Monatsarchiv: Dezember 2011

Sven Väth über: Feiern

Die lichtdurchfluteten Räume von Sven Väths Cocoon-Agentur – zwei Stockwerke über seinem Cocoon-Club mitten im Frankfurter Gewerbegebiet gelegen – erinnern ein wenig an einen Tempel: Buddhastatuen, Designmöbel und unverputzte Wände, eine Ecke mit Meditationskissen, alles so ordentlich wie ein Zen-Garten. „Bin gleich da“, ruft Väth gut gelaunt aus einem Nebenzimmer. Fester Händedruck, hellwacher Blick, tänzelnder Gang über den holzgetäfelten Flur: Der Mann in den Schlabberhosen geht ein Interview mit derselben Energie an wie eines seiner legendären DJ-Sets.

von Jonathan Fischer

Viele Menschen fahren an Weihnachten mit sehr gemischten Gefühlen zu ihren Eltern nach Hause. Wie ist das bei Ihnen?

Mein Vater ist ja leider vor fünf Jahren an Krebs gestorben. Jetzt trifft sich der Rest der Familie bei meiner Mutter, oder bei einem von uns Brüdern.

Und, wie feiert man bürgerlich bei den Väths?

In meiner Kindheit gab es immer zuerst Kartoffelsalat mit Würstchen, und anschließend ging’s ins Wohnzimmer zum Christbaum, dort haben wir ,O Tannenbaum‘ und ,Stille Nacht‘ gesungen, und dann kam die Bescherung. Heute machen wir das – bis auf die Würstchen – wieder genauso. Meinen 17 Monate alten Sohn werde ich beim Singen vorm Tannenbaum im Arm halten, und vielleicht kommt auch wieder ein kleines oder größeres Ohhh aus seinem Mund. Spätestens um Mitternacht muss ich dann aber los zu meinem traditionellen Weihnachts-Set, in meinem Club Cocoon. Und man mag es nicht glauben: Wir haben am Weihnachtsabend immer volles Haus . . .

Eben – weil viele Menschen dann auch gerne wieder von zu Hause flüchten . . .

Ich kann verstehen, dass man nach dem familiären Teil noch mal weggehen will, um Spaß zu haben und Freunde zu treffen. Aber gerade in Indien habe ich auch gesehen: Familie ist das höchste Gut. Bei uns wird nicht mehr ganz so gerne geteilt, oder auch mitgeteilt. Ich bin zwar selbst mit sechzehn nach Ibiza abgehauen, hab’ mir dort aus Strandliegen ein Lager im Pinienwald gebaut und bin dann jeden Abend feiern gegangen. Aber nicht, weil es mir zu Hause schlechtging. Das war eher Fernweh. Damals gab es noch keine Handys. Also habe ich mich jede Woche mal am Münztelefon gemeldet: Mutti, mir geht es gut!

Kurz vorher hatten Sie angefangen, aufzulegen: in der Diskothek Ihrer Eltern.

Genau, dem ,Queens Pub‘ in Frankfurt. Bei uns tanzten die Gäste zu Marianne Rosenberg, Fats Domino oder auch Diana Ross. Irgendwann sagte Mutti: Mach du mal. Meine Eltern zogen mich und meine zwei Brüder auch schon mal nachts um drei aus unseren Stockbetten: ,Ihr kommt jetzt raus.‘ Da saßen wir dann verpennt auf der Couch, während Vater und Mutter eine Rock’n’Roll-Platte auflegten und vor uns tanzten. Die waren gut drauf.

Scheint in der Familie zu liegen. Haben Sie nicht manchmal Angst vor dem Älterwerden?

Nein. Meine Eltern haben mir ja vorgelebt, dass man bis ins Alter mit Liebe dabei bleiben kann. Beide haben sie nichts geschenkt bekommen: Sie lernten sich in einem Auffanglager für Flüchtlinge kennen, mein Vater war ständig am Arbeiten, meine Mutter hat ganz jung schon drei Söhne bekommen. Gleichzeitig sind sie leidenschaftlich gerne Rock’n’Roll tanzen gegangen. Die haben sämtliche Preise abgeräumt und von dem Ersparten ihren Traum von der eigene Diskothek verwirklicht.

Erklären Sie jüngeren DJs denn auch, wie man in Würde auf der Kanzel altern kann? Sie plagen sich ja seit einigen Jahren mit einem Tinnitus herum. . .

Spätestens durch den Tinnitus habe ich gelernt, auf mich selbst zu hören, Ruhephasen einzulegen, mal längere Zeit keine Musik zu hören.

Noch mehr Tipps für den Nachwuchs?

Ich bin sehr diszipliniert: Nach der Sommersaison halte ich es vier Monate ohne Alkohol und Fleisch aus. Ich gehe viel joggen und versuche, mit mir selbst in Balance zu sein, meditieren hilft hier sehr. In meiner Winterphase versuche ich auch, direkt nach dem Set ins Bett zu gehen.Ich nehme nur Wasser und Säfte zu mir, außerhalb meiner Fastenzeit auch mal ein Glas Champagner. Was mir immer ganz guttut, ist, vor einem Gig noch mal eine Stunde zu schlafen und mich mit Atemübungen vorzubereiten. Zu der Ayurveda-Kur, die ich schon seit 16 Jahren an der Mosel mache, gehört auch, den Darm komplett zu entleeren – der Darm ist ja letztlich unser Kraftwerk. Wenn da was fehlt, schlägt das gleich auf deinen Energiehaushalt. Ich sage das oft zu Leuten, die müde sind: Check’ mal deinen Darm!

Klingt ja nicht mehr sehr hedonistisch. Früher haben Sie sich doch eher mit Kokain als mit ayurvedischer Kost aufgeputscht. . .

Damals bin ich neben The Cure, Kim Wilde oder Vanessa Paradis auf den ganz großen Bühnen aufgetreten. Koksen gehörte da einfach dazu. Erst die Geburt meiner Tochter Paulina hat mich zur Besinnung gebracht. Ich war gerade mal 24 Jahre alt, schaute mich selbst im Spiegel an und erkannte: Die Droge hatte mich vorlaut gemacht, aggressiv, von oben herab. Aber die ganze Szene benahm sich damals so. Als ich damit aufhörte, blieben mir kaum noch Freunde.

Sie schreiben die Entdeckung eines gesünderen Lebensstils auch einem Indien-Aufenthalt zu, oder?

Ich habe 1991 Hermann Hesses ,Siddharta‘ gelesen. Nach der Lektüre geisterten mir viele Fragen im Kopf herum, und ich wollte in Indien nach Antworten suchen. Ich reiste dort seither jedes Jahr drei Monate umher und entdeckte Ayurveda für mich. Was auf Sanskrit ,Das Wissen des Lebens‘ bedeutet und eine jahrtausendealte Heiltherapie-Kultur ist. Vor allem aber habe ich mich spirituell geöffnet. Ich besuchte hinduistische und buddhistische Tempel, habe mir die Totenverbrennungen angeschaut. Da ist man als Westler ja doch etwas schockiert. Bei einer Totenverbrennung an einem Hindu-Tempel wollte ich mich gerade wieder etwas betreten davonschleichen, als plötzlich ein Sadu neben mir stand: weißes Gewand, langer grauer Bart. Der hat zwei Stunden lang auf mich eingeredet: Schau dir das ruhig an, alles geht wieder in den Fluss des Lebens zurück. Das saß.

Sie haben sich das erste Mal bewusst der Tatsache gestellt, irgendwann sterben zu müssen?

Bei mir bewirkten diese Erfahrungen erst einmal eine Entschleunigung. Ich hatte in Indien aufgehört, eine Uhr zu tragen: Warum so viele Dinge anhäufen, alles in Rekordgeschwindigkeit erledigen, wenn wir doch eh sterben müssen? Ich schloss mich dann aber nicht den Hippies an, die in Goa ihren Tee selbst anbauen und von der Hand in den Mund leben. Mich faszinierte ein anderes Motto: Spirituality through Technology. Da gab es Anfang der Neunziger ein Label aus San Francisco, die haben T-Shirts mit Buddhas bedruckt, aber unter dem Buddha schimmerte ein Computer-Chip. Das verstand ich auf Anhieb. Ich hatte ja schon seit langem Ambient-Musik von Brian Eno, Ryuichi Sakamoto und David Sylvian gehört. . .

Eigentlich ist das doch das musikalische Gegenteil von dem, was Sie als Techno-DJ tun. Sie peitschen die Leute auf, wollen sie in Bewegung bringen. . .

Ich sehe da keinen so großen Gegensatz. Es hat ja schon was Hypnotisches, dass sich Leute dem DJ anvertrauen, der Musik voll und ganz hingeben, sich zusammen mit mir in eine Trance fallen lassen. Es gibt magische Momente in der Nacht, wo ich dieses kollektive Rauscherlebnis spüre: jetzt, hier und wir! Das hat etwas sehr Spirituelles.

Sind Diskotheken nicht auch Orte, wo man sich zudröhnt, kurzweilig unterhält und von der Realität abschottet?

Das kommt drauf an, ob man dauernd von hier nach dort zappt, oder eine Nacht lang einer Geschichte folgt, die der DJ erzählt. Viele junge Menschen haben ja schon ein Problem, sich mal ein ganzes Album anzuhören, nichts darf bei ihnen länger als eine Minute dauern. Dagegen wirkt meine Musik fast schon entschleunigend.

Werden Sie nostalgisch, wenn Sie an die Zeit denken, als Sie sich noch mit anderen DJs samstags im Plattenladen trafen und über neue Maxis diskutierten?

Also, diese Zeiten vermisse ich sehr. Heute kann man ja alles als Datenfile auf dem Computer anhören. Ich brauche allerdings die sinnlichen Rituale: Ein Cover öffnen, die Platte rausziehen, diesen Geruch aufsaugen, die Platte zurechtlegen, die Nadel aufsetzen. Das gibt es digital nicht. Oder dieser Duft, wenn man einen DJ-Koffer aufmacht, und noch einmal die Erinnerung an eine lange Nacht einatmet.

Und Sie fühlen sich nie alt, wenn Sie im Club stehen?

Überhaupt nicht. Zwar stehen – außer vielleicht Ricardo Villalobos, Tobi Neumann, Carl Cox, Gilles Peterson oder DJ Hell – nicht mehr so viele aus meiner Generation Nacht für Nacht hinterm Pult. Aber ich kann mich ja in punkto Altern an Typen wie Mick Jagger orientieren, den ich mal auf Bali kennenlernte. Der lebt heute ein ziemlich asketisches Leben, macht Yoga, kocht gesund und meditiert. Anders kannst du nicht mit 60 noch unter Starkstrom stehen.

Trotzdem komisch, ausgerechnet Sie von Disziplin reden zu hören.

Wenn man Dinge verstanden hat, dann muss man sich nicht mehr disziplinieren, dann macht man sie gerne. Weil man besser drauf ist.

Treffen Sie denn noch viele Gleichaltrige in den Clubs?

Dadurch, dass ich jetzt 30 Jahre unterwegs bin, habe ich mir auch ein eigenes Publikum erspielt. Leute, die mir musikalisch gefolgt sind, und vielleicht nur noch ein Mal im Monat ausgehen, die bestellen sich dann zu diesem Termin einen Babysitter. Oder sie gehen mitsamt ihren Kindern zu Festivals, wo schon nachmittags getanzt wird.

Die meisten Clubs lassen ihre berühmten DJs erst weit nach Mitternacht auftreten. Ist das nicht ein Versäumnis gegenüber den älteren Musikfans, die dann schon todmüde sind?

Mit dem Konzept unseres Cocoonclubs habe ich ausdrücklich versucht, auch die Älteren zu erreichen. Menschen, die Lust haben, essen zu gehen und ein gutes Glas Wein zu trinken, und die anschließend tanzen wollen, ohne dafür noch mal extra ins Taxi zu hüpfen. Das ist uns mit unseren Restaurants und unserem Sterne-Koch Mario Lohninger ganz gut gelungen. Allerdings kommen manchmal ältere Gäste zu mir, die Berührungsängste mit der Welt der Jungen haben. Ich sage dann immer: schade, dabei hast du doch Spaß an der Musik.

Sie wirken auch im Gegensatz zu vielen Altersgenossen noch recht jugendlich. Achten Sie sehr auf Ihre Erscheinung?

Wenn du auf die Bühne gehst, musst du das. Einerseits tanze ich nach wie vor gerne. Andererseits mache ich viel Fitness – auch weil ich gerne gut esse und auch mal ein oder zwei Flaschen Wein dazu trinke.

Oder Schokolade. Wir haben ja hier schon fast einen ganzen Teller Ihrer Lieblings-Pralinen weg gefuttert. . .

Ich werde auf gute Schokolade nie verzichten können. Dafür gehe ich, so oft es geht, im Park laufen, trainiere zweimal die Woche mit meinem Personal Trainer.

Haben Sie eigentlich noch eine Ahnung, was Ihre 18-jährigen, mit Soundfiles arbeitenden DJ-Kollegen auf die Tanzflächen loslassen?

Neue Musik ist in meinem Leben nach wie vor das Wichtigste. Oft hören meine Frau und ich zusammen neue Alben wie ,50 Words for Snow‘ von Kate Bush oder ,Swim‘ von Caribou. Kennen Sie das? Da haben wir das ganze Jahr dazu gesungen und getanzt. Zusammen mit anderen Eltern organisieren wir manchmal am Wochenende ein Nanny-Programm und gehen dann alle gemeinsam in den Club. Das Tanzen darf man sich durch die Kinder nicht nehmen lassen.

Teilen Sie Ihre Musikbegeisterung auch mit Ihrer 22-jährigen Tochter?

Wenn die tanzen will, dann kommt die zu mir in den Club. Aber weil sie in Bensheim wohnt, sehe ich sie relativ selten. Hört Ihre Familie denn Ihre Musik?

Mein 17-jähriger Sohn kreuzt schon manchmal mit einem Dutzend Freunden in einem Club auf, in dem ich alten Soul auflege. Zumindest für ein Bier lang.

Bei mir ist das eher meine Mutter, mit der ich überall rechnen muss. Die reserviert im Restaurant zwei Tische für ihre Freundinnen – und geht anschließend ins Cocoon runter zum Tanzen. Bis vier Uhr morgens. Manchmal stellt sie sich auch mit mir auf die Kanzel, wartet, dass ich mal auf die Toilette gehe, damit sie endlich das Mischpult übernehmen darf. . . Und dann gibt sie richtig Gas.

Sven Väth, 1964 in Offenbach geboren, gehört seit 30 Jahren zu den weltweit gefeierten Pionieren und DJ-Stars der Techno-Musik. Seit Anfang der 80er Jahre stand er in In-Clubs wie dem Frankfurter Dorian Gray oder Vogue hinter den Plattentellern. Gleichzeitig machte er auch als Musiker und Sänger von sich reden. 1985 erreichte die von seinem Projekt Off produzierte Nummer „Electrica Salsa“ die Spitze der deutschen und vieler europäischer Charts. Väth tourte in der Folge mehrfach rund um die Welt. Von 1988 an führte er zehn Jahre lang seinen eigenen Techno-Club in Frankfurt, das Omen. Später kamen ein eigenes Label und eine eigene DJ-Bookingagentur dazu. 2004 eröffnete Väth die aufwendig eingerichtete Party-Location Cocoon, zu der auch zwei Restaurants und der Gault Millau Sterne-Koch Mario Lohninger gehören. Gerade ist auf Cocoon Recordings das Album „Sven Väth In The Mix – The Sound Of The Twelfth Season“ erschienen. Väth lebt mit seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn in Frankfurt.
SZ 24.12.2011

Santa hat den Funk! Die außergewöhnliche Weihnachts-Soul-Kompilation des Münchner DJs und Plattensammlers Tobias Kirmeyer

Als Tobias Kirmeyer den Vorschlag eines DJ-Kollegen hörte, auf seinem Tramp-Label doch mal eine Weihnachts-Kompilation herauszubringen, war er gelinde gesagt skeptisch: Gab es denn nicht schon genug Sampler, die „soulful Christmas“ oder „rockin’ Santa Claus“ versprachen? Und hatte die amerikanische Tradition des Weihnachts-Popsongs nicht etwas allzu Sentimentales, ja für Funk-Liebhaber wie ihn geradezu unerträglich Weichgespültes? Doch dann fing Kirmeyer zu graben an. Und legte unter all den schmalzigen Geigen, Glockenspielen und Engelsschluchzern ein gutes Dutzend wahrer Funk-Perlen frei. Singles aus den sechziger Jahren wie Detroit Juniors „Christmas Day“, Rose Grahams „Black Christmas“ oder Fat Daddys „Holyday Baby“, die keine Kompromisse mit Kirchenchören und Kaufhausmusik eingingen, sondern Weihnachten so schwarz und funky feierten, als steppte Santa Claus mit Afro, Spitzkragen und ein paar neuen Tanzstiefeln durch den Schnee.

„Santa’s Funk & Soul Christmas Party“ jedenfalls, wie sich das Ergebnis von Kirmeyers Grabungen nun nennt, hat nichts Weihnachtsmütziges an sich: Vielmehr paraphrasiert Gary Walker den Soulbrother Number One mit „Santa’s Got A Brand New Bag“, fährt Vernon Garrett einen unwiderstehlich schweineorgelnden „Christmas Groove“ auf, rauschen Jimmy Jules & The Nuclear Soul System auf „X-mas Done Got Funky“ in einem tiefergelegten Pimp-Mobil durch die verschneiten Straßen. Und selbst ein alter Blueser wie Jimmy Reed verdoppelt an Weihnachten seine Schlagzahl.

Sammler könnten sich hier wohl viel Geld für den Kauf der seltenen Singles sparen. Aber die sind eher nicht Kirmeyers Zielgruppe: „Richtige Nerds wollen doch alles nur im Original. Mir geht es vielmehr um Funk-Fans und Tänzer, die mal was anderes als immer nur James Brown hören wollen.“

Der Weihnachts-Sampler ist bereits das 13. Album auf Tramp Records, Kirmeyers Kleinlabel, das in den vergangenen acht Jahren wesentlich zum Ruf von München als El Dorado für Retro-Funk beigetragen hat. 2003 ließ der DJ und Plattensammler eine erste Single pressen. Und zwar, wie Kirmeyer erklärt, erst einmal nur mit der Absicht, ein paar unveröffentlichte Songs der befreundeten Münchner Funk-Pioniere Poets Of Rhythm endlich in Umlauf zu bringen. Anfangs duldete Kirmeyer nur Vinyl. Später nahm er CD- und MP3-Formate dazu, „sonst könnte ich die Kosten für meine Veröffentlichung nicht decken“. Gewinn macht er dennoch kaum – schließlich legt er im Gegensatz zu so manchen Bootleg-Labels Wert darauf, alle Songs so weit wie möglich bei den Original-Musikern und Rechteinhabern zu lizensieren.

„Aber es macht eben auch Spaß“, sagt Kirmeyer, „mit siebzigjährigen schwarzen Opas in Amerika zu telefonieren, die sich geehrt fühlen, dass jemand ihre alten, in Kleinstauflagen erschienenen Songs kennt.“ Der Weg dorthin ist mühselig: Oft gibt das Kleingedruckte auf den Single-Labels die einzigen Hinweise. Um etwa Vernon Garrett ausfindig zu machen, rief Kirmeyer mehrere Fernseh- und Radiosender in den Südstaaten an, in denen der Bluesmann zuletzt aufgetreten war. Was für ein Glück, den Veteranen dann endlich an der Strippe zu haben – mit der Geschichte zum Song: Wie er mangels Taxigeld kilometerweit mit der Gitarre auf dem Buckel zum nächsten Gig gelaufen ist, mit welchen Bühnentricks er die Mädels rumbekommen oder die DJs der Radiostationen eingeseift hat. Man hört „Santa’s Funk & Soul Christmas Party“ das Leben an, das hinter jeder Nummer steckt. Besser noch: Dieser Sampler klingt auch noch frisch, wenn der letzte Schnee geschmolzen ist.
JONATHAN FISCHER
SZ 23.12.2011

Meine Album-Charts 2011 (Spex)

1) Freestyle Fellowship: The Promise
Baloji: Kinshasa Succursale (late addition)
2) Jill Scott: The Light Of The Sun
3) Lucas Santtana: Sem Nostalgia
4) BLNRB: Welcome To The Madhouse
5) Sepalot: Chasing Clouds
6) Systema Solar: Systema Solar
7) Pharoahe Monch: W.A.R.
8) Orchestre Poly-Rythmo De Cotonou: Cotonou Club
9) Wu-Tang: Legendary Weapons
10)Talib Kweli: Gutter Rainbows

Ghetto-Blues 2011: Das Album «Undun» und der repolitisierte Hip-Hop von The Roots

Questlove, der Kopf des Hip-Hop-Kollektivs The Roots, machte in den letzten Wochen Schlagzeilen: Zum einen hing das mit dem Nebenjob von The Roots als Hauskapelle der Jimmy-Fallon-Talkshow im US-Fernsehen zusammen. Als dort die republikanische Politikerin Michele Bachman gastierte, begrüsste sie die Band mit einer Instrumentalversion eines alten Fishbone-Songs: «Lyin‘ Ass Bitch». Anschliessend überhäuften Tausende fanatischer Tea-Party-Anhänger den Roots-Schlagzeuger mit Schmähungen, in dem gemütlichen Typ mit Afro-Frisur fand man eine neue Hassfigur. Und dann war da noch sein Engagement für die «Occupy-Wall-Street»-Demonstranten: Questlove warnte als zufälliger Augenzeuge eines Polizeiaufmarschs die Gesinnungsfreunde per Twitter vor der unmittelbar bevorstehenden Räumung des Zuccotti-Parks.

Obamas verblassende Strahlkraft

Dass diese beiden an sich nebensächlichen Episoden in den amerikanischen Medien viel Aufmerksamkeit bekamen, liegt gerade daran, dass sich Hip-Hop in den letzten Jahren völlig aus der Politik zurückgezogen hatte. Während Barack Obamas Wahlkampf schlug das gesellschaftliche Engagement der Rapper hohe Wellen. Der erste schwarze US-Präsident: Er wurde zu einem Leitstern für die Generation Hip-Hop, nicht nur, weil er das Gespräch mit Stars wie Jay-Z und Kanye West suchte, sondern auch, weil seine Sozialarbeiter-Vergangenheit sich mit der Agenda vieler Hip-Hop-Songs zu decken schien: Bildung für Arme, Reform der Justiz, wirtschaftliche Entwicklung der Ghettos . . . Was sollte Obama nicht alles richten! Als sich die Erwartungen nicht erfüllten und die Strahlkraft des «black president» verblasste, liessen die meisten Rapper die Politik wieder fallen wie eine faule Frucht. Kein Wunder: Hip-Hop hat dem Dschungel des politischen Tagesgeschäfts zumeist klare Schwarz-Weiss-Erzählungen vorgezogen.

Erst die «Occupy-Wall-Street»-Bewegung machte der Apathie wieder ein Ende und schenkte der Hip-Hop-Szene ein Feindbild samt Revolutions-Rhetorik. So hat der Produzent Russell Simmons seinen Millionärs-Kumpel Kanye West in den Zuccotti-Park mitgenommen und erklärt, er würde «gerne mehr Steuern für eine gerechtere Gesellschaft zahlen». Polit-Rapper wie Lupe Fiasco und Talib Kweli legten Auftritte hin, Pharrell komponierte eine «Occupy Wall Street Hip-Hop Anthem», und selbst Südstaaten-Hip-Hopper wie Big Boi, Killer Mike oder Bun B fielen in den Chor der Finanzwirtschaft-Kritiker ein.

Ähnliches erwarteten viele wohl auch vom neuen The-Roots-Album, gehört die Band aus Philadelphia doch schon seit einem Jahrzehnt zu den kritischen Beobachtern der in Arm und Reich zerfallenden amerikanischen Gesellschaft. Um es vorwegzunehmen: «Occupy Wall Street» wird auf dem von Questlove komponierten Konzeptalbum nicht ausgeschlachtet. Trotzdem legt «Undun» den Finger auf die Wunde: Das ebenso düstere wie dringliche Opus packt all die sozialen Krankheiten Amerikas in die Lebensgeschichte von Redford Stephens, einem Kleindealer aus Philadelphia, der 25-jährig erschossen wird. «Undun» verliert sich dabei nicht in platter Anklage. Vielmehr besticht das Album durch sein künstlerisch durchgearbeitetes Konzept, in dem das Leben Redfords von seinem Ende her erzählt und postum nach einem tieferen Sinn gesucht wird, wo alles bloss Überlebenszwang zu sein scheint.

Es beginnt mit der Stillstands-Anzeige des Herzschlag-Monitors – dann setzen Pianoläufe und warme Melodien den Ton für die Frage, ob der Himmel auch auf jene warte, «die auf der falschen Seite der Crack-Pfeife geboren wurden». Die Musik kontrastiert mitunter mit dem grimmigen Inhalt der Lyrics. Die erste Albumhälfte mit «Make My», «The Other Side» oder «Remember» kommt oft poppig daher, mit Soul-Melodien und Streichern, die auch eine Party-Geschichte illustrieren könnten. Später überraschen Ausflüge in den Indie-Rock und eine vierteilige, von Sufjan Stevens komponierte Klavier-Elegie. Und doch bildet das Album eine kreative Einheit. Das liegt nicht nur an Questloves organisch-treibendem Schlagzeug, sondern auch an den Raps von Black Thought sowie von den Gast-Rappern Dice Raw und Phonte, die den ruhelosen Geist der halbfiktionalen Figur Redfords in Worte fassen: «Undun», erklärt Questlove, «soll den imaginierten inneren Dialog eines verstorbenen schwarzen Jugendlichen und seine Sicht auf die postmoderne Leere einfangen.» Aggression und Verzweiflung wechseln da mit Depression und postmortalen Rückblicken.

Obsession Geld

«Undun» soll die Geschichte eines Jugendlichen zeigen, der in die Kriminalität abrutscht, obwohl er ganz und gar nicht als Verbrecher zur Welt kam. Er interpretiert sein Leben immer gerade so, wie es der Moment von ihm verlangt. «Machen wir das nicht alle so?», fragt Questlove in den Liner Notes. So manifestiert sich in diesem Einzelschicksal die Conditio humana. Andererseits widerspiegelt Redfords Leben den amerikanischen Spätkapitalismus – die Obsession fürs schnelle Geld, der Ausschluss unproduktiver Randgruppen. «Undun» nimmt ein altes Soul-Thema wieder auf: Die Traurigkeit eines Curtis Mayfield findet sich hier genauso wie der sezierende Blick Gil Scott-Herons. Viele der unterkühlt vorgetragenen Raps stecken dabei voller Anspielungen, dass sich ihr Sinn erst allmählich erschliessen lässt. «If you ever see me out in y’all streets», rappt Phonte in «Kool On», «find another one to occupy . . .» Der grosse Wall-Street-Kapitalismus hat in dem kleinen Strassendealer sein hässliches Ebenbild gefunden – gibt ihm die Spielregeln vor. «Undun» jedenfalls liefert den Soundtrack zum Ghetto-Blues des Jahres 2011.
JONATHAN FISCHER
NZZ 9.12.2011

In der Feedback-Schleife: Paul McCartney dachte beim Komponieren an Aretha Franklin. Überhaupt fühlten sich die Beatles afroamerikanischer Musik besonders verpflichtet. Eine Kompilation schildert diese lange Geschichte von Tausch und Diebstahl.

Ob es die Beatles ohne afroamerikanische Schützenhilfe jemals über die Pubs von Liverpool hinaus geschafft hätten? Paul McCartney und John Lennon selbst haben die schwarzen Wurzeln auch ihres Handwerks stets bezeugt. So hatten sie gerade in ihrer Frühphase unter anderen den Song „Chains“ von The Cookies, „Twist And Shout“ von den Isley Brothers, Arthur Alexanders „Anna“ und Chuck Berrys „Rock ’n‘ Roll Music“ eingespielt. Letzterer lieferte auch die Blaupause für den hybriden Sound und das jugendlich-forsche Storytelling der Beatles, während sie ihren Vokalstil, besonders die Falsetto-„Oooohs“, wiederum Little Richard verdankten.

Überhaupt verstand sich neben den Rolling Stones wohl keine Band besser darauf, schwarze Musik zu synthetisieren und für den Mainstream aufzubereiten als die Beatles. Schwarze Nationalisten wie Amiri Baraka klagten die weißen Adepten deshalb allerdings bitter an: Diese enteigneten schwarze Musiker ihrer Schöpfungen und führten weitaus größere Gewinne als die Urheber selbst ein. Dieser Vorwurf aber ging schon in den sechziger Jahren an der Realität vorbei. Waren doch gerade die weißen britischen Rocker, wie die Zeitschrift „Billboard“ bemerkte, „die Ersten, die ihrem Publikum mitteilten, welche Soul-Künstler sie imitierten – was zu einer weiteren Anerkennung solcher Größen wie Chuck Berry, Muddy Waters, Little Richard oder Don Covay führte“.

Die öffentliche Anerkennung, die die Beatles, Them, The Animals oder die Spencer Davis Group ihrem schwarzen Einfluss zollten, stand dabei in scharfem Kontrast zum Schweigen vieler weißer amerikanischer Entertainer; selbst eine politisch bewusste Sängerin wie Nina Simone erkannte das ausdrücklich an. Und auch wenn der Ruhm der englischen Rocker viele ihrer schwarzen Helden, zumindest in der Vorstellung weißer Fans, zu bloßen Vorläufern degradierte, revanchierten sich afroamerikanische Musiker doch auf ähnliche Weise – kaum ein Beatles-Hit, den sie nicht ihrerseits coverten.

Diese Wiederaneignung einer zutiefst von Blues, Rhythm & Blues beziehungsweise Soul geprägten Musik dokumentiert nun das englische Wiederveröffentlichungs-Label Ace mit einem schon lange fälligen Sampler: „Come Together – Black America sings Lennon & Mc-Cartney“. Herausgeber Tony Rounce hat es sich dabei nicht leichtgemacht: Lag die größte Mühe doch nicht darin, genug Material zu finden, sondern aus den vielen Hunderten Covers von „Come Together“, „Eleanor Rigby“, „Get Back“ oder „Yesterday“ die überzeugendsten, originellsten, seelenvollsten auszuwählen; erst recht, weil keiner von 24 Beatles-Songs hier mehrfach vorkommt.

Das heißt, dass so manche Perle wie Esther Williams‘ „And I Love Him“, Wilson Picketts „Hey Jude“ oder „We Can Work It Out“ von Stevie Wonder unberücksichtigt bleiben musste, neben all den schwarzen Musikern, die wie P-Funk-Erfinder George Clinton die Beatles zwar nicht direkt coverten, diese aber als ihren wichtigsten Einfluss anführen.

Allerdings reagierte das schwarze Amerika zunächst verhalten auf die englische Rock-Invasion – zumindest, was die ersten fünf Beatles-Alben betrifft. Das Eis brach 1965 Mary Wells: Die Soulsängerin war zuvor von den Beatles auf eine Tournee geladen worden, nun bedankte sie sich mit dem Album „Love Songs To The Beatles“, von dem hier das jazzige, bläserverstärkte „Please Please Me“ vertreten ist. Auch die Supremes und Ella Fitzgerald erkannten relativ früh das Qualitätspotential von Lennon und McCartney. Doch erst nach „Yesterday“ wurde es zur guten Gewohnheit von Blues- und Soul-Produzenten, ihre Künstler mit passenden Beatles-Songs zu konfrontieren. So etwa im Falle von Willie Mitchell, der den noch weitgehend unbekannten Al Green eine anrührend rohe Fassung von „I Want To Hold Your Hand“ singen ließ. Der Gesang addiert hier eine gute Portion Schwülheit und Schmutz, zumindest im Vergleich mit den Originalen.

Doch nicht immer geht es in die Gospel-Richtung. So lehnt sich Junior Parkers „Lady Madonna“ unsäglich cool in den Veranda-Sessel. Während „Come Together“, anders als die rockende Ike-und-Tina-Turner-Version – hier von der Vokalgruppe Chairmen Of The Board -, zu einer intimen, von Streichern und Mundharmonika untermalten Lounge-Nummer heruntergedimmt wird.

Insgesamt gewinnt diese Zusammenstellung, gerade weil sie sich nicht allzu sehr auf die großen Namen kapriziert. Gut, am „fünften Beatle“ Billy Preston und seiner schweineorgelnden „Blackbird“-Version kommt man so wenig vorbei wie an Little Richards tollendem „I Saw Her Standing There“. Und erst recht nicht an Otis Redding: Dessen 1966er „Day Tripper“-Übertragung reißt wie ein Wirbelwind alles nieder, was nicht in den Funk-Groove einfällt, während der Sänger um seine Lieblingszeilen herum einfach neue Textteile improvisiert.

Selbst Soulkenner dürften auf diesem Sampler noch angenehme Überraschungen finden: Wer hatte vorher schon Roy Redmonds unwiderstehlich sehnsuchtsvolles „Good Day Sunshine“ in seiner Sammlung? Donald Heights ebenso delikat arrangiertes „Don’t Let Me Down“? Oder „Get Back“ als coolen Soul-Dancer von Main Ingredient?

Immer wieder kreist die Feedback-Schleife über den Atlantik hin und zurück. Waren doch die Beatles vom Stax-Sound, den Otis Redding, Sam and Dave, Arthur Conley, Carla Thomas and Eddie Floyd 1967 als Stax-Revue nach England brachten, beeindruckt genug, um eigene Album-Aufnahmen in Memphis zu planen. Die platzten letztlich nicht aus musikalischen Gründen, sondern wegen der angespannten Sicherheitslage rund um die Stax-Studios. Bereits im Jahr 1966 hatten die Beatles den Memphis Soul adoptiert: So resultierte der basslastige Sound von „Paperback Writer“ aus ein paar Wilson-Pickett-Singles, die John Lennon eines Tages mit ins Studio gebracht hatte: Warum, fragte er die Toningenieure der Beatles, können wir nicht so ähnlich klingen?

Am Ende erhellt dieser Sampler eine oft verkannte Liebesbeziehung. Hat Paul McCartney doch gestanden, manche seiner Songs bereits beim Komponieren aus dem Munde eines schwarzen Sängers gehört zu haben, bei „Let It Be“ sogar ganz speziell die Aretha Franklins. Wenn die Queen Of Soul diesen Song als Schlussnummer bestreitet, mag man jedenfalls kaum glauben, dass er nicht aus einem sehr alten schwarzen Gospel-Gesangbuch stammt.
V.A: Come Together – Black America Sings Lennon/Mc Cartney (Ace)
JONATHAN FISCHER
FAZ 8.12.2011

Kongo Calling

In einem seiner Musikvideos springen Maskierte mit Geisterfratzen und aufgemalten Skeletten durch die Straßen von Kinshasa. Nein, Baloji beschönigt nichts. Und doch erscheint der Kongo, dieses Land, das seit Jahrzehnten nicht zur Ruhe kommen will, auf seinem Album Kinshasa Succursale nicht einfach als afrikanische Vorhölle. Die Idee des 33-jährigen Rappers: Warum nicht die besten Musiker der verschiedenen kongolesischen Pop-Genres – von den scheppernden Metallofonen der Likembe-Orchester über Folk-Sängerinnen bis zum Gitarrengeklingel der Soukous-Bands – vor Ort ins Studio bitten und mit ihnen live ein Hip-Hop-Album einspielen?

In seinem belgischen Exil hatte sich Baloji zunächst an US-amerikanischen Rappern orientiert. Ein Brief seiner im Kongo lebenden Mutter veranlasste ihn vor wenigen Jahren, den Blick auf seine alte Heimat zurückzurichten: Hotel Impala hieß 2008 sein von der Kritik hochgelobtes Solo-Debüt. Kinshasa Succursale gräbt noch tiefer, inszeniert die Zerrissenheit des Kongo wie auch der eigenen Existenz als großes Musiktheater. Am Ende verbinden sich westliche Club-Beats, amerikanischer Soul und afrikanischer Straßen-Funk wie selbstverständlich. Alles wogt im Flow. Da sirren und klirren die Fingerklaviere auf Karibu Ya Bintou, kreiseln dunkle, seelenvoll vibrierende Cluster um den Beat einer Handtrommel, während Baloji auf Französisch, Lingala und Swahili von Zombies rappt. Oder Congo Eza Ya Biso: Funky Soukous-Gitarren galoppieren um die Wette, der Rhythmus peitscht zum Tanz-Delirium. Nur die Raps konterkarieren die Party: »Lauft davon!«, ruft Baloji seinen Landsleuten zu. Und: »Wir haben mehr zu bieten als nur unsere Minen.« Als Rapper nennt er die Verhältnisse beim Namen: Ausländische Konzerne und korrupte Regierungsbeamte teilen die reichen Bodenschätze des Landes unter sich auf, während die meisten Menschen nichts als Armut und Bürgerkriege kennen. Auch den Klassiker Independance Cha Cha hat er neu eingespielt. Baloji rüstet den naiv-optimistischen Unabhängigkeits-Schlager seiner Eltern zur kritischen HipHop-Hymne auf, sein Fazit: »Unser Land muss noch einen weiten Weg zurücklegen.« Und doch hat Kinshasa Succursale eines bereits geschafft: den Kongo mit seiner genialen Fusion auf die Landkarte des Hip-Hop zu setzen.

Baloji: Kinshasa Succursale (Crammed Discs)
DIE ZEIT 8.12.2011

Wider alle Klischees: DJ Paul Kalkbrenner begeistert Zuhörer jenseits aller Club-Szenen

München – Auf der Kanzel ein Knöpfchen-drehender Typ in Jeans und grauem T-Shirt: Paul Kalkbrenner – er sieht sich selbst als elektronischer Live-Musiker – hat mit den landläufigen Raver-Klischees nichts am Hut: Bunte Brillen, Neon-Anzüge, Eintänzer oder gar messianische Posen? Nicht beim Berliner Techno-Minimalisten. Bestenfalls sieht man den 34-jährigen Glatzkopf auf den Großleinwänden über der Bühne mal schwungvoll einen Regler hochfahren. Einen Arm zur Seite schlenzen. Oder eine Faust ballen, wenn der Beat nach einem zarten Gewaber wieder einsetzt. Wie kann so einer gleich an zwei Abenden hintereinander die Zenith-Halle füllen? Als wortlose Ein-Mann-Show einen Ort rocken, wo sonst Eminem oder Bob Dylan auftreten? Tausende Kinder und ihre Eltern einträchtig nebeneinander zum Wippen, Hüpfen, Johlen bringen?

Das Phänomen Paul Kalkbrenner ist mit den traditionellen Begriffen der Techno-Clubwelt nicht mehr zu fassen. Jahrelang dümpelte er im Untergrund des Berliner Nachtlebens herum, bis ihn der Kinofilm „Berlin Calling“ 2008 über Nacht zum Popstar machte. Kalkbrenner spielte da einen DJ, der im weltweiten Jetset die Orientierung verliert, im Drogensumpf versinkt und nur kraft seiner musikalischen Passion die Krise überwindet. Ickarus nannte er sich als Kino-Figur. Der Soundtrack zum Film verkaufte sich 140 000 mal, machte Kalkbrenner zur europaweit gefeierten Lichtfigur des eigentlich längst schon abgeschriebenen Techno-Genres.

Ansteckend wirkt nicht nur seine Jungenhaftigkeit, sondern auch sein souliger Techno-Sound. Melancholische Melodiefragmente, Trance-Effekte und funky Gitarren-Licks entwickeln genug Pop-Appeal, um Menschen jenseits aller Club-Szenen zu begeistern. Drei Stunden bringt Kalkbrenner das Zenith zum Schwingen: Während vorne Pyramidenstümpfe in verschiedenen Farben aufglühen, Eisbrecher durch Schollen pflügen, sich Wasserpflanzen schlängeln, halten die Jüngeren Fotohandys auf den glatzköpfigen Knöpfchendreher, tanzen Rave-Veteranen in Muscle-Shirts selbstversunken zum ozeanischen Auf und Ab der Basswelle, nicken über 40-jährige Weißbärte versonnen vor sich hin. So viel strahlenden Konsens schafft kein Advents-Markt.
JONATHAN FISCHER
SZ 5.12.2011

Umpa – umpa – umpa! Junge Blaskapellen erobern die Popmusik – was steckt hinter der Euphorie?

Als Rocko Schamoni vor zwei Jahren die noch kaum bekannte Chiemgauer Bläsercombo La Brass Banda in seinen Golden Pudel Club nach Hamburg lud, glaubte er, damit provozieren zu können. Bayerische Blasmusik? Soll das ein Witz sein? Doch dann kam alles ganz anders: „Wisst ihr, was der Unterschied zwischen Techno und bayerischem Techno ist?“, rief Bandleader Stefan Dettl in die Runde. Die Tuba schmetterte ein obertongesättigtes Umpa-umpa-umpa. Ein E-Bass setzte ein. Posaune und Schlagzeug legten einen schweren Beat dazu. Die Trompete flatterte sich in Ekstase. Wie immer stand die Band barfuß und in Lederhosen auf der Bühne – und wie immer entfesselte sie eine derartige Druck-welle, dass außer der Musik nur noch die Anfeuerungspfiffe aus dem Publikum zu hören waren. Am Ende tanzten alle mit: die Hausbesetzer mit den Nasenringen, die Techno-Fans und sogar der für diesen Abend gebuchte DJ Carsten „Erobique“ Meyer, der sein Elektro-Set für ein halbes Dutzend Blasmusik-Zugaben ausfallen ließ.

Den fast schon unheimlichen Sog ihrer „Blosmusi“ konnte man inzwischen bei Clubkonzerten in New York und Liverpool erleben, aber auch bei Straßen-Gigs in München oder Dorffesten in der Toskana. „Eine tödliche Kombination von großen Riffs, Arrangements im Lalo-Schifrin-Stil und Tanzflächenknallern“, schwärmte das Londoner Magazin Songlines. Seitdem 2008 ihr erstes Album „Habediehre“ erschien, belegen La Brass Banda ständig einen der ersten drei Plätze der Amazon- und iTunes-Weltmusik-Charts. Sie seien zu fünft ausgezogen, „um die Wucht des Blechs“ zu erforschen, hat Stefan Dettl einmal gesagt. Mit solchen Forschungsergebnissen hatten die Chiemgauer aber wohl selbst nicht gerechnet. Fast schon typisch war der Auftritt auf dem Rockfestival von Roskilde, auf dem das Publikum aus den Konzerten von Nick Cave und The Mars Volta überlief und am Ende 6000 Menschen Pogo tanzten.

La Brass Banda sind dabei nur die Vorhut einer weltweiten Bewegung: Überall blasen junge Kapellen zum Angriff auf den Pop – das Hypnotic Brass Ensemble in Chicago, die Bhangra-Bläser von RedBaraat in Brooklyn oder Samenakoa in Marseille. Was steckt hinter der globalen Bläser-Euphorie? Woher der Boom einer lange belächelten Musik? Wie schafft es La Brass Banda selbst die Münchner Olympiahalle – ansonsten groß genug für Konzerte von Bob Dylan oder Lady Gaga – zu füllen?

„Wir wissen selbst nicht, was da gerade passiert“, sagt Stefan Dettl, aber er möchte es möglicherweise auch gar nicht so genau wissen. Gehören doch achselzuckende Unschuld und grober Unsinn gerade zum Mythos der Blechbläser. „Die Leute haben einfach wieder Lust auf dreckige Musik – etwas Handfestes, das sie auf tieferer Ebene berührt.“ Til Hoffmann, der mit seiner Booking-Agentur Eulenspiegel neben La Brass Banda auch die Münchner Bläser-Hip-Hop-Combo Moop Mama in immer größere Hallen schleust, glaubt an eine Gegenbewegung zur Pop-Globalisierung: „Regionale Phänomene bekommen seit ein paar Jahren einen ganz eigenen Stellenwert.“ Die Menschen suchten das Lokalkolorit. Für die Ziehgäuner aus dem bayerischen Wald, Kein Vorspiel aus Landshut oder die Vorarlberger HMBC mag das stimmen. Selbst die Rap-Veteranen von Blumentopf verneigten sich jüngst vor ihrer Heimat und spielten eine EP mit der Blaskapelle Münsing ein. Allerdings kann die Sehnsucht nach lokalen Bezügen allein kaum den Erfolg der jungen Blechbläser-Welle erklären. Auch in Berlin, Moskau und Liverpool flippte das Publikum bei La Brass Banda aus, schrien Hundertschaften unisono „habedieehre“, ohne dass jemand auch nur eine Silbe übersetzt hätte.

Eva Mair-Holmes vom Münchner Label und Verlag Trikont, das mit der La Brass Banda jetzt überraschend einen Pop-Act im Portfolio hat, sieht im Blechbläser-Boom „eine Gegenreaktion zur zunehmenden Entkörperlichung der Musik. Keine andere Musik fließt so stark über den Atem. Keine andere Musik verlangt ähnlichen körperlichen Einsatz“. Spinnt man diesen Gedanken weiter, ist die physische Wucht einer Blaskapelle nicht nur die Antithese zur blutleeren Drückerei auf Keyboards, Laptops und Samplern, sondern auch ein Musikerlebnis, das im Zeitalter der Soundfiles eine beinahe mystische Einheit zwischen Bläsern und Angeblasenen herstellt. Alle werden Teil eines großen atmenden Klangkörpers: Bio-Pop. „Durch die Atempausen“, sagt Schlagzeuger Manuel Da Coll, „kommt Blasmusik der Sprache nach dem Gesang am nächsten. In jeder Kultur findest du reine Bläser-und- Trommler-Bands – das fährt halt rein.“ Was auch an der Räudigkeit der Intonation liegt. Selbst einstige Konservatoriums-Studenten wie die Musiker von La Brass Banda spielen bisweilen bewusst ungeschliffen. Kirmes-Techno? Hip-Hop? Zwiefacher? Egal, solange das Tuba-Stakkato knallt.

Darin liegt möglicherweise die größte Stärke junger Blaskapellen – ob sie nun aus München, New Orleans oder New York kommen. Aus ihren Trichtern wird alles zu Pop, sie dürfen Snoop Dogg covern und anschließend einen Afrobeat und eine Klezmer-Nummer zum Besten geben. Oder eben auch Riffs und Melodien verschiedenster Songs neu montieren. „Unsere Musik zielt in erster Linie auf die Bühnenwirkung. Wir entwickeln unsere Stücke ausschließlich live“, sagt Stefan Dettl. Dieser Ansatz führt letztlich nach New Orleans zurück. Die Ahnenlinie der Funk-Bläser von heute – mit Trombone Shortys „Supafunk“ als neuester Mutation – geht bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Damals waren die Brassbands die Antwort der Afroamerikaner auf die Marching Bands der weißen Kreolen. Zuerst hatten sie sowohl deren Instrumentierung als auch das Repertoire übernommen: napoleonische Märsche, dann auch Menuette und Quadrillen. Später übersetzte man den eigenen Blues ins Blech.

Anfang der achtziger Jahre schienen die Bläserensembles – einst die ersten Stationen für Jazzer wie Louis Armstrong oder Sidney Bechet – fast ausgestorben zu sein. Erst mit dem Welterfolg der jungen Dirty Dozen Brass Band änderte sich das. Plötzlich gründeten überall Jugendliche ihre eigene Brassband, es wurde nicht mehr marschiert, sondern wie beim Breakdance gegeneinander angetanzt: „Buckjumping“ heißt das akrobatische Ritual in New Orleans. Seitdem sind Kapellen wie die Rebirth Brass Band, die Young Soul Rebels oder die Lil Rascals in der Stadt wieder allgegenwärtig – auf den Bürgersteigen, bei Geschäftseröffnungen, in Clubs, bei Jazz Funerals und den Second Line Umzügen. Selbst die lokalen Rapper buchen sie für ihre Plattenpräsentationen. Die Bands integrieren den Wumms des Hip-Hop, allerlei Charthits und Schwemmgut aus der Karibik in ihre funkigen Riffs. Der Solisten-Starkult zählt hier nicht, stattdessen lässt

gerade die raue Funktionalität und

der Gruppengeist viele Jazzmusiker

überlaufen.

Auch La-Brass-Banda-Trompeter Stefan Dettl hatte sein Erweckungserlebnis: Mit Posaunist Manuel Winbeck wurde er einmal von einem befreundeten DJ engagiert, um dessen Balkan Beats live zu unterstützen. Dann sah Dettl die Youngblood Brass Band in New York und wusste: Blasmusik kann auch ohne DJ funky klingen. Schnell hatte er fünf Studienfreunde versammelt – Tubist Andreas Hofmeir, Bassist Oliver Wrage und Manuel Da Coll, der „stets lauter trommelte, als es im Konservatorium erlaubt war“. „Wir haben absichtlich alle Harmonieinstrumente weggelassen“, sagt Dettl. Wenn es ums Tanzen geht, müsse Jazz laut und lustig sein. Zünftig. Und gerne auch gut geklaut. „Wenn wir zitieren, hat das weniger mit Raub zu tun als mit Liebe“, sagt Manuel Da Coll. Und die gilt bei La Brass Banda eben auch Euro-Trash-Hymnen wie „Rhythm Is A Dancer“ oder „I Like To Move It“. Ein deutliches Zeichen setzt auch die großartige neue Single „Woo Hah Marienkäfer“ mit gesampelten Raps von Busta Rhymes, der die Idee übrigens „motherf. . .funky“ fand. Als nächstes soll es ein Dub-Album geben.
JONATHAN FISCHER
SZ 3.12.2011

„Hiphop spielte eine große Rolle bei der Revolution“ – Wenn Rap nicht Gangsterpose, sondern Teil der politischen Bildung ist: Die libanesische Sängerin Malikah über entsetzte Eltern und verschleierte Worte

Die 25-Jährige gehört zu den bekanntesten Hiphop-Stars im arabischen Raum: Als Tochter libanesischer und algerischer Eltern wächst Lynn Fattouh alias Malikah während des Bürgerkriegs in Beirut auf, unterschreibt mit 16 Jahren ihren ersten Plattenvertrag und tourt durch Frankreich und ganz Arabien. Gerade nimmt sie ein Album als Teil der internationalen weiblichen Hiphop-Band Lyrical Roses auf.

jetzt.de: Sie haben sich mit Ihren sozial engagierten Raps in Arabien einen Namen gemacht. Jetzt arbeiten Sie auch noch mit kenianischen und kolumbianischen Kolleginnen zusammen. Wie kommt das?

Malikah: Die Band entstand dieses Jahr auf dem „Translating Hiphop“-Workshop des Goethe-Instituts. Es ging darum, Texte lokaler MCs aus verschiedenen Ländern in die eigene Sprache zu übersetzen. So stand ich mit Diana Avella in Kolumbien und mit Nazizi in Kenia auf der Bühne. Am Ende war ich überrascht: Überall haben die Menschen ganz unabhängig von ihrer Kultur mit denselben Problemen zu kämpfen. Warum also nicht als rappende Übersetzer auf Tour gehen?

jetzt.de: Apropos Übersetzung: Wie weit dürfen Sie das provokante Vokabular des westlichen Hiphops in Ihrer arabischen Heimat übernehmen?

Malikah: Um es vorwegzunehmen: In meiner Heimat Libanon herrscht verglichen mit dem Rest der arabischen Welt relative Redefreiheit. Allerdings sollte man auch hier bestimmte Themen besser nicht anschneiden. Religion etwa oder Regierungsangelegenheiten. Wenn du trotzdem darüber reden willst, musst du die Bedeutung deiner Worte verschleiern . . .

jetzt.de: . . . was die große lyrische Versiertheit vieler arabischer Rapper erklärt.

Malikah: Auf jeden Fall! Wir sind gezwungen, viel mehr Mühen in unsere Metaphern zu stecken.

jetzt.de: Sie wirken auf der Bühne ähnlich selbstbewusst wie Ihre männlichen Kollegen. Dennoch scheinen Sie als arabische muslimische Rapperin immer noch die Ausnahme zu sein.

Malikah: In der Kultur, Religion und Gesellschaft, aus der ich komme, musste ich auch doppelt so viel Energie investieren wie ein Mann, um respektiert zu werden. Ich habe das immer als Herausforderung gesehen: zu beweisen, dass weibliche MCs locker mit dem Wortwitz und der Energie ihrer männlichen Gegenparts mithalten können. Weibliche Selbstermächtigung: Darum geht es in vielen meiner Raps – besonders angesichts der negativen Frauenbilder in der arabischen Popmusik. So sehr ich die Globalisierung schätze, hier hat sie doch einige hässliche Spuren hinterlassen: Viele arabische Popstars übernehmen die billigsten Frauen-Klischees aus westlichen Hiphop-Videos. Sex sells. Das gilt auch in Arabien. Nur die Verpackung ist etwas dezenter.

jetzt.de: Mit Ihrem politisch-feministischen Anspruch stehen Sie letztlich zwischen allen Fronten, oder?

Malikah: Dass die Religiösen mich beschimpfen, daran habe ich mich gewöhnt. Dazu kommen noch andere, persönlichere Konsequenzen: So werde ich mich schwertun, in meiner Heimat einen Mann zu finden. Keine muslimische Familie hat gerne eine Rapperin als Schwiegertochter.

jetzt.de: Das haben Sie wahrscheinlich schon geahnt, als Sie vor zehn Jahren Ihren ersten Plattenvertrag unterschrieben. Was hat Sie dazu getrieben, all diese Widerstände auf sich zu nehmen?

Malikah: Ich teilte als junges Mädchen ein Zimmer mit meinen Brüdern, und musste mir deshalb dauernd ihre Run DMC -Platten anhören. Irgendwann hat mich diese Energie angesteckt: Damals gab es im Libanon noch keinerlei Hiphop-Studios oder Produzenten, geschweige denn weibliche MCs. Aber ich war schon immer offenherzig mit meiner Meinung und als ich zwei Jungs im Club rappen hörte, dachte ich: Das kann ich auch!

jetzt.de: Wer hat Sie dabei unterstützt? Ihre Eltern?

Malikah: Nein, nein, meine ach so liberalen Eltern waren entsetzt. Sie haben mir das Rappen rundheraus verboten. Sie sagten, es sei schmutzige Gossenmusik. Woher sollten sie es auch besser wissen, wenn das Fernsehen nur die Video-Clips irgendwelcher fluchenden Gangster-Rapper zeigt? Ich versuchte sie dann aufzuklären: dass es beim Rap ursprünglich mal um Respekt für das Publikum und eine starke politische Botschaft ging, und nicht um diesen Gangster-Schwachsinn . . .

jetzt.de: Sie haben ein Problem mit dem Hiphop-Mainstream aus Amerika?

Malikah: Man kann nicht die amerikanischen Rezepte eins zu eins in ein muslimisch geprägtes Land importieren. Hier ist man ja bereits als Sängerin anrüchig: Wer singt, gilt als unrespektable, moralisch zweifelhafte Person. Ausnahmen werden vielleicht für Legenden wie Om Kolthoum oder Fayrouz gemacht. Aber die haben eben als Koransängerinnen angefangen

jetzt.de: Das kommt für Sie nicht in Frage, oder?

Malikah: Der eigentliche Fauxpas für eine Frau ist ja, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Als Koransängerin verhüllst du dein Gesicht: Da zählt die Stimme nur als Instrument im Dienst der Musik. Auch wenn wir arabischen Rapper uns Hiphop auf eine Weise aneignen, die nichts mehr mit Amerika zu tun hat, sondern auf unsere eigene Musiktradition zurückgreifen: Die Bühnenpräsenz einer Rapperin bleibt für viele eine Provokation.

jetzt.de: Sie treten in verschiedenen arabischen Ländern von Dubai über Syrien bis Ägypten auf. Welchen Stellenwert hat Hiphop dort?

Malikah: Besonders in Ägypten blüht eine engagierte Untergrundszene. Vergangene Woche hatte ich einen Auftritt in Kairo – zusammen mit den Lokalgrößen MC Amin, Deeb, den Arabian Knights und Rappern aus Libyen, Jordanien und Palästina. Die Polizei blockierte den Eingang, ließ niemanden ein und verkündete, die Show sei abgesagt. Am Ende fanden wir einen neuen Ort und alle Fans zogen mit. „Hiphop don’t stop“, haben sie gechantet. Die Emotionen kochten hoch. Da habe ich wieder gewusst, was diese Musik bedeuten kann.

jetzt.de: Hatte der Polizei-Einsatz einen politischen Hintergrund?

Malikah: Die Machthaber wissen, dass Hiphop eine große Rolle bei der Revolution spielte – schließlich sind wir es, die die Leute ständig über ihre Rechte aufklären. Außerdem zeigen wir, dass es keine Rolle spielt, ob du Muslim, Christ oder sonst etwas bist. Ich rappe gegen religiöses Sektierertum. In meiner Heimat hatten wir deswegen vor 15 Jahren einen Bürgerkrieg. Das hat mich darin bestärkt, dass Religion Privatsache sein sollte.

jetzt.de: Dennoch scheinen die säkularen jungen Menschen, die die Revolution in Ägypten und Tunesien anfangs vorantrieben, zunehmend von religiösen Kräften verdrängt zu werden.

Malikah: Ich diskutiere ständig mit meinen Kollegen darüber. Wir sind Denker und kennen unsere Geschichte – die Hiphop-Szene gehört deshalb zu den informiertesten Teilen jeder arabischen Gesellschaft. Dieses Wissen verpflichtet: In Amerika mag es ein überholtes Klischee sein, aber wir liefern tatsächlich politische Bildung von unten.
JONATHAN FISCHER
SZ 28.11.2011