Kaum vermarktbar! Das befand die Plattenfirma, als der Soul-Star James Brown in den 1960er Jahren ein Country-Album produzierte; man liess es in den Regalen verstauben. 1979 aber war dem «hardest working man in show business» ein Auftritt in der Grand Ole Opry, dem Country-Tempel in Nashville, vergönnt. Und was für einer! Brown, der früher schon Western-Klassiker wie «Your Cheatin’ Heart» oder «Tennessee Waltz» interpretiert hatte, gab ein Medley seiner Country-Lieblingsstücke zum Besten, um danach sein Funk-Set durchzuziehen.
Viele Besucher sollen empört gewesen sein. James Brown stand für schweisstreibende Rhythmen und für afroamerikanische Selbstermächtigung. Beides lief dem Country-Establishment offenbar zuwider. Er selbst aber nahm es gelassen. «Ich fühlte mich so geehrt», sagte er später, «wie ein weisser Mann, der in eine schwarze Kirche geht und 100 Dollar in die Kollekte gibt.»
James Browns Sinn für Amerikas ländliche Populärmusik kam nicht von ungefähr. War Country nicht schon immer ein heimlicher Verwandter des Souls? Die grosse, schwer geprüfte und lange verleugnete Liebe vieler Afroamerikaner? Die Liste der Soulsänger, die auch Country-Titel aufgenommen haben, reicht jedenfalls von Aretha Franklin bis Bobby Womack, von Solomon Burke bis Tina Turner. Auch Lionel Richie und The Commodores landeten Hits mit Country-Klängen.
Und sehr oft beruhte die Liebe auf Gegenseitigkeit. Country-Paten wie Hank Williams oder A. P. Carter hatten viel von Blues-Musikern gelernt. Die Blueslegende Leadbelly alimentierte das Standard-Country-Repertoire mit zahlreichen Titeln. Und der Soul-Man Jerry Williams Jr alias Swamp Dogg schrieb Anfang der siebziger Jahre einen Hit für den Countrysänger Johnny Paycheck: «(Don’t Take Her) She’s All I Got».
Jetzt hat Swamp Dogg, der wie viele schwarze Sänger mit einem Ohr am Country-Radio aufwuchs, diesen Song nochmals neu aufgenommen – für sein neues, grossartiges Album «Sorry You Couldn’t Make It», das die Verwandtschaft zwischen Country und Southern Soul auslotet. Aber davon später.
Falsche Kategorien
Wer die Verstrickung schwarzer Künstler in den Country näher unter die Lupe nimmt, wird merken, dass Kategorien wie «schwarz» und «weiss» nie ganz in die Musiklandschaft der USA passten. «Von allen ethnischen Gruppen», schreibt Bill C. Malone im Standardwerk «Country Music USA», «hatte keine eine bedeutendere Rolle gespielt, dem Country-Musiker Songmaterial und Stile zu liefern, als die aus Afrika verschleppten Sklaven.» Damit erscheint die Charakterisierung von Country als einer weissen Musik als einseitig und willkürlich.
Gerade in den letzten Jahren tauchen in Nashville vermehrt schwarze Gesichter auf. Zum Beispiel Darius Rucker, der Sänger von Hootie And The Blowfish. Oder Jimmie Allen, der Ende 2018 mit seinem Song «Best Shot» einen Nummer-eins-Hit landete. Oder Kane Brown, ein tätowierter Typ wie aus einem Hip-Hop-Video, dessen Album «Experiment» im selben Jahr sowohl die Pop- als auch die Country-Charts eroberte.
Besonders nahe waren sich Blues und Country vor allem im Süden gekommen. Die Vokalisten des Southern Soul profitierten davon. Das zeigte sich in den sechziger Jahren einmal mehr in den Stax-Studios in Memphis, wo Produzenten schwarze Sängerinnen und Sänger von weissen Musikern begleiten liessen, die dem Ideal des transparenten, ökonomischen Klangs von Country folgten. Gospel-Emotion paarte sich so mit Country-Sensibilität. Die Formel machte bald Schule bei Fame und diversen anderen Labels des Southern Soul.
Auch Swamp Dogg greift auf dieses Rezept zurück, das sich im 21. Jahrhundert weiterhin bewährt. Um es vorwegzunehmen: Der Mann ist nicht nur ein musikalischer Weirdo. Er kann auch – Kernkompetenz des Country – phantastische Geschichten erzählen. Wann hat man zuletzt so Trauriges gehört wie Swamp Doggs neue Ballade «Sleeping Without You Is A Dragg»? Oder «Family Pain»? Hier geht es um eine dem Crack verfallene Familie, die Möbel sind verkauft, kein Essen auf dem Tisch: «Sie haben ihren Stolz weggeworfen, nun verkaufen sie ihre Seele.»
Swamp Doggs Baritongesang strahlt eine schlichte Wärme aus. Tief entspannt sind auch seine Southern-Soul-Arrangements: hier eine köchelnde Orgel, dort eine Slide-Gitarre, dazu ein warmer Groove, der direkt aus den siebziger Jahren zu kommen scheint – trotz Drum-Machine und artifiziellen Bläsersätzen.
Schräge Dramen und surreal-traurige Refrains hatte er bereits in den Seventies für Soulsängerinnen wie Irma Thomas, Sandra Philips oder Doris Duke geschrieben und produziert. Unvergessen auch seine eigenen Alben wie etwa «Rat On», auf dessen Cover Swamp Dogg eine riesige weisse Ratte reitet. Seitdem gilt er als Kultfigur – als eine Art schwarzer Frank Zappa, der seine politische Message musikalisch mit einer Melange aus Wut, Sex und Verzweiflung anreichert.
2018 feierte Swamp Dogg so etwas wie ein Comeback: Die von Justin Vernon (Bon Iver) koproduzierte Rhythm’n’Blues-Orgie «Love, Loss and Autotune» verlieh den fieberhaften Liebesmonologen des Soulsängers dank Streichern und Autokorrektur-Harmonien einen anrührenden Anstrich von Verlorenheit.
Wehmütiger Rückblick
Und nun kehrt der 77-Jährige zu seinen Wurzeln zurück, zum Country-Soul. Wieder dabei ist auch Justin Vernon an der Gitarre. Swamp Dogg hat überdies Duette mit dem eben verstorbenen Nashville-Star John Prine aufgenommen. Auf «Memories» klingt das wie der wehmütige Rückblick zweier alter Männer, deren Stimmen sich am Ende, wenn der Song in der Art beschädigter Tonbänder zu wabern und zu rauschen beginnt, in Vergessenheit zu verlieren scheinen.
Swamp Dogg singt hier für all diejenigen, die der Materialismus des zeitgenössischen Pop und R’n’B oft ausschliesst. Betet er nicht in guter alter Soul-Manier für die verlorenen Seelen? «Sorry You Couldn’t Make It» ist jedenfalls ein postmoderner Southern-Soul-Klassiker. Und eine Erinnerung daran, wie schwarz Country schon immer war.
Swamp Dogg : Sorry You Couldn’t Make It (Joyful Noise)
JONATHAN FISCHER
NZZ 15.4.2020