Monatsarchiv: Februar 2019

„EINE ALLES UMARMENDE LIEBE“ – Voodoo-Priester praktizieren bis heute in New Orleans. Sie kommunizieren mit den Toten, helfen bei psychosomatischen Beschwerden und Beziehungsproblemen. Ein Besuch.

Es riecht nach Räucherstäbchen. Nur ein paar Sonnenstrahlen erleuchten das Halbdunkel. Miriam Chamani, eine ältere Afroamerikanerin mit geschminkten Lippen und gutmütigem Blick, wirkt in ihrem Lehnstuhl wie ein Teil eines größeren Ensembles. Um sie herum sitzen Dutzende Puppen:Hier ein brusthoher Papst Johannes Paul II, dort Lady Di, weiter hinten New Orleans Voodoo-Schutzheilige Marie Laveaux. Dazwischen Marienstatuen, und Repräsentationen der Loa genannten afrikanischen Gottheiten. „Alle diese Puppen haben von selbst ihren Weg zu mir gefunden“, sagt Priestess Miriam. „Klienten und Verehrer haben sie mir geschickt.“ Die 75-jährige Afroamerikanerin lehnt sich sanft lächelnd vor und deutet auf eine Figur mit den Gesichtszügen von Nelson Mandela. „Diese Puppe kam kürzlich in einem Paket aus Südafrika. Das strahlte so viel Energie aus, dass ich es erst zwei Wochen nach Erhalt öffnen konnte“.

Seit fast einem halben Jahrhundert praktiziert Miriam als Voodoo-Priesterin. Im Jahre 1990 eröffnete sie in der North Rampart Street, an der Grenze zwischen dem French Quarter und dem traditionellen Musikerviertel Treme, den Voodoo Spiritual Temple. Ein Ort, der Ratsuchende aus aller Welt anzieht – bis hin zum Schauspieler Nicolas Cage. Der ließ sich 2002 anlässlich seiner Hochzeit mit Elvis‘ Tochter Lisa Marie Presley einen Segen gebe. Die Beziehung hielt allerdings nur vier Monate. 

Angst vor dem Fremden hatte Voodoo nie. Das macht die Vielfältigkeit und Stärke dieses Glaubens aus: Statt Hierarchien zu bilden, nimmt er ganz basisdemokratisch die Elemente verschiedenster Kulturen in sich auf. Wie sehr Voodoo New Orleans geprägt hat, lässt sich an der Küche, an der Architektur, an den Begräbnisparaden ablesen. Und war Mac Rebennack alias Dr. John, einer der weltweit renommiertesten Musiker der Stadt, nicht selbst als ordinierter Voodoo-Priester tätig gewesen?

Ein bisschen Überwindung kostet es dennoch, an der verschlossenen Tür des Voodoo Spiritual Temple zu klingeln. Was erwartet einen an einem Ort, in dessen Fenstern Fotos der Priesterin mit einer um den Hals drapierten Python hängen? „Schlangen verkörpern menschliche Seelen“, glaubt Chamani. Erst die Berührung der Schlangenzunge auf der Wange könne sie in einen für das Orakeln notwendigen Trancezustand versetzen. So will es die Tradition westafrikanischer Schlangenkulte. Miriam lächelt. Und versucht, den Besucher zu beruhigen: „Keine Angst. Wir beschäftigen uns hier nur mit guten Energien.“ Ihr Angebot ist breit: Heilungsgebete, Taufen, Hochzeiten, das Legen von afrikanischen Knochenorakeln. Sie und andere Voodoo-Heiler bieten vor allem bei psychosomatischen Krankheiten Hilfe. In ihrem Tempel erklingen keine Voodoo-Chants, sondern wild improvisierter Jazz. Wobei beides in New Orleans nicht so weit auseinanderliegt.

Dass der Voodookult gerade in der Hafenstadt am Mississippi blüht, hat historische Gründe: Anders als überall sonst in Amerika genossen die schwarzen Sklaven hier seit dem „Louisiana Purchase“, der Einverleibung der einstigen Kolonie durch die Vereinigten Staaten im Jahr 1803, ungewöhnliche Freiheiten. Jeden Sonntag versammelten sie sich zu Trommelmusik und rituellen Tänzen auf dem Congo Square. Bestärkt wurden sie durch Einwanderer aus der Karibik. Nach einem Sklavenaufstand waren gegen Ende des 18. Jahrhunderts Hunderttausende Haitianer nach New Orleans geflohen. Um unter den argwöhnischen Augen der weißen Herren zu praktizieren, hatten sich viele von ihnen oberflächlich zum Katholizismus bekehrt. Die katholischen Heiligen bekamen eine geheime Doppelfunktion: Neben ihrer christlichen Bedeutung fungierten sie als Stellvertreter der alten afrikanischen Götter: „Diese aus Afrika kommenden übersinnlichen Heilungstechniken“, sagt Voodoo-Priesterin Chamani, „wurden von den Sklavenhaltern über alles gefürchtet. Um sie zu diskreditieren, dichteten die Weißen Voodoo alles mögliche Gefährliche und Bösartige an, während doch die Sklaverei das eigentliche Verbrechen darstellte.“

Mit ihrem Voodoo Spiritual Temple hat Chamani eine Mission: Einerseits will sie die Heilerpraxis fortführen, die ihr ihre Großmutter als Kind im ländlichen Mississippi vererbt hat. Andererseits will sie die Hollywood-Klischees von Voodoo zurechtrücken. „Immer wieder kommen Filmteams zu mir und wollen sich beraten lassen. Ich sage ihnen, dass wir nichts mit Zombies, Satanismus und grausamen Opferritualen zu tun haben. Am Ende aber geht es ihnen oft gar nicht um die Wahrheit, sondern um die pure Sensationslust.“

Diese wird im French Quarter touristisch ausgeschlachtet: Da kann man leuchtende Totenschädel, Voodoo-Plastikspinnen, Voodoo-Gewürzmischungen und sogar Voodoo-Bier kaufen. Oft ist es schwer, zwischen all dem kommerziellen Hokuspokus noch den Kern des afrikanischen Ahnenglaubens zu erkennen. Eher wird man da auf New Orleans’ pittoresken – wegen des hohen Grundwassers überirdisch angelegten – Friedhöfen fündig. Besucher verschütten da recht fürsorglich Bier und Rum auf die letzten Ruhestätten der Geliebten. Oder hinterlassen, was den Toten von Nutzen sein könnte: Nicht nur Münzen und Zigaretten, sondern auch Handys, Computerbildschirme und Tastaturen schmücken so manches Grab.

Wer aber historische Tatsachen sucht, der kann eine der Touren zum berühmten Cemetery Nr. 1 buchen. Er ist wie eine Kleinstadt weiß gestrichener Grabkammern, mit von Rissen und Putzlöchern geprägten Fassaden. Seit der Friedhofsgründung im Jahr 1789 wurden hier viele berühmte Voodoo-Heiler bestattet, darunter Marie Laveau. Sie lebte von 1794 bis 1881 und gilt als berühmteste Voodoo-Priesterin von New Orleans. Selbst Angehörige der reichen weißen Oberschicht sprachen ihr übernatürliche Fähigkeiten zu. Früher hinterließen Besucher regelmäßig Kreidekreuze auf Marie Laveaus Schrein: „Ein Aberglaube“, sagt der Tourguide, „der angeblich Wünsche erfüllt.“ Heute verbieten Tafeln derartige Beschriftungen. Die Allgegenwärtigkeit von menschlichen Schädeln und Gebeinen in der Bildersprache der Stadt bezeugt dennoch, welche Macht in New Orleans den Toten zugeschrieben wird. „Wir kommunizieren mit den Toten, um eine Tür zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt zu öffnen“, sagt Miriam Chamani. „Wir brauchen sie. Die Gemeinschaft der Ahnen kann uns Energien und gute Gedanken schicken, damit wir unsere irdischen Prüfungen bestehen.“

Wie aber funktioniert das Gebet zu den Loa? Welche Gottheit ruft man zu welchem Zweck an? Und welche Kerze, welche Heiligenfiguren und Kräutermischungen unterstützen ein Anliegen? Das sind Fragen, die ein weißer Voodoo-Priester namens Belfazaar in seinem Laden Voodoo Authentica in der Dumaine Street geduldig beantwortet. Neben einer breiten Auswahl von Esoterika stehen dort auch Altäre der wichtigsten Loas. Jeder ist eingeladen, hier zu beten oder eine Münze, eine Zigarre oder anderes als symbolische Opfergabe zu bringen. „Viele unserer Klienten kommen, weil sie Beziehungsprobleme haben“, sagt Belfazaar, ein bärtiger und zupackender Typ, der früher einmal als katholischer Geistlicher gearbeitet hat. In der Kirche würden die esoterischen und weiblichen Aspekte der Religion zugunsten einer männlichen Rigidität unterdrückt, sagt er. „Voodoo aber bedeutet eine alle umarmende Liebe. Wir sortieren nichts und niemanden nach gut und schlecht.“ Er selbst trägt neben der Kette einer Loa-Gottheit auch einen Rosenkranz. Selbstverständlich stehen auch Jesusstatuen in seinem Altarraum: „Die meisten Praktizierenden sind nach wie vor Christen“, sagt der Voodoo-Priester.

Wie selbstverständlich Voodoo heute zum Alltag der Stadt gehört, zeigt Sally Ann Glassmans „Island of Salvation Botanica“ im einstigen Scherbenviertel Bywater. Glassman, eine weiße Voodoo-Priesterin jüdischer Abstammung und in Haiti ordiniert, verkauft hier nicht nur Kräuter und haitianisches Kunsthandwerk. Sie hat zusammen mit ihrem Mann, einem der führenden Stadtentwickler von New Orleans, den gesamten Gebäudekomplex zu einem Kulturzentrum umgebaut, dem New Orleans Healing Centre. Im Innenhof steht ein Voodoo-Altar mit Kerzen, Blumen, Spielzeug und einer überlebensgroßen Marie-Laveau-Figur, gleich daneben finden sich ein Yogaclub, ein vegetarisches Restaurant, ein Bioladen, die Livebühne Cafe Istanbul und zahlreiche Büros von Bürgerinitiativen, etwa für die Versorgung alternder Musiker. „Unsere lokale Voodoo-Gemeinde“, sagt Glassman mit einer starken Stimme, die ihrer zierlichen Erscheinung trotzt, „hat wesentlichen Anteil daran, dass Bywater nach der Hurrikan-Katrina-Katastrophe zum Leben zurückgefunden hat.“ Dazu gehörte auch ein handfestes Engagement gegen die einst gravierende Drogenkriminalität: „Nachdem Polizei und Stadtverwaltung nichts unternahmen, entschlossen wir uns zum Handeln: Wir trommelten in einer Straßenzeremonie den Beistand der Krieger-Gottheit Ogun herbei. Einen Tag später stand der Anführer des Drogenrings vor meiner Tür und bat mich, den Zauber aufzuheben.“ Weil der Drogenboss angeblich mehr Angst vor dem Zauber als vor der Justiz hatte, kam es zur Aushebung ganzer Lagerhäuser mit Crack. Der Boss und mehrere Polizisten, die in seinem Sold standen, mussten ins Gefängnis. Die Kriminalität im Viertel sank. Seitdem bemühen sich selbst Lokalpolitiker um eine Zusammenarbeit mit der Voodoo-Priesterin.

Heute hat Glassman zu einer „Immersion“ geladen, einer öffentlichen Messe: Vor ihrem Laden intoniert eine Gruppe weiß gewandeter Trommler und Sänger traditionelle Voodoo Chants, das Publikum aus Nachbarn, Yogaschülern und Touristen bekommt kostenlos Bohneneintopf und Rum. Der Vorsänger kündigt ein getrommeltes Gebet für die Toten von Katrina an. Als das Tempo zunimmt, fangen einige an, wild mit Armen und Beinen zu zucken. Selbst zwei Polizisten klopfen mit ihren Taschenlampen den Rhythmus mit. Währenddessen kniet Glassman, die Haare unter einem weißen Tuch zusammengebunden, auf dem Boden: Sorgfältig zieht sie Linien, ein ornamentiertes Kreuz aus schwarzem und weißem Sand. Als es fertig ist, spuckt sie einen Schluck Rum darüber. Die Menge gibt ihre Ausrufe im Chor zurück. Yoruba-Wörter. Silbensalat. Wüsste man nicht, dass die kleine Frau gerade in ihrer Eigenschaft als Voodoo-Priesterin predigt, man könnte das Ganze auch für Straßenkunst halten. „Ohne unseren Glauben“, sagt Glassman später, „hätten wir die vielen Katastrophen niemals überstanden.“ Voodoo als soziales Bindemittel. Miriam Chamani formuliert das sehr zeitgemäß: „Wenn du den afrikanischen Trommelbeat spürst, kannst du dein Ego auch mal für die Gemeinschaft zur Seite schieben.“

JONATHAN FISCHER

SZ 21.2.2019