Monatsarchiv: April 2019

Alles auf Rille! Kleine Musiklabels sind das Rückgrat des Vinyl-Booms – und die treibenden Kräfte hinter der ewigen Ausdehnung des Pop-Universums

Es gibt Musik, die zu wertvoll ist, um digital veröffentlicht zu werden. Diese Musik kann man nicht einfach als Sounddatei raushauen und sie mit Abermillionen anderen Sounddateien dem gedankenlosen Streaming-Konsum zuführen. So sieht das jedenfalls Tobias Kirmayer. Der 40-jährige aus FahTramp Movementsrenzhausen im Norden Münchens kümmert sich um das scheinbar Verlorene, Vergessene, vom Massenmarkt Verdrängte.

  Einen fanatischen Archivar könnte man ihn nennen. Oder auch einen Wiedergutmacher: Zumindest ein paar tausend Songs, deren Meisterschaft und Liebe einst kein Publikum fanden, hat er bereits ausgegraben und in Umlauf gebracht. Und das – natürlich – angemessen verpackt: „Vinyl“, sagt Kirmayer, blasses Gesicht, Jeans, Baseball-Kappe, im Kontrast zur Siebziger-Funkyness der von ihm gestalteten Albencover eine eher zurückhaltende Erscheinung, „strahlt eine andere Wertigkeit aus, nicht nur weil die Musik darauf wärmer und authentischer klingt. Menschen, die dieses Format hören, tun es nicht nebenbei. Wer 10 Euro für eine Vinyl-Single oder 20 Euro für eine LP ausgibt, interessiert sich eben auch für das Artwork, die Musiker und ihre Geschichte“.

  Im Zeitalter weitgehend kostenloser Streaming-Dienste ist das ein Luxus. Aber eben auch eine Art, sich mit einem Stück Musik sinnlich zu verbinden. Kirmayer zieht seine jüngsten Tramp-Records-LPs aus seiner Lacktasche: „Afro Blue Persuasion“, ein bisher unveröffentlichtes Album mit afrokubanischem Jazz aus den Sechzigern, der Sampler „Movements No 9“ mit 17 erstklassigen, aber nie gehörten alten Funk- und Soul-Songs. Und „Mesquite Suite“ von Lucky Brown: Ein zeitgenössisches in Seattle entstandenes Album, auf dem sich Afrobeat, Latin-Jazz und Funk auf ziemlich originelle Art verbinden.

  Die Zeichen für seine Firma stehen gut. Gerade hat die Recording Industry Association of America ihren Jahresbericht für 2018 vorgelegt: Mit Vinyl-Verkäufen wurde so viel Geld verdient, wie schon seit 30 Jahren nicht mehr. Es kann gut sein, dass die Vinyl-Platte bald die CD als bevorzugter physischer Tonträger ablöst. Das mag ein Boom auf niedrigem Niveau sein, aber auch ein unverhofftes Comeback.

  „Solange ich Käufer finde“, sagt Kirmayer, „wird mein Medium die Schallplatte sein.“ In vielerlei Hinsicht ist er als Ein-Mann-Plattenfirma eine typische Figur des neuen Vinyl-Marktes. Hunderte von Labels in Amerika und Westeuropa funktionieren wie Tramp Records. Gegründet von Liebhabern für Liebhaber, um Musik aus den Archiven ehemaliger Radiostationen und aufgelöster Studios, Pappkartonfunde bei Musikern, Sammlern und Produzenten oder auch interessante bis nischige Neueinspielungen für alle zugänglich zu machen. Bei Kirmayer hatte es mit einer Single der Münchner Poets of Rhythm angefangen: „Als mir der Bandleader eine Kassette mit unveröffentlichten Songs überließ, suchte ich mir zwei davon für eine Single aus. Ich hatte weder von Verkaufskalkulation noch Vertrieb eine Ahnung. Also trug ich die frisch gepressten Vinylscheiben selbst in die Läden.“ Was Kirmayer an Professionalität fehlte, das machte er mit Missionsdrang wett. Damals schrieb er noch „Funk von 67 bis 71“ auf die Flyer seiner DJ-Abende. Dumm nur, dass viele der 500-Euro-Single-Raritäten in den klimatisierten Sammlungen irgendwelcher Snobs verkümmerten. Was, wenn er sie legal vervielfältigen und seine Begeisterung mit anderen teilen könnte?

  „Die Geschichten Gescheiterter sind spannender als der Erfolg“, sagt Kirmayer und nippt in einem Café im Münchner Gärtnerplatzviertel an einer Maracuja-Schorle: „Ich will von den Musikern erzählen, die nie einen Hit landeten. Deren Mittel vielleicht gerade für diese eine Platte reichten.“ So veröffentlichte Tramp Records vor fünf Jahren ein fantastisches aber seit 1978 in den Regalen wechselnder Majorlabels verstaubendes Modern-Soul-Album von Jesse Morgan. Der Sänger war längst nicht mehr im Geschäft. Doch Kirmeyer machte ihn wie so viele andere vergessene Soulhelden ausfindig. Telefonbücher, soziale Netzwerke und Hinweise auf Studios, Produzenten, Labels, Schrifttypen, die er den Originalplatten entnimmt, halfen ihm dabei. Manchmal schreibt Kirmeyer sogar Briefe. Weil die Musiker noch zu den Generationen ohne Internet-Anschluss gehören.

  „In der Regel sind die Adressaten total von den Socken, dass ich ihre Musik überhaupt kenne: Singles, die sie in einer Auflage von 500 Stück gepresst und aus dem Kofferraum verkauft hatten.“ Geld spiele meistens nur eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger sei den Musikern, die wiederveröffentlichte Platte in der Hand zu halten, im Booklet gewürdigt zu werden, das Gefühl zu haben, dass ihr Song ein zweites Leben bekommt. „Diese Freude motiviert mich.“ Es ist, sagt Kirmayer, als ob er ein bisschen die Geschichte umschreiben dürfte. Meist schickten die Veteranen bereitwillig coole Fotos und erzählten von ihren Träumen, die sie mit der – einst ziemlich kostenaufwendigen – Plattenaufnahme verbanden. So wie Jesse Morgan, für den Kirmayer eigens nach Los Angeles flog. „Ich mache da Urlaub, wo ich Musik finde. Anders kann ich mir die Suche nicht leisten.“ Ähnlich arbeiten auch andere Liebhaber-Labels in Deutschland. Etwa Analog Africa, eine in Frankfurt ansässige aber weltweite renommierte Reissue-Plattform für die Schätze afrikanischer und afrikanisch beeinflusster Musikkulturen.

  „Allein die Recherchen“, sagt Analog Africa-Gründer Samy Ben Redjeb, „für einen neuen Sampler dauern oft mehrere Jahre. Um all die alten Bänder aufzutreiben. Die Musiker zu finden. Und alles offiziell zu lizensieren.“ Eine Vorgehensweise, die wirtschaftlich gesehen an Selbstausbeutung grenzt. Und doch geht es Redjeb, einem deutsch-tunesischen Journalisten, DJ und manischem Sammler um etwas sehr viel schwerer Greifbares: Die Aura der alten Platten. Das Hochgefühl, das ihre Musik auslöst, auch bei Menschen, die sie zum ersten mal hören. Und das ganze sinnliche Drumherum. Deshalb die Vinyl-Veröffentlichungen. Deshalb die mit viel Liebe zum historischen und grafischen Detail gestalteten Cover. Deshalb buchdicke Booklets, in denen Redjeb die Geschichte der Musiker nebst Anekdoten der eigenen Schatzsuche erzählt. So hat er für eine Kompilation mit somalischem Siebzigerjahre-Funkzur No-Go-Zone heruntergekommene Mogadischu wochenlang mit bewaffneter Eskorte durchstreift, bis er in einem einstigen Elektroladen verschollen geglaubte Bänder entdeckte. In Benin schaltete er Radiospots, um einen Sänger zu finden. Andere Veteranen stöberte er in Polizeikapellen, als Hühnerbauern oder Manager eines örtlichen Bordells aus.

  Alles im Dienste westlicher Horizonterweiterung: Wer hätte ohne Analog Africa jemals von den wunderbaren Afro-Soulfusionen aus Angola, Zimbabwe, Kamerun oder Synthesizer-Folk von den Kapverden gehört? Redjebs Bestseller „African Scream Contest“ mit Voodoo-Funk aus Benin führte sogar zu einer Welttournee des eigentlich aufgelösten „Orchestre Poly-Rhythmo de Cotonou“ – und ist bisher über 20-mal nachgepresst worden.

  Wirtschaftlicher Erfolg motiviert jedoch kaum einem der DIY-Labelbetreiber. Viele arbeiten wie Kirmayer vom Wohnzimmer aus, lagern ihre Vinylbestände in der Garage, finanzieren sich über DJ-Jobs und Raritätenverkäufe auf Ebay. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen: Etwa Numero Records aus Chicago, 2003 vom Musikindustrieveteranen Ken Shipley und zwei Freunden gegründet mit dem Ziel, „das größte Wiederveröffentlichungs-Label der Welt“ zu werden. Ihre Box „Light On The Southside“, die dem schmutzigen Mittsiebziger Blues aus Chicago – mitsamt hundert großartiger Schwarz-Weiß-Fotos von Michel Abramson – ein Denkmal setzte wurde für einen Grammy nominiert, ebenso wie die ausführlich annotierte Werkschau der transsexuellen Soul-Chanteuse Jackie Shane, und das Boxset „Syl Johnson: The Complete Mythology“. Oder die Anthologie „Bobo Yeye: Belle Epoque in Upper Volta“ mit Musik aus dem kolonialen Obervolta. Selbst für Werkschauen untergegangener Hinterhof-Labels eröffnete Numero einen Markt, weil der Käufer das Gefühl hat, nicht nur ein paar Musikfiles erworben zu haben, sondern ein liebevoll kuratiertes Sammlerstück in Vinyl und dicker Pappe.

  „Unsere Kunden lieben die haptische Erfahrung“, sagt Shipley, der im Wissen, dass kaum ein Geschäft die gut 350 Veröffentlichungen seines Labels vorrätig haben kann, mit einem Pop-Up-Plattenladen auf Tour geht: „Wir sehen das als Türöffner. Wer einmal eine Numero-Platte gekauft hat, der geht meist auch eine gewisse Verbindung mit unserem Label ein.“

  Leisten kann sich Numero viele der obskureren Ausgaben weil es Rechte nicht nur lizensiert, sondern aufkauft. Dazu kommen gute Verbindungen zur Filmindustrie: So verhalf etwa das Hollywood-Drama „Blue Valentine“ einer Demo-Aufnahme von Penny & The Quarters aus einem Numero-Set zu unverhoffter Prominenz.

  Dass inzwischen auch bei Tramp Records etwas hängen bleibt, das verdankt der Firmenboss vor allem dem eigenen Durchhaltevermögen. Seine Rechnung: Bei einer Doppel-LP zahlt er für die übliche Auflage von 500 Stück 3500 Euro Materialkosten. Dazu kommen die Lizenzen: 18 Stücke kosten bei einem der Movement-Sampler zusammen durchschnittlich noch einmal 2500 Euro. Und weil Kirmayer die Grafik, die Booklet-Texte und alle Verwaltungsarbeiten selbst macht, kann er das fertige Vinyl dann für knapp 20 Euro im Laden verkaufen. Soweit er überhaupt Läden findet. Denn die großen Ketten und Medienmärkte verkaufen meist nur massenkompatible Vinyl-Reissues, also Neuauflagen von Alben von Led Zeppelin, Pink Floyd oder den Rolling Stones. Oder sie surfen auf der Vinyl-Welle indem sie auf CD veröffentlichte Bestseller von Amy Winehouse nachträglich in Rille pressen. Dabei macht gerade die Masse an kleinen Veröffentlichungen das Geschäft.

  Das beobachtet auch Christos Davidopoulos, Einkäufer des Vinyl-Spezialisten Optimal Records im Münchner Glockenbachviertel: „Es sind die Nischen, die den Zuwachs bringen.“ Seine Bestseller des vergangenen Jahres? Das waren unter anderem eine Wiederveröffentlichung des fabelhaften kongolesischen Gitarristen Dr. Nico durch ein belgisches Liebhaber-Label. Oder der Sampler „Hafla“: Ein DJ hatte orientalischen Siebziger-Pop für die Gäste eines Restaurants in Tel Aviv zusammengestellt – und seine Rest-Exemplare persönlich nach Deutschland gebracht.

  Tramp Records hat mit seinen rund 90 Veröffentlichungen seit 2003 ein eigenes Fach im Optimal-Laden. Neben Dutzenden Konkurrenten wie Light In The Attic, Vampi, Habibi Funk, Honest Jon‘s oder Soul Jazz Records. Davidopoulos bestellt so viel wie möglich direkt bei den Labels: „Es gibt im deutschsprachigen Bereich vielleich noch hundert Läden, die so arbeiten wie wir. Als Biotop können wir nur überleben wenn wir zusammenhalten. Deshalb vernetzen wir uns und versuchen unabhängig von den Großen zu werden.“ Die Großen: Das sind Vertriebe, die sich für Stückzahlen unter 100 nicht interessieren. Und Major Labels, die neue Vinyls, aktuell etwa von Ryuchi Sakamoto oder Paul Weller dem Händler zum Einkaufspreis von 28 oder 36 Euro anbieten: Diese Preispolitik könne man nicht mitmachen, sagt Davidopoulos. „Die Majors folgen nur dem Hype. Am Ende werden die kleinen Labels das Vinyl am Leben erhalten.“ Wie sieht er die Zukunft des Vinyls? „Es gibt einen kleinen aber beständig wachsenden Markt für Vinyl-Spezialitäten“, bestätigt Davidopoulos. CDs dagegen kaufe fast niemand mehr.

JONATHAN FISCHER

SZ 13.4.2019

Was das mit Liebe zu tun hat – Gewalttätiger Gatte, spätes Glück: Tina Turners Autobiografie „My Love Story“

tina and ike turnerDas Happy End kommt gleich zum Einstieg: 2013 hatte die 73-jährige Tina Turner ihren langjährigen Lebensgefährten Erwin Bach, einen deutschen Musikmanager, geheiratet – und die Hochzeit zu einem Märchenfest in ihrem Château vor den Toren Zürichs gestaltet. Weißer Rolls-Royce, Armani-Brautkleid und hundertvierzigtausend rote Rosen. Turners jüngste Autobiografie „My Love Story“, die zweite nach der 1986er-Lebensbeichte „I, Tina“, beleuchtet vor allem das späte Glück der Selfmade-Frau, zeigt, wie sie sich in einem Alter, in dem andere Show-Veteranen durch Baumärkte tingeln, noch einmal als „Private Dancer“ neu erfindet. Wie sie die Liebe ihres Lebens entdeckt. Einen Mann, der ihr am Ende gar eine Niere spendet.

  Umso krasser wirkt der Gegenschnitt auf ihre erste Ehe ein halbes Jahrhundert früher. Ihr damaliger Gatte in spe hatte Tina für eine Spontanhochzeit nach Tijuana gefahren. Ike, ein um die Geschichte des Rock ’n’ Roll verdienter Gitarrist und Bandleader der Kings of Rhythm, der sie als Frontfrau und Dressur-Girl rekrutiert hatte, schien von Romantik nicht viel zu halten. Heiraten wollte er sie vor allem, um nicht mehr Alimente an seine frühere Frau Lorraine zahlen zu müssen.

  Wer ist diese Frau, die sich so lange so unwidersprochen misshandeln ließ? Was verbindet das unglückliche Mädchen, den sexy Vamp, die Mutter, emanzipierte Powerfrau und Buddhistin? Am ehesten als Mensch spüren lässt sich Tina in ihren frühen Erinnerungen an die Zeit, in der sie noch Anna Mae Bullock hieß. Im Stich gelassen von ihren geschiedenen Eltern wuchs sie bei der Großmutter auf, besuchte in einem Kaff namens Nutbush, Tennessee, die Schule und schämte sich für ihre Lernschwäche: „Während mir vor lauter Tränen die Zahlen vor den Augen verschwammen, wurde ich vor all den anderen Kindern als Versager vorgeführt.“ Eine lieblose Kindheit.

  Man wüsste gerne mehr über dieses isolierte Mädchen, das sich in seine Tagträume flüchtet. Doch „My Love Story“ geht hier auf Schnellvorlauf: vom ersten Bühnenauftritt als Sängerin mit der eher ausdrucksstarken als schönen Stimme über das Leben zwischen Straße, Bühne und Motel als Hälfte der Ike-und-Tina-Turner-Show zum Selbstmordversuch, zur Scheidung in den späten 70er-Jahren und ihrer Neuerfindung als Grammy-gekrönter Solostar. Wer hoffte, von Tina Turner mehr über ihre damalige Musik, den Funk der „Nutbush City Limits“-Jahre, zu erfahren, wird enttäuscht.

  Dafür fügt sie dem Register von Ikes Missetaten einiges hinzu: etwa, dass der Gatte drei weitere Geliebte im ehelichen Haus unterhielt, die praktischerweise alle Ann hießen. „Manchmal schloss ich mit seinen Geliebten enge Freundschaft, denn wir saßen, auch wenn es merkwürdig klingt, letztlich im gleichen Boot: abhängig von Ike, ständig zu seiner Verfügung, von ihm beherrscht und von ihm misshandelt – wie die Angehörigen einer Sekte.“ Blaue Augen und Prellungen gehörten zum Alltag. Eine Widerrede, und Ike schlug Tina auf den Kopf. Allerdings lieber mit einem Schuhspanner als mit den Händen: „Für einen Gitarristen sind seine Hände wertvoller als alles andere, deshalb benutzte Ike in einem Kampf nie die Fäuste“, kommentiert Tina trocken.

  Wenn sie nach Ikes Schlägen die Notaufnahme aufsuchte, fragte kein Arzt, was passiert war. „Vermutlich glaubten sie, es sei normal, dass Schwarze sich auf diese Weise streiten, besonders Ehepaare.“ Nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung, die sich an einem Schokoriegel entzündet hatte – der ersten, in der Tina zurückschlug –, flüchtete sie aus dem Motel, in blutbefleckter Kleidung über eine Autobahn, mit nichts in der Tasche als einer Tankkreditkarte und 36 Cent.

  Auch nach der Scheidung verbreitet der Ex-Gatte Terror: Ike, später ein Idol mancher Gangster-Rapper, lässt seine Schläger das Anwesen in Los Angeles beschießen, auf dem Tina mit den gemeinsamen Söhnen Zuflucht gefunden hat. Dass Tina Turner es dennoch schaffte, nach vorne zu schauen, am Ende gar mitfühlend von Ikes „Dämonen“ redet: Da scheint große menschliche Stärke durch. Und verkörpert sie nicht für viele ihrer Fans ein feministisches Versprechen, dass Frauen aufstehen und den kleinen und großen Ike Turners dieser Welt die Stirn bieten können?

  Der längste Teil des Buches aber beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Tina Turner und Erwin Bach. Eine Liebe, der, bei allem Respekt, doch jeder Funken Rock ’n’ Roll abgeht. Das sesshaft gewordene Soul-Idol breitet also seine Einkaufszüge aus, erklärt die Wahl seiner Garderobe, streitet sich mit Erwin – er Minimalist, sie Sammlerin – über Innendekoration. Was ältere Paare manchmal so tun. Wenn sie nicht gerade über ihre Krankheiten reden: Es mag für Gala-Leser eine Sensation sein, hier zum ersten Mal von Tinas Schlaganfall, von ihrem Darmkrebs und schließlich ihrem Nierenversagen zu erfahren. Aber wer will ganze Kapitel über Krankheiten und Arztbesuche bis hin zur genauen Beschreibung einer Dialyse lesen? Und braucht es – nach Turners letztem Bühnenauftritt im Jahre 2009 – ein ganzes quälendes Schlusskapitel über ein Musical, das ihre Lebensgeschichte nachzeichnet?

  So sehr man im ersten Teil des Buches mit Tina Turner, der Überlebenskünstlerin, fiebert – hier hätte man sich einen strengen Lektor für die auf Interviews basierende und von der amerikanischen Bestseller-Autorin Deborah Davis und dem deutschen Journalisten Dominik Wichmann geschriebene Autobiografie gewünscht. Und ein wenig mehr Introspektion. Tinas Selbstmythologisierung bleibt oberflächlich: Sie kennt angeblich kein Diva-Gebaren, liebt ihre Fans über alles und hat dank buddhistischer Chant-Praxis Frieden mit ihrem Leben geschlossen.

  Die Überdosis Selbsthilfe-Lektüre (vom Dalai Lama bis Deepak Choprah) schlägt leider auch auf ihren Erzählstil durch. „Es ist möglich, Gift in Medizin zu verwandeln“, gibt sie dem Publikum 2017 mit, bei der Londoner Premiere von „Tina – The Tina Turner Musical“ (als „Simply The Best“ in den nächsten Monaten auch in Deutschland zu sehen). Die Rock ’n’ Roller werden sich dann doch an die andere Tina halten: das sexy Gift in Ikes Drug & Rock ’n’ Roll-Zirkus.

JONATHAN FISCHER

SZ 5.4.2019

Styler und Schweinepriester – Andre Williams hinterlässt mehr als nur ein paar Rhythm’n Blues-Klassiker

Wäre das Leben gerecht, dann hätte Andre Williams, der Mann, der Stevie Wonders erste Motown-Single produzierte, Bobby Blue Bland den Funk verpasste, mit Ike Turner im Studio kokste, und ganz nebenbei solche Rhythm’n’Blues-Klassiker wie „Shake Your Tailfeather“ , „Jailbait“ oder „Bacon Fat“ schrieb, längst eine gebührende Retrospektive erfahren. Keine einfache Best-Of-Zusammenstellung, sondern einen Zehn-CD-Schuber inklusive Goldschnitt-Buch. Mindestens. Als der in Alabama geborene Musiker vergangene Woche 82-jährig einem Krebsleiden erlag, hat die Welt viel mehr verloren als einen „schmutzigen alten Mann“, wie sich Williams selbst gern in Abgrenzung zum stubenmädchenhaft braven Love-Song-Mainstream bezeichnete. Nein, als Sänger sah er sich nie. Aber als Entertainer und Schweinepriester servierte er saftige kleine Geschichten. Andre Williams Singles der Fünfziger für das Detroiter Label Fortune Records gehören zwischen derangiertem Doo-Wop und schlüpfrigem Blues zum Wildesten, was jemals auf Vinyl gepresst wurde. Souverän über einen Beat bramarbasieren, in lakonischem Bariton von Keksen, Pussies und Schweineschnauzen palavern – das konnte er wie kein anderer. Etwa in „Jailbait“, dieser Mach-es-nicht-mit-Minderjährigen-oder geh-ins-Gefängnis-Moritat: „And now that it’s too late/ as you look from cell number eight/ I tried to tell yo old mate/ 17 and one-half is still jail bait“. Genauso exzentrisch: Seine halb gerappten, von Mitschnipp-Beats befeuerten Soulfood-Monologe wie „Pass The Biscuits Please“. Williams schien das alles beiläufig cool am Bartresen zu raunzen.

Auch wenn sich später Lux Interior von den Cramps, Frank Zappa oder Bootsy Collins als Fans outeten – Williams blieb (zumindest bis ihm „Shake A Tail Feather“ in Ray Charles „Blues Brothers“-Fassung ein Grundeinkommen sicherte) zu lange verkannt. Ein aus der Zeit gefallener Styler, der selbst ein Fastfood-Restaurant nie ohne Hut, Krawatte und gepflegten Dreiteiler betrat. Von seinen legendären Fortune-Singles verkaufte er nie mehr als ein paar hundert Stück. Heute muss man sie zum Glück nicht teuer auf Ebay kaufen, sondern kann sie hübsch annotiert auf der CD „Mr. Rhythm Is Moving“ (Hoodoo Records) nachhören.

Auch Motown brachte Williams nicht den erhofften Ruhm. Berry Gordy arbeitete noch in der Autofabrik, als sich die beiden im Barbershop kennenlernten. „Mein Friseur“ erzählte Williams, „stellte ihn mir vor. ‚Dieser Typ hier kann Songs schreiben, du solltest dich um ihn kümmern.‘ Ich konnte Berry, diese kleine, aufgeblasene Primadonna persönlich nie ausstehen.“ Trotzdem verschaffte Williams dem Motown-Boss seinen ersten Act, produzierte neben dem 13-jährigen Stevie Wonder auch Mary Wells, die Temptations und die Contours. Sechs Mal heuerte und feuerte ihn Gordy. Mitte der Sechzige r wechselte Williams zur Rhythm’n’Blues-Konkurrenz: Auf Chess Records hatte er mit „Cadillac Jack“ einen Hit, nebenbei schrieb er schaurig-schöne Dramen für die Dramatics, Bobby Blue Bland und O.V. Wright.

Als Ike Turner den Produzenten in den Siebzigern in sein Studio nach Los Angeles holte, unter anderem für das Ike und Tina Turner Album „Let Me Touch Your Mind“, war das der Anfang vom Ende. Williams rutschte von Ikes Koks-Töpfen direkt in die Gosse: „Ich rauchte Crack, hauste mit den Obdachlosen, hielt mich mit Hehlerei über Wasser. Manchmal schaute ich wehmütig den Fliegern nach, in denen ich einst erster Klasse zwischen den Studios und Plattenfirmen gependelt war“. Ein weißer jüdischer Produzent und fanatischer Fan machte Williams zehn Jahre später auf den Straßen Chicagos ausfindig und schleppte ihn zurück ins Studio. Mit Erfolg: Auf dem Album „Greasy“ (Norton Records) spannt er Williams mit der Garagen-Rock-Band The El Dorados zusammen – der Startschuss zu einer Zweit-Karriere auf den Bühnen der College-Clubs. Seine Stimme schmirgelte nun noch besser. Unter anderem die Jon Spencer Blues Explosion, The Dirtbombs und The Sadies holten ihn ins Studio. Mit letzteren spielte er 1996 ein großartig rumpelndes Country-Album ein: „Red Dirt“ (Blood Shot Records) – komplett mit schräger Fidel und typischen Williams-Texten à la „She‘s Just a Bag of Potato Chips“. Es sollten noch ein Dutzend Alben in unterschiedlicher Qualität – je nach Nüchternheit von Williams und dem Swing-Factor der Band – folgen. Die besten daraus: Der beherzte Garagen-Rock von „Silky“ (In The Red Records), und „Night & Day“(Yep Roc), ein spätes Meisterwerk des psychedelischen Talking Blues. „The worst thing in the world is a black man bored“, gesteht Andre Williams da. Möge der Mann auch eine Etage höher im rosa Dreiteiler die Schwanzfedern zum wackeln bringen.

JONATHAN FISCHER

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