiker. Spektakulär ist der Auftrittsort am Niger: Eine der Bühnen ist auf Pontons im Strom verankert. Es gibt keinen romantischeren Ort, um der Musik von Amadou & Mariam, Cheick Tidiane Seck oder Bassekou Kouyaté zu lauschen, den Blick auf die Fluten, während es nach gegrilltem Fisch duftet, fliegende Händler geröstete Erdnüsse anbieten und Touristen wie Einheimische im Ufersand tanzen. „Wir wollen zeigen, welche große kulturelle Vielfalt Mali besitzt“, sagt Festival-Direktor Mamou Daffé, „und wie diese zum Frieden und zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes beitragen kann.“ Der Niger sei mehr als Wasser. Die Völker der Tuareg, Bambara, Peul, Mandinka, Wassoulou oder Bo hätten zwar alle eigene Sprachen, Kulturen und religiöse Traditionen, doch über den Fluss habe man sich seit jeher ausgetauscht. Musik sei dabei stets der Kitt gewesen. „Mit ihr steht und fällt das Selbstbewusstsein Malis.“

  Im vergangenen Jahr gab es eine Generalprobe. Nachdem das „Festival sur le Niger“ zwei Jahre lang kriegsbedingt pausiert hatte, wollen die Veranstalter nun zeigen, dass man sicher zu ihnen reisen kann, dass die Malier wieder gemeinsam feiern und tanzen, egal welcher Ethnie sie angehören. Und dass Mali ein muslimisch geprägtes und zugleich tolerantes Land ist. Das Festival lässt neben überlieferten Griot-Gesängen auch die jungen Rapper zu Wort kommen, die die Moped-Jugend der Stadt vor ihrer Bühne zu rebellischen Refrains gegen Arbeitslosigkeit und Korruption animieren. Die frivolen, teils als Frauen verkleideten Bambara-Tänzer wecken Assoziationen an die Love Parade, während weiß gekleidete Fischerfrauen bei einer Prozession mit Booten auf dem Niger die Flussgötter ansingen. Alle mischen sich auf dem Markt um das Festivalgelände: Tuareg in indigofarbenen Turbanen verkaufen ihren traditionellen, handgeschmiedeten Silberschmuck, Peul mit Schilfhüten ihre Ngoni-Lauten und Bambara-Händler die typischen Lehmdruck-Stoffe.

  „Wir lassen uns nicht spalten“, sagt Direktor Mamou Daffé. „Hier können sich die Menschen aus dem Süden und dem Norden begegnen, über ihre Wunden und ihre Hoffnungen reden und singen.“ Zwar sagt niemand öffentlich, dass das Festival ein Zeichen gegen den religiösen Fundamentalismus setzen will, doch schon der Austragungsort hat symbolische Bedeutung. Bereits 1818 und 1861 war das animistische Bambara-Königreich mit der Hauptstadt Ségou von islamischen Fula-Kriegern überrannt worden, die vorübergehend Tanz, Tabak und Alkohol verboten. So ist die Solidarität mit den ins Exil getriebenen Tuareg aus dem Norden verständlich. Sie haben als „Caravane pour la Paix“ einen eigenen Abend beim Festival. Auch wenn die Takamba Super Onze aus Gao oder die Tuareg-Rockband Amanar aus Kidal in ihren Heimatstädten immer noch nicht auftreten können, gelten ihre Fusionen aus Funk, Latin und Traditionsrhythmen in Hipster-Kreisen als Geheimtipp. „Wir haben unsere Kultur immer hochgehalten“, sagt Amanar-Gitarrist Ahmed Ag Khaedi, der seine von den Islamisten verbrannten Instrumente Stück für Stück ersetzen musste. „Nachdem sie unsere Songs als Weisen des Teufels verbannten, schätzen wir ihren Wert noch mehr als zuvor. Musik ist unser Tor zur Welt.“

  Doch welche Schwierigkeiten bereitet es, in einem an den Kriegsfolgen leidenden Land ein Musikfestival dieser Größenordnung auf die Beine zu stellen, in einer Kleinstadt, vier Stunden staubige Busfahrt von Malis Metropole Bamako entfernt? Am meisten Energie habe man darauf verwendet, das Festival für die Besucher so sicher wie möglich zu machen, erklärt Festival-Sprecher Attaher Maiga. „Die Malier sind doch am meisten daran interessiert, Touristen zurück ins Land zu holen.“  Den Gästen stehen einige bescheidene Hotels und Herbergen zur Verfügung. Außerdem gibt es Kabinen auf einem Flussschiff. Oder ein voll eingerichtetes Beduinenzelt auf einem Campingplatz. „Darüber hinaus“, sagt Maiga, „haben wir eine Liste heimischer Familien, die Gäste aufnehmen.“ Das wäre die Chance, mit den Maliern nicht nur die Musik, sondern auch ihren Alltag zu teilen. Was auf so gut wie dasselbe hinausläuft.

JONATHAN FISCHER

SZ 8.6.2015

Die Erforschung der Trance – Von Dresden nach Afrika und Brooklyn: Johannes Schleiermacher gehört zu einer Generation Musiker, die keine Grenzen kennen

 

Musik ist ein Fluss. Wer in ihn eintauchen, mit der Strömung zu neuen Ufern treiben will, den behindern große Gesten nur. Entsprechend unprätentiös fängt auch dieses Konzert an: Der Vorab-DJ im „Import/Export“ hat sein letztes Stück noch gar nicht runtergefahren,als die sechs Musiker der Malcoun s wie zufällig die Bühne betreten, mit einstimmen, um dann einen so unaufgeregten Afrobeat-Teppich auszubreiten. Da fegen orientalische Cluster und Viertelton-Kaskaden durch die kalte Kasernenhalle im Norden Münchens, als ob jemand ein Gebläse eingeschaltet hätte. Jacken landen auf dem Boden. Unmöglich zu bestimmen, ob das nun alt wie Afrika oder neu wie der letzte Breakbeat tönt.

„Mir geht es nicht um Technik“, erklärt Saxofonist Johannes Schleiermacher, der auf der Bühne nebenbei auch an den Knöpfchen eines alten MS20-Synthesizers dreht. „Sondern um einen Zustand, in dem nur noch die Intuition zählt“. Trance-Forschung statt Traditionspflege: Schleiermacher verkörpert die produktiven Inselbegabungen einer weltweit bewunderten deutschen Afro-Jazz-Funk-Szene. Die jungen Musiker, die in Bands aus München ( Express Brass Band , Boogoos, Karl Hector & The Malcouns ) und Berlin ( Polyversal Souls, Onom Agemo, Woima Collective ) spielen, betrachten den Jazz dabei weniger als Rahmen, sondern als Startrampe ins Ungewisse. Im ständigen Balance-Akt zwischen Groove und Experiment dehnen sie Grenzen aus, saugen sie äthiopische, marokkanische und westafrikanische Einflüsse auf, und mischen sie mit der Do-it-yourself-Attitüde des frühen Hip-Hop neu auf.

Wenn der englische Kulturkritiker Paul Gilroy vom Open Source-Charakter schwarzer Kulturen spricht, dann pressen Schleiermacher und Kollegen aus dieser Theorie unerhörte Musik: „Wir sind ständig unterwegs: Weil wir gemerkt haben, dass afrikanische Musiker den Austausch suchen. Und am Ende alle davon profitieren“. Mal rufe ein Begleit-Job für Afrobeat-Veteranen auf Clubtour, mal ein Auslands-Projekt des Goethe-Instituts, mal Aufnahmen mit marokkanischen Freunden. Schleiermacher lebt einen polyglotten Rucksack-Tourismus. Daheim ist, wo ein neuer aufregender Rhythmus entsteht.

Dabei haben die jungen Globetrotter durchaus deutsche Vorbilder: Etwa die Münchner Ethno-Pioniere Embryo , die seit den Sechzigerjahren um die Welt reisen, um in abgelegenen Gegenden mit einheimischen Musikern zu jammen. Den kreiselnden Krautrock von Can . Analog scheppernden Funk, wie ihn Jan Weissenfeldt und sein Bruder Max Anfang der Neunzigerjahre mit den Poets of Rhythm weltweit popularisierten.

Johannes Schleiermacher erste Inspiration kam vom Lieblings-Jazzers des eigenen Vaters: „Er hatte daheim ein ganzes Regalfach mit Gunter Hampel-Platten. Und irgendwann begann ich – neben Miles Davis oder John Coltrane – seine Musik auszuchecken.“ Dass Hampel 1964 die erste deutsche Free Jazz Platte einspielte, in New York mit Archie Shepp und Marion Brown arbeitete, der Kompromisslosigkeit zuliebe sein eigenes Label Birth Records gründete und zwischen Hardbop-, Punk- und zuletzt sogar Hip-Hop-Experimenten stets am Puls der Zeit blieb – das alles ahnte Schleiermacher da noch nicht.

Aber er spürte in Hampels Musik: Die Freiheit und damit den Drang, weit über das heimische Porsdorf bei Dresden hinaus nach Quellen zu suchen. Schleiermacher schloss sich in Dresden einer Big Band an, schrieb sich an der Hans-Eisler-Hochschule für Jazz in Berlin ein, und kam dann über einen Workshop an Gunter Hampel. Der nahm den jungen Saxofonisten spontan in seine Band auf. „Gunter machte völlig freie Musik aus dem Bauch heraus – diese Anarchie gefiel mir“.

Später sollten ihm zwei junge Kollegen noch einmal die Weichen stellen: Max und Jan Weissenfeldt hatten Schleiermacher wegen eines Ausfalls in ihrer Band Poets of Rhythm angeheuert. „Durch sie kam ich erstmals mit äthiopischen Tonleitern, marokkanischen und westafrikanischen Rhythmen in Kontakt – all dem Stoff, den Max auf seinen Reisen mit Embryo kennengelernt hatte“.

Als Saxofonist hatte Schleiermacher sich längst von klassischen Reinheitsvorstellungen gelöst. Er liebte einen dreckig-aufreizenden Ton. Nun öffnete sich ihm eine Welt „aufregender Andersartigkeit“. Und so trat er diesem Orden der Ethno-Jazz-Nomaden bei. Während Max Weissenfeldt mit ghanaischen Trommlern am Hof des Ashanti-Königs auftrat und als Lieblings-Drummer von Black Keys -Kopf Dan Auerbach die letzten Alben von Dr. John bis Lana Del Rey rhythmisch aufmotzte, während Bruder Jan Afrobeat-Legende Ebo Taylor und sambische Rockbands begleitete, machte sich Schleiermacher nach Marokko auf. Dort improvisierte er mit Gnawa-Musikern und Sufi-Orchestern, fühlte sich hinein in eine Musik, die keine Höhepunkte, sondern nur ein unermüdliches Kreisen kannte.

Irgendwann wollte er mehr. Er reiste mit seiner Band Onom Agemo And The Disco Jumpers und einem Vierspur-Kassettenrekorder an, probte eine Woche mit den marokkanischen Freunden, und trat schließlich mit einer Art Berber-Disco-Fusion in einem örtlichen Kulturhaus auf. Das resultierende Album erscheint im Februar.

Sein anderes afrikanisches Projekt nennt sich Woima Collective . Woima wie die guineische Zeremonien-Musik. Dabei wirft Schleiermacher auch äthiopischen Jazz, Funk und die Eindrücke eines Westafrika-Aufenthalts in den Mix. Drei Monate lang war er mit der Bandkollegin Marja Burchardt unterwegs: Sie begleiteten eine Gruppe Sabar-Trommler durch die Clubs von Dakar, lebten in einem Musiker-Kollektiv in Bamako und wurden in Conakry von einer Restaurant-Band angeheuert. Offiziell und gegen Gage.

Was er von der Reise mitgenommen habe? „Die langen Melodiebögen und die rhythmische Phrasierung der Griot-Gesänge haben mein Saxofonspiel geprägt. Und dann diese Offenheit!“ Schleiermacher reißt die Augen auf, holt zu seiner Lieblings-Geschichte aus: Da war dieser Bus-Ausflug in einen Vorort von Bamako, wo er, des Französischen kaum mächtig, dem erstbesten Passanten mit Händen und Füßen zu erklären versuchte, dass er gekommen sei, um Musik zu machen.

„Er bedeutete mir mich hinzusetzen und zu warten, brachte mir einen Tee. Stunden später holte er bei einem seiner Freunde eine traditionelle Laute oder Ngoni, suchte einen schattigen Baum und ließ mich mein Saxofon einstimmen. Wir brauchten eine Weile um uns zu finden. Nichtsdestotrotz versammelten sich immer mehr Leute, fingen an zu klatschen, zu tanzen und zu singen. Wir spielten bis zur Erschöpfung.“

Weil es zu spät war, nach Bamako zurückzukehren, habe ihn sein neuer Freund zum Essen eingeladen und ein Zelt unter dem Baum gebaut. Sein Instrument ließ er draußen stehen. „Als ich mich hinlegte, fing der Wind an, Obertonmelodien auf den Saiten der Ngoni zu blasen“. Eine Magie des Geschehenlassens, die den Woima Collective-Song „Lassa“ inspirierte – und Schleiermacher einen ganz neuen lyrischen Atem bescherte.

„Frou Frou Rokko“ ist das zweite Album des elfköpfigen Berliner Ensembles, in dem unter anderem die beiden Malcouns-Kollegen Jan Weissenfeldt und Thomas Myland Schleiermachers Kompositionen umsetzen. Rhythmische Endlosschleifen, punktiert von orgelnden Adrenalin-Attacken und low-end Bässen, über die das Saxofon lange Improvisationslinien legt. Und bisweilen kippt der Afro-Funk gar ins Atonale. „Als ob sich Sun Ra einen afrikanischen Bläsersatz geholt hätte“, schwärmte ein amerikanisches Webzine. Man muss hinzufügen: Und eine Rhythmusgruppe, die den Funk meistert. Denn wenn die Malcouns und Woima Collective inzwischen auch Teil einer weltweiten Szene sind, die Budos Band in Brooklyn, die Heliocentrics in London oder die australischen Shaolin Afronauts ihr Konzept kopieren, kann es niemand mit ihrer Dynamik aufnehmen.

Ja, sagt Schleiermacher, „Tony Allens Geist schwebt über uns“. Als der Schlagzeuger des Woima Collective vor einem Auftritt bei einem holländischen Jazzfestival erkrankte, bestand der nigerianische Afrobeat-Pate darauf, bei den jungen Berlinern auszuhelfen. Genauer: Sie butterweich in Trance zu treiben. Danach, sagt Schleiermacher, wusste er wieder, was einem eine Jazz-Hochschule nicht beibringen kann. Und warum er immer wieder in den Fluss unerhörter Rhythmen und Skalen eintauchen muss. Demnächst bricht sein Woima-Collective wieder auf. Zur Fortbildung nach Äthiopien.

JONATHAN FISCHER

SZ 9.1.2015

Komm wieder, Black Power! In Zeiten von Ferguson beschwört das neue Album von D’Angelo die heroische Politik des Soul

Wo sind nur die Soul-Rebellen geblieben? War es nicht einst das leidenschaftliche Aufbäumen gegen die Regeln einer affirmativen Popkultur, dem wir solche düster funkelnde Meisterwerke wie Sly Stones „There’s A Riot Going On“, Marvin Gayes „What’s Going On“ oder auch Gil Scott-Herons „Reflections“ verdanken? Nein, die Krise des zeitgenösssischen Rhythm’n Blues hat nichts mit mangelnder musikalischer Innovation zu tun. Das Genre spielt mit der modernsten Studiotechnik, hat die besten Musiker und raffiniertesten Produzenten. Generiert Welthits wie „Happy“. Bringt südkoreanische Studenten bis zu senegalesischen Straßenverkäufern auf die Beine, hat gelernt seinen Hedonismus wie Sneaker und Soft-Drinks zu verkaufen. Und das ist auch in Ordnung so. Perfekte Party-Dienstleistung ist nun mal der Job der Musikindustrie. Einerseits. Andererseits: Rhythm’n Blues Sänger mit Sendungsbewusstsein haben es schwer. Weil sich im schwarzen Pop das Sexuelle längst vom Spirituellen gelöst hat. Die allumarmende Ekstase des Gospel einem autoerotischen Strebertum gewichen ist. Beyoncé tanzt sich super. Aber ihre Musik hilft niemandem, angesichts von Rassismus, gekürzten Sozialleistungen und Polizeigewalt in Ferguson und anderswo den Kopf hochzuhalten. Oder gar dem Wut-und-Zärtlichkeits-Gemisch im eigenen Bauch politischen Ausdruck zu verleihen.

Genau das schafft nun einer, der eigentlich schon längst abgeschrieben war: Michael Eugene Archer alias D’Angelo. „Black Messiah“ heißt das neue Album des 40-jährigen Sängers . Und wenn sein Werk bereits jetzt Soulgeschichte schreibt, dann nicht wegen irgendwelcher Sound-Gimmicks – alles ist altmodisch analog aufgenommen – oder der Virtuosität der Musiker. Sondern wegen seiner, genau: Mission. Der Suche nach dem verlorenen Kern schwarzer Musik. Man darf sich D’Angelo und seine Mit-Produzenten, unter anderem der Jazz-Trompeter Roy Hargrove und Ahmir Questlove Thompson – Kopf der weltbesten HipHop-Band The Roots – wie Minenarbeiter vorstellen, die in lange verlassene Stollen eindringen, hier und da Probe bohren und dabei wertvolle Rohstoffe einsammeln: Al Greens Liebesflehen, die psychedelische Rockgitarren von Funkadelic, ein Jazz-Funk-Piano oder das dunkle, rhythmische Fußstampfen eines Sklaven-Gottesdienstes. Was sie daraus machen aber ist etwas sehr eigenes: Die ultratiefen Basslinien ziehen den Hörer sofort und unwiderstehlich in ihr Gravitationsfeld. Leicht verschleppte Beats und harte Schläge auf den Beckenrand bringen ein Schlingern ins Spiel, das seit J Dilla zu den Qualitäten besserer HipHop-Produktionen gehört, und als Unschärfe und zeitliche Zerdehnung bereits den frühen Brassbands aus New Orleans ihren typischen Swing bescherte. Die butterweichen Riffs, Groove-besoffenen Keyboards und Gitarren wanken und stolzieren dem Hörer wie lang vergessene Liebhaber entgegen. Musik also, die jede Menge Geschichte im Rücken hat und doch ganz frisch klingt? Eben. Soulmusik. Das überflüssige Neo lassen wir mal weg.

 

Vierzehn Jahre lang hatte die Welt auf dieses, D’Angelos drittes Album gewartet, vierzehn Jahre lang hatte die Schaffenspause des Sängers auch die Sinn-Krise seines Genres verkörpert. 1995 machte der Mann erstmals Schlagzeilen: Sein Debut „Brown Sugar“ fiel wie Manna in eine Wüste musikalischer Banalitäten. Der Nachfolger „Voodoo“ arbeitete die hypnotische Kraft von D’Angelos Gesang noch intensiver heraus, ließ seinen Produzenten Questlove von dessen „Sensibilität“ schwärmen, und der „offensichtlichen Fähigkeit zu erkennen, was die beste Soulmusik ausmacht“. Zu dumm nur, dass sein Publikum D’Angelo auf seinen Körper reduzierte: Er hatte mit dem Video seines Nummer-Eins-Hit „Untitled“ selbst dazu beigetragen – es zeigte den Sänger halbnackt, als muskelbepackten, schweißnassen Pin-Up-Boy, eine falsche Fährte, die dem Sänger schließlich zum Verhängnis wurde. Auf seinen Konzerten fielen schlüpfrige Zurufe. Er aber wollte als Musiker geliebt werden, nicht als Sex-Symbol. Der Absturz war programmiert: Drogen, Alkohol, Schreibblockaden, viele angekündigte und wieder verworfene Alben. Letztlich waren es wohl auch die Erwartungen an den „Retter des Soul“, die D’Angelo überforderten. Und nun ein Titel wie „Black Messiah“. Wie größenwahnsinnig und egomanisch – denkt man. D’Angelo aber schreibt in den Liner Notes, „Black Messiah“ beziehe sich nicht auf ihn selbst sondern auf „eine Idee, der wir alle nachfolgen können. Wir sollten alle anstreben, ein Messias zu sein. Es geht um die Menschen, die in Ferguson, in Ägypten oder bei Occupy Wall Street aufstehen, und an jedem anderen Ort, an dem eine Gemeinschaft genug hat und für einen Wechsel kämpft.“

Das klingt wie eine uralte Gospel-Botschaft – auf HipHop-Temperatur heruntergekühlt. Gereckte schwarze Fäuste zieren das Album-Cover. Black Panther-Reminiszenz oder nicht: Als der Traum der Bürgerrechtsbewegung im Rauch brennender Ghettos aufging, fing auch der Soul Feuer. Man wollte nicht mehr gefallen. Sondern spiegelte zunehmend – wie Sly Stone mit seinem 1971er „There’s A Riot Going On“ oder Curtis Mayfields „We People Who Are Darker Than Blue“ (das D’Angelo samplet) – die gesellschaftliche Paranoia und Desillusionierung. Kein Zufall also, wenn D’Angelo heute an genau diesen Klassikern gemessen wird. Denn er ist einer der wenigen, die den gesellschaftlichen Klimawandel seit Nine-Eleven, die zerborstenen Ideale der noch im Jahre 2000 vom „Aquarian Age“ schwärmenden Brooklyn-Bohemiens, in atmosphärisch dichte Songs zu gießen vermag. Songs wie „Charade“, wo ein Prince-eskes Riff auf den neuen Realismus trifft: „All we wanted was a chance to talk/ Instead we only got outlined in chalk“. Wir wollten gehört werden und endeten als Kreideumrisse. „1000 Deaths“ eröffnet mit einer Rede über Jesus als schwarzen Mann, die in unheilvoll drängende Bässe und Würge-Gitarren mündet. Und auch wenn D’Angelo sich zwischendurch als der alte Verführer inszeniert: Liebe, Sex und gesellschaftlicher Kommentar erscheinen hier als Kontinuum. Nach den Ereignissen von Ferguson entschied sich der Soulsänger, das Album ein halbes Jahr früher als geplant auf den Markt zu werfen. Um ein Zeichen zu setzen. „Black Messiah“ allerdings steht über jeder Tagespolitik. Weil das Album ein Versprechen einlöst, das der Soul in seinen besten Momenten schon immer gegeben hat. JONATHAN FISCHER

(ungekürzte Fassung)

FAZ, 31.1.2014