Monatsarchiv: April 2020

SWAMP DOGG – DIE GEHEIME LIEBSCHAFT ZWISCHEN SOUL UND COUNTRY  Weisser Country und schwarzer Soul haben sich gegenseitig stets beeinflusst. Ein neues Album der Southern-Soul-Legende Swamp Dogg zeigt die musikalische Verwandtschaft auf schräge und anrührende Weise.

Kaum vermarktbar! Das befand die Plattenfirma, als der Soul-Star James Brown in den 1960er Jahren ein Country-Album produzierte; man liess es in den Regalen verstauben. 1979 aber war dem «hardest working man in show business» ein Auftritt in der Grand Ole Opry, dem Country-Tempel in Nashville, vergönnt. Und was für einer! Brown, der früher schon Western-Klassiker wie «Your Cheatin’ Heart» oder «Tennessee Waltz» interpretiert hatte, gab ein Medley seiner Country-Lieblingsstücke zum Besten, um danach sein Funk-Set durchzuziehen.swamp dogg

Viele Besucher sollen empört gewesen sein. James Brown stand für schweisstreibende Rhythmen und für afroamerikanische Selbstermächtigung. Beides lief dem Country-Establishment offenbar zuwider. Er selbst aber nahm es gelassen. «Ich fühlte mich so geehrt», sagte er später, «wie ein weisser Mann, der in eine schwarze Kirche geht und 100 Dollar in die Kollekte gibt.»

James Browns Sinn für Amerikas ländliche Populärmusik kam nicht von ungefähr. War Country nicht schon immer ein heimlicher Verwandter des Souls? Die grosse, schwer geprüfte und lange verleugnete Liebe vieler Afroamerikaner? Die Liste der Soulsänger, die auch Country-Titel aufgenommen haben, reicht jedenfalls von Aretha Franklin bis Bobby Womack, von Solomon Burke bis Tina Turner. Auch Lionel Richie und The Commodores landeten Hits mit Country-Klängen.

Und sehr oft beruhte die Liebe auf Gegenseitigkeit. Country-Paten wie Hank Williams oder A. P. Carter hatten viel von Blues-Musikern gelernt. Die Blueslegende Leadbelly alimentierte das Standard-Country-Repertoire mit zahlreichen Titeln. Und der Soul-Man Jerry Williams Jr alias Swamp Dogg schrieb Anfang der siebziger Jahre einen Hit für den Countrysänger Johnny Paycheck: «(Don’t Take Her) She’s All I Got».

Jetzt hat Swamp Dogg, der wie viele schwarze Sänger mit einem Ohr am Country-Radio aufwuchs, diesen Song nochmals neu aufgenommen – für sein neues, grossartiges Album «Sorry You Couldn’t Make It», das die Verwandtschaft zwischen Country und Southern Soul auslotet. Aber davon später.

Falsche Kategorien

Wer die Verstrickung schwarzer Künstler in den Country näher unter die Lupe nimmt, wird merken, dass Kategorien wie «schwarz» und «weiss» nie ganz in die Musiklandschaft der USA passten. «Von allen ethnischen Gruppen», schreibt Bill C. Malone im Standardwerk «Country Music USA», «hatte keine eine bedeutendere Rolle gespielt, dem Country-Musiker Songmaterial und Stile zu liefern, als die aus Afrika verschleppten Sklaven.» Damit erscheint die Charakterisierung von Country als einer weissen Musik als einseitig und willkürlich.

Gerade in den letzten Jahren tauchen in Nashville vermehrt schwarze Gesichter auf. Zum Beispiel Darius Rucker, der Sänger von Hootie And The Blowfish. Oder Jimmie Allen, der Ende 2018 mit seinem Song «Best Shot» einen Nummer-eins-Hit landete. Oder Kane Brown, ein tätowierter Typ wie aus einem Hip-Hop-Video, dessen Album «Experiment» im selben Jahr sowohl die Pop- als auch die Country-Charts eroberte.

Besonders nahe waren sich Blues und Country vor allem im Süden gekommen. Die Vokalisten des Southern Soul profitierten davon. Das zeigte sich in den sechziger Jahren einmal mehr in den Stax-Studios in Memphis, wo Produzenten schwarze Sängerinnen und Sänger von weissen Musikern begleiten liessen, die dem Ideal des transparenten, ökonomischen Klangs von Country folgten. Gospel-Emotion paarte sich so mit Country-Sensibilität. Die Formel machte bald Schule bei Fame und diversen anderen Labels des Southern Soul.

Auch Swamp Dogg greift auf dieses Rezept zurück, das sich im 21. Jahrhundert weiterhin bewährt. Um es vorwegzunehmen: Der Mann ist nicht nur ein musikalischer Weirdo. Er kann auch – Kernkompetenz des Country – phantastische Geschichten erzählen. Wann hat man zuletzt so Trauriges gehört wie Swamp Doggs neue Ballade «Sleeping Without You Is A Dragg»? Oder «Family Pain»? Hier geht es um eine dem Crack verfallene Familie, die Möbel sind verkauft, kein Essen auf dem Tisch: «Sie haben ihren Stolz weggeworfen, nun verkaufen sie ihre Seele.»

Swamp Doggs Baritongesang strahlt eine schlichte Wärme aus. Tief entspannt sind auch seine Southern-Soul-Arrangements: hier eine köchelnde Orgel, dort eine Slide-Gitarre, dazu ein warmer Groove, der direkt aus den siebziger Jahren zu kommen scheint – trotz Drum-Machine und artifiziellen Bläsersätzen.

Schräge Dramen und surreal-traurige Refrains hatte er bereits in den Seventies für Soulsängerinnen wie Irma Thomas, Sandra Philips oder Doris Duke geschrieben und produziert. Unvergessen auch seine eigenen Alben wie etwa «Rat On», auf dessen Cover Swamp Dogg eine riesige weisse Ratte reitet. Seitdem gilt er als Kultfigur – als eine Art schwarzer Frank Zappa, der seine politische Message musikalisch mit einer Melange aus Wut, Sex und Verzweiflung anreichert.

2018 feierte Swamp Dogg so etwas wie ein Comeback: Die von Justin Vernon (Bon Iver) koproduzierte Rhythm’n’Blues-Orgie «Love, Loss and Autotune» verlieh den fieberhaften Liebesmonologen des Soulsängers dank Streichern und Autokorrektur-Harmonien einen anrührenden Anstrich von Verlorenheit.

Wehmütiger Rückblick

Und nun kehrt der 77-Jährige zu seinen Wurzeln zurück, zum Country-Soul. Wieder dabei ist auch Justin Vernon an der Gitarre. Swamp Dogg hat überdies Duette mit dem eben verstorbenen Nashville-Star John Prine aufgenommen. Auf «Memories» klingt das wie der wehmütige Rückblick zweier alter Männer, deren Stimmen sich am Ende, wenn der Song in der Art beschädigter Tonbänder zu wabern und zu rauschen beginnt, in Vergessenheit zu verlieren scheinen.

Swamp Dogg singt hier für all diejenigen, die der Materialismus des zeitgenössischen Pop und R’n’B oft ausschliesst. Betet er nicht in guter alter Soul-Manier für die verlorenen Seelen? «Sorry You Couldn’t Make It» ist jedenfalls ein postmoderner Southern-Soul-Klassiker. Und eine Erinnerung daran, wie schwarz Country schon immer war.

Swamp Dogg : Sorry You Couldn’t Make It (Joyful Noise)

JONATHAN FISCHER

NZZ 15.4.2020

Ein Existenzialist aus Kentucky – Als Postbote in Chicago schrieb John Prine sein erstes Album, das von Bob Dylan sofort berühmt gemacht wurde. Am Dienstag verstarb er an den Folgen einer Corona-Infektion.

Niemandem verdankt die sogenannte „Americana“-Musik, die man sich als den langhaarigen, kiffenden und Beat-Literatur lesenden Bruder des Country vorstellen kannt, mehr als John Prine. Und niemand blieb dabei zurückhaltender als der ehemalige Postbote aus Chicago: Das machte schon 1970 der erste Zeitungsartikel über den damals völlig unbekannten Singer-Songwriter klar: „Er erscheint mit einer derartigen Bescheidenheit auf der Bühne, dass er sich beinahe in die Scheinwerfer zurückzuziehen scheint. Aber nach ein, zwei Songs hören ihm selbst die Betrunkenen im Raum zu. Und dann packt er dich“. Prine hatte diese Gabe, Songs zu singen, die vor allem aus Bildern bestanden. „There‘s a hole in daddy‘s arm where all the money goes/ Jesus Christ died for nothin‘ I suppose“, sang er etwa in „Sam Stone“ seiner Hymne an alle zu Junkies gewordenen Veteranen. Geht es noch zart-bitterer?

Prine spielte 1971 sein Debut ein, auf dem dieser Song neben dem von Bonnie Raitt erfolgreich gecoverten „Angel From Montgomery“ oder „Your Flag Decal Won‘t Get You To Heaven Anymore“ zu hören ist. Was für eine Überraschung als Folk-Gott Dylan, der vorab heimlich ein Exemplar des noch unveröffentlichten Albums erhalten hatte, auf einer Party eines befreundeten Musikers in New York Prines „Far From Me“ einstimmte. „Prines Stoff ist purer Proust‘scher Existentialismus“ sollte Dylan vier Jahrzehnte später erklären. Wenn Prine auch oft über die dunklen Löcher zwischen einst Liebenden singt, und die unsagbare Sehnsucht hinter vermeintlich krisenfesten Arrangements – dann hat er doch nie das politisch-gesellschaftliche Engagement gescheut. Etwa in „Paradise“, wo er die Natur-Zerstörungen der Kohleindustrie im ländlichen Kentucky, wo er seine Kindheit verbrachte, anprangert. Heute ist der Song ein Country-Standard. Unter anderen Johnny Cash, die Everly Brothers, Roy Acuff und Dwight Yoakam haben Prine gecovert, Dan Auerbach, Bruce Springsteen und Kris Kristofferson zitieren ihn als wichtigen Einfluss. Wohl auch weil Prine den einfachen Menschen seiner Songs stets Würde und Mitgefühl verleiht. Menschliche Größe zeigte er zum Schluss auch in seinem eigenen Leben: Seit 1998 hatte Prine mit Speiseröhren- und später mit Lungenkrebs zu kämpfen, und nahm – nun mit seiner typisch rauchigen Crooner-Stimme – dennoch weiterhin großartige Alben auf. Sein letztes aus dem Jahre 2018 endet mit der von drei Generationen gesungenen Sterblichkeits-Hymne „When I Get To Heaven“. Nun nach einer tödlichen Erkrankung am Covid19-Virus möge John Prine, der passionierte Raucher und Genussmensch, hoffentlich recht behalten: „Wenn ich in den Himmel komme werde ich Gottes Hand schütteln… und eine neun Meilen lange Zigarette rauchen“.

JONATHAN FISCHERjohn prine

LAGOS NOIR Jenseits von Gut und Böse: In Oyinkan Braithwaites Debütroman ziehen zwei Schwestern mordend durch Lagos und haben ein klein wenig zu viel Spaß dabei

 

Moment mal, ist das nicht ein arg konstruierter Plot? Eine gut aussehende junge Frau, die ihre Liebhaber der Reihe nach ermordet und verschwinden lässt und dabei die Hilfe ihrer kreuzbraven, aber im Zweifel loyalen Schwester in Anspruch nimmt? Aber dann fällt einem wieder ein, dass die Autorin Oyinkan Braithwaite in Lagos lebt, genau wie die zwei ungleichen Schwestern Korede und Ayoola, die Heldinnen ihres Booker-Prize-nominierten Romans „Meine Schwester, die Serienmörderin“. Und dass aus dieser westafrikanischen Metropole nicht nur regelmäßig die Mails kommen, in denen von einem Bankdirektor die Rede ist, der einem zehn Millionen Dollar vererben möchte, sondern auch jede Menge Horrornachrichten: zuletzt etwa die von den aus einem Mafia-Gefängnis befreiten Babys und ihren Müttern, die dort zur Zucht von Adoptivkindern gezwungen wurden.

Wenn in Lagos jährlich Hunderte Menschen auf ungeklärte Weise verschwinden, dann scheint in diesem Klima von Korruption und Gewalt auch die Mordserie einer jungen Frau aus der Mittelschicht im Bereich des Möglichen.

Ayoola hat für ihre Opfer bestenfalls ein Schulterzucken übrig. Einer ihrer Liebhaber stirbt mit Schaum um den Mund an einer Lebensmittelvergiftung, einen anderen ersticht sie, nachdem er sie anschreit – später wird sie behaupten, es sei Notwehr gewesen. „Nur wer schuld ist, kommt ins Gefängnis.“ Dank des scharfen Messers in ihrer Handtasche, das sie einst ihrem Vater gestohlen hat, geht ihr das Morden erstaunlich leicht von der Hand. Über ihre Motive erfährt der Leser wenig, für Tiefenpsychologie ist in der Story kein Platz.

Aber auch der Begriff Krimi passt nur oberflächlich. „Meine Schwester, die Serienmörderin“ erzählt von der Beziehungsdynamik zwischen den beiden Schwestern, dem Clash ihrer höchst unterschiedlichen Charaktere: Auf der einen Seite Ayoola, Modedesignerin und eine die Instagram-Fangemeinde bedienende Unternehmerin: keck, selbstbezogen und jederzeit bereit, ihre weiblichen Reize einzusetzen. Auf der anderen Seite die Erzählerin Korede, die als Oberschwester im Krankenhaus arbeitet und sich seit ihrer Kindheit mit der Rolle der weniger bewunderten Schwester abgefunden hat: „Die Schule kann grausam sein. Die Jungs schrieben damals Listen derjenigen Mädchen, die einen Achterkörper hatten – wie eine Coca-Cola-Flasche –, und derjenigen die einen Einserkörper hatten – wie ein Stock.“

Die Spannung des Romans entsteht weniger durch die Morde als durch das Geschwisterdrama zwischen der offensichtlich empathielosen Jüngeren und ihrer älteren Aufpasserin. Vordergründig sind sie Rivalinnen. Korede, von der man sagt, sie sei „die ideale Ehefrau“, muss zusehen, wie alle Komplimente und Blumensträuße stets an die Adresse der jüngeren Schwester gehen, wie selbst der sonst so vernünftig wirkende Krankenhausarzt bei Ayoola jede Zurückhaltung verliert. Dem entgegen steht eine familienbedingte Solidarität: Beide haben unter dem Vater gelitten, einem Patriarchen, der seine Tochter Ayoola Geschäftspartnern wie Ware anbot und der unter mysteriösen Umständen verstarb. Bei den Serienmorden agieren die Schwestern deshalb wie Verbündete. Regelmäßig hilft die gewissenhafte Korede Ayoola aus der Patsche – und sei es durch Schrubben und Säubern des Mordschauplatzes und die Beseitigung der Leiche im Kofferraum ihres Autos. Schließlich kennt sie sich von Berufs wegen mit Ammoniak und anderen Reinigungsmitteln aus.

Braithwaite lässt aber auch die Frage, ob es sich bei der Mordserie um eine verbrämte Rache am Vater handeln könnte, erst einmal offen, die Prosa ist schnörkellos und funktional, die Kapitel tragen Einwortüberschriften: „Bleiche“, „Leiche“, „Tanzen“, „Vater“, „Messer“ … Selbst gelegentlicher Sprachkitsch („das Herz rutscht mir bis in die Kniekehle“) kann den Flow nicht bremsen. Vielmehr schafft Koredes distanzierte, lakonische Erzählstimme und ihre passive Haltung erst die Fallhöhe für die Monstrositäten ihrer Schwester. Dazu kommt Braithwaites Gespür für Situationskomik: Wenn Korede regelmäßig vor einem Komapatienten im Krankenhaus Ayoolas Morde beichtet – und dieser plötzlich zu verstehen gibt, dass er sehr wohl verstanden hat. Oder sie sich um die Snapchat-Aktivitäten ihrer Schwester sorgt: Passen Essens- und Rosenfotos zur Rolle der besorgten Freundin eines Vermissten, die sie eigentlich spielen müsste? „Sie macht einen Schmollmund: ‚Wie lange muss ich denn noch langweiliges, trauriges Zeugs posten?‘ ‚Du musst gar nichts posten.‘ ‚Aber wie lange noch?‘ ‚Ein Jahr vielleicht.‘ ‚Das ist nicht dein Ernst.‘“

Am stärksten ist dieses Roman-Debüt, wo britischer Humor auf die Realität des Alltags in Lagos trifft. Braithwaite kennt beides aus eigener Anschauung: Einen Teil ihrer Kindheit hat sie in London verbracht, studierte später Jura und Kreatives Schreiben in Surrey und Kingston, Jamaika, bevor sie 2012 endgültig zu ihrer Familie nach Lagos zurückkehrte. Dort hat sie bei einem Verlagshaus gearbeitet und sich als Spoken-Word-Künstlerin und Finalistin beim den „Commonwealth Short Story Prize“ einen Namen als Autorin gemacht.

Dem Webzine „Okayafrica“ erzählte die die 32-jährige Autorin kürzlich, dass es gerade ihr Ehrgeiz war, der sie immer behindert habe. Bis sie sich den großen Roman aus dem Kopf schlug und nur noch zum eigenen Vergnügen schrieb. Das Ergebnis war „My Sister The Serial Killer“, ein Genre-Mashup aus Krimi, Satire, Liebesroman und Familiensaga, der dies- und jenseits des Atlantiks zum Erfolg wurde. „Ich denke, die Geschichte funktioniert, weil sie in Nigeria spielt“, sagt die Autorin. „Bei uns genießt die Familie, inklusive all der Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen ersten und zweiten Grades oberste Priorität. Die Ältere muss die Verantwortung für die Jüngeren übernehmen. Koredes Pflichtgefühl kann in dieser Umgebung aufblühen.“

Nigerianisches Lokalkolorit scheint in vielen weiteren Details durch: In Koredes Erinnerungen tritt der Vater in seiner traditionellen Agbada und dem geschnitzten Stock auf, der ihn als Ehrenmann ausweisen soll, aber eine Spur der Gewalt bis in die Gegenwart hinterlassen hat. Oder die Frau des Komapatienten, die der Krankenschwester unterstellt, sie habe Juju oder Hexerei angewendet, um ihren Ehemann aus dem Verkehr zu ziehen. Oder die Verkehrskontrolle, bei der unmittelbar klar ist, dass die Polizisten lediglich Lösegeld erpressen wollen: „An einem ganz gewöhnlichen Tag würde ich mich wehren, aber ich darf gerade keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen … meine Gedanken wandern zu dem Ammoniakfleck im Kofferraum. ‚Oga‘, sage ich mit aller Ehrerbietung, die ich aufbringen kann. ‚Nicht böse sein …‘ Gebildete Frauen verärgern Männer wie ihn, also bemühe ich mich in ganz einfachem Englisch zu sprechen …“

Anders als im herkömmlichen Kriminalroman, wo junge Frauen in der Regel die Opfer geben, sind es hier die Männer, die niemals so unersetzlich scheinen, dass sie nicht ein paar Kapitel später entsorgt werden könnten. „Mich interessieren starke weibliche Charaktere“, sagt Braithwaite, „Frauen, die Macht ausstrahlen, auch wenn sie moralisch falsch handeln.“ Ihr Buch empfänden deswegen selbst ihre Familienangehörigen als Zumutung. Zu wenig Reue, zu wenig Hoffnung.

Dazu muss man wissen, dass Braithwaite für die Theatergruppe ihrer Kirche eher erbauliche Stücke schreibt und es ihr schwergefallen ist, ihren Glauben mit der Sündenlitanei ihrer Romanheldinnen zu versöhnen. Das Buch tatsächlich zu veröffentlichen, sei ihr nicht leichtgefallen, auch weil es eine Emanzipation von der impliziten Aufforderung bedeutet, der sich im Grunde alle afrikanische Autoren gegenübersehen: für einen ganzen Kontinent sprechen zu müssen und als Afrikaner für den Zustand der afrikanischen Gesellschaft geradestehen zu müssen. Letztlich handelt „Meine Schwester, die Serienmörderin“ von zwei Frauen, die sich in einer patriarchalen und sexistischen Gesellschaft zur Wehr setzen – und die gerade wegen ihrer moralischen Ambiguität und kriminellen Energie faszinieren.

Oyinkan Braithwaite: Meine Schwester, die Serienmörderin. Roman. Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer. Blumenbar Verlag, Berlin 2020. 239 Seiten, 20 Euro.

JONATHAN FISCHER

SZ 4.4.2020lagos night

Bach, Händel und ein Hallelujah: Der große Musiker und Brückenbauer Manu Dibango ist gestorben

Mamako mamasa maka makossa. Selbst der, der Kamerun nie auf der Landkarte finden würde, hat den Chant schon gehört. Wo? Bei Beyoncé? Bei Rihannas „Don‘t Stop The Music“? Oder in Michael Jacksons „Wanna Be Starting Something“? Alles möglich, denn: Dieser Chorus wurde hundertfach von westlichen Pop-Musikern gesamplet oder nachgespielt.

  Das 1972er Original aber stammt von einem Saxofonisten und Sänger aus Kamerun: von Manu Dibango. Lange bevor das Wort „Weltmusik“ die Runde machte, fusionierte er James Brown mit den Tanzrhythmen seiner afrikanischen Heimat, brachte er seine große Liebe, den Jazz, mit afroamerikanischem Twist und kongolesischem Rumba zusammen. Ganz abgesehen von seinen späteren Ausflügen in Reggae, Salsa und Hip-Hop. Manu Dibango war einer der ersten afrikanischen Künstler, der das Ethno-Etikett abstreifte. Vorher galt alles aus Afrika als Folk. Und nun das: Mamako mamasa . . .

  Dibangos sonorer Tiefstbass-Chant, sein Stakkato-Saxofon plus funky Rhythmus machten die Tanzflächen-Hypnose perfekt. Der Song wurde ein weltweiter Disco- und Pophit – und von zwei Dutzend Plattenfirmen in Umlauf gebracht, bevor ihn „Atlantic Records“ offiziell lizenzierte.

  Manu Dibango auf seinen größten Hit zu reduzieren, wäre ungerecht. Als Saxofonist mag er die afrikanische Version eines King Curtis geben. Seine eigentliche Stärke aber war die Vision eines Afro-Jazz, der keine nationalen oder Genre-Grenzen mehr kennt: „Wir sind eine neue Rasse“, sagte Dibango, der mit glänzender Glatze und Sonnenbrille stets wie eine Mischung aus Cool Dude und Dorfältestem rüberkam. „Afrikanische Musiker behalten zwar immer noch ihre Wurzeln, aber sie sind nun überall auf der Welt daheim. Überall und nirgendwo“.

  Das verdeutlichte schon „Saxy Party“ sein erstes Album aus dem Jahre 1969, auf dem er einige Kompositionen als „Afro-Jerks“ auswies und „I Want To Be Black“ seines einstigen Mitstreiters Nino Ferrer coverte. Nachdem New Yorker DJs „Soul Makossa“ groß gespielt hatten, traten auch die „Fania All Stars“ an ihn heran: Sie nahmen eine eigene Version des Hits auf, tourten zwei Jahre lang mit Dibango durch die Welt, traten mit ihm und Celia Cruz beim legendären Musikfestival Zaire 74 vor dem „Rumble in the Jungle“ auf.

  Dibangos Musiklaufbahn begann in der protestantischen Kirche. Am 12. Dezember 1933 in Douala, Kamerun, als Kind eines Staatsdieners geboren, spielte er nach dem Bibelunterricht heimlich auf dem Harmonium seines Onkels, ein Instrument, das deutsche Kolonialisten einst ins Land gebracht hatten. Über den von seiner Mutter geleiteten Kirchenchor kam er zur Klassik: „Ich bin mit vielen Hallelujas aufgewachsen. Wenn ich in einem Ohr die Harmonien von Bach und Händel höre, höre ich mit dem anderen kamerunische Chants. Deswegen konnte ich stets alles in Stereo statt Mono hören“.

  Mit 15 schickten ihn die Eltern auf eine Schule nach Frankreich. Dibango kam mit drei Kilo Kaffee als Geschenk für seine französische Gastfamilie an – und sollte sich bald in den Jazzkellern von Paris vergnügen. Wie seine Mitschüler schwärmte er für Louis Armstrong und Sidney Bechet, sammelte Vinylplatten und kam – eher durch einen Zufall – vom Klavier über die Mandoline zum Saxofon. Ein Glücksfall, dass er als Kneipenmusiker in Brüssel die Bekanntschaft mit Joseph Kabasele machte. Denn der kongolesische Bandleader nahm ihn in seine Band „African Jazz“ auf: Hier spielte Dibango erstmals afrikanische Musik. Und verband sie mit Jazz.

  Es war der Anfang Dutzender Fusionsexperimente. Dazu gehört sein 1979er Reggae-Album mit Sly Dunbar und Robbie Shakespeare, der Elektro-Jazz mit Herbie Hancock, die panafrikanische Musik von „Wakafrika“ mit Yousssou N‘dour, Salif Keita und King Sunny Ade. Und dann behält sich Dibango vor, ein Konzert, wie im letzten Jahr in Paris, auch mal mit einem Kirchenchor zu eröffnen. Letztlich aber blieb er: Ein Brückenbauer zwischen Europa, Afrika und Nordamerika. Wer außer ihm konnte eine Soul-Nummer mit einem Rumba-Rhythmus unterlegen, eine Ellingtonische Bläsersektion mit Afro-Chants und Funk-Bässen zusammenspannen? Und dann noch einen Bebop-Riff obendraufpacken? Gestern ist Manu Dibango in einem Krankenhaus in Paris einer Infektion mit dem Covid-19 Virus erlegen. Er wurde 86 Jahre alt. Getanzt aber wird in seinem Namen garantiert noch lange. Mamako mamasa maka makossa.

JONATHAN FISCHER

SZ 25.3.2020manu dibango

WENN BETEN NICHT REICHT Händewasch-Hymnen, geschlossene Kirchen und ein Ende der Musik als sozialer Motor: Die Pandemie zeigt die Schwächen der afrikanischen Kulturszene.

Bei vielen Afrikanern hielt sich lange der Irrglaube, das Corona-Virus würde vor allem Europäer oder Chinesen betreffen – bis das große Prominenten-Sterben anfing. Denn für den afrikanischen Pop geht es gerade Schlag auf Schlag: Erst letzten Dienstag der Tod des an COVID-19 erkrankten kamerunischen „Soul Makossa“-Predigers Manu Dibango. Schon fünf Tage zuvor, am 19. März, war der kongolesische Superstar Aurlus Mebélé einer Corona-Virus-Infektion erlegen. Ausgerechnet er, der „König des Soukous“. Seit den 80er Jahren hatte Mebélé mit seiner Band Loketo den kongolesischen Soukous weltweit bekannt gemacht, eine Musik, die auch als vitalistisches Schutzschild galt. Was ließ sich nicht alles zu seinen klingelnden Gitarren und Engelsgesängen wegtanzen: Depression, Armut, ja vorübergehend selbst der von Gewalt und Korruption geprägte Alltag. Afrikanischer Pop war schon immer mehr als Unterhaltung. Lieferte das Krisenmedikament. Ein süßes, rausch-induzierendes Gegengift zu einer real erfahrenen Ohnmacht.

Die COVID-19 Panepidemie aber stellt afrikanische Musiker vor völlig neue Herausforderungen: Noch sind die bekannten Fälle von Infektionen in Afrika relativ niedrig. Doch die afrikanische Pop-Szene hat bereits reagiert. Viele Künstler kontern die Herausforderung auf ihre ureigenste Weise – mit Corona-Songs: So haben die kongolesischen Sänger Koffi Olimide und Fally Ipupa jeweils von daheim aus Hygiene-Botschaften in Umlauf gebracht. „Les bisous stop!“ singt Ipupa zur akustischen Gitarre den eingängigen Refrain seiner Händewasch- und Zuhausebleiben-Predigt. Musik und Tanz gelten überall in Afrika als bewährte Motivationsmittel. Zumindest in dieser Hinsicht bieten die sozialen Netzwerke in Zeiten der Quarantäne eine Ersatz-Bühne: So avancierte ein Song des südafrikanischen Ndlovu Youth Choir in kürzester Zeit zum Twitter-Hit. „Es gibt bereits so viele gefährliche Mythen und Missverständnisse rund um das Coronavirus/COVID-19. … wir erklären einige grundsätzliche Handlungsrichtlinien“ untertitelt das Tanz-Video. Der Songtext ist auf Englisch und Zulu gehalten. Dabei kommt der Band in den farbenfrohen traditionellen Kostümen ihre weltweite Popularität zu Gute – sie hatte es letztes Jahr bis in die Endrunde der Fernsehshow „America‘s Got Talent“ geschafft. Der hoffnungsvolle Refrain ihres Songs: „Wascht euch die Hände, fasst euch nicht ins Gesicht, habt keine Panik und verbreitet keine Gerüchte – so werden wir Corona schlagen“.

Wahrscheinlich gibt es inzwischen Hände-Wasch-Songs in jeder afrikanischen Sprache. Selbst HipHop-Stars sind mit von der Partie: So hat etwa Bobi Wine, der als Parlamentsabgeordneter und Polit-Rapper die Opposition in Uganda anführt, zusammen mit Sänger Nubian Li einen Song lanciert, der die Wichtigkeit persönlicher Hygiene unterstreicht: „Jeder ist ein potentielles Opfer “, singt er zu einem Reggae-Rhythmus, „aber die gute Nachricht ist: Jeder kann auch zur Lösung beitragen“. Ganz ähnliche Botschaften schickt der positiv getestete tansanische HipHopper Mwana FA aus der häuslichen Quarantäne an seine Fans. Während sein Landsmann und Rhythm‘n Blues-Star Ravanny in „Corona – Magufuli“ zusammen mit einem Mundschutzmasken-tragenden Chor eine Ansprache des tansanischen Präsidenten Magufuli samplet und singt: „Lasst uns alle beten“. Magufuli hatte zuletzt für Kontroversen gesorgt: So begründete das christliche Staatsoberhaupt die Öffnung der Moscheen und Gotteshäuser damit, dass „der Corona-Virus satanisch sei und nicht im Körper Jesu Christi überleben kann“. Nur gut, dass Rayvannys Millionen-fach geklickter Song solche gefährliche Propaganda außen vor lässt.

Afrikanische Musiker also an vorderster Front – sowohl was Aufklärung als auch die Verbreitung staatstragender Botschaften betrifft. Wovon aber sollen sie in diesen Zeiten leben? Wie im Westen betreffen die Versammlungsverbote in den meisten afrikanischen Ländern auch die Restaurants und Clubs – und damit die Einnahmequellen für örtliche Musiker. Ebenfalls abgesagt: Festivals wie FEMUA in der Elfenbeinküste, das südafrikanische Cape Town Jazz Festival oder das Festival Gnaoua et Musiques du Monde in Marokko – Musikmessen, die als wichtige Schaufenster der afrikanischen Popszene zur westlichen Welt dienten.Die letzte Chance dazu bot das MASA-Festival in Abidjan vom 7.-14. März. Zwei Tage später erklärte die Regierung der Elfenbeinküste alle Schulen, Universitäten, Nachtclubs und Vergnügungsstätten für geschlossen. Städte wie Abidjan, Rabat, Fes oder auch Bamako haben bisher wirtschaftlich massiv von ihren Festivals und dem damit verbundenen Musik-Tourismus profitiert. An der örtlichen Live-Musik-Szene hängen denn nicht nur die Künstler, sondern auch Veranstalter, Graphiker, Bühnentechniker, Handwerker-Märkte, Straßenhändler und viele mehr. Oft bedeutete ein Konzert – wie etwa im Fall der abgesagten Auftritte von Reggae-Star Tiken Jah Fakoly in Burkina Faso – die einzige Möglichkeit, Geld für soziale Zwecke aufzutreiben. In diesem Fall zur Finanzierung eines Dialyse-zentrums und eines Heims für Witwen und Waisen.

Afrikanische Superstars wie Davido oder Burna Boy werden die Ausfälle womöglich leicht wegstecken – auch dank Millionen Klicks auf Streaming-Diensten und Online-Plattformen.

Einige von ihnen spenden sogar. So hat Youssou N‘Dour umgerechnet gut 150 000 Euro aus seinem Privatvermögen für den Kauf medizinischer Güter und die Gesundheits-Infrastruktur zur Verfügung gestellt, andere prominente senegalesische Sänger wie Wally Seck und Pape Diouf folgten seinem Beispiel, der Kongolese Fally Ipupa kündigte Hilfen für die Ärmsten aus den Mitteln seiner Stiftung an. Aber was ist mit dem Rest? Den vielen hochkarätigen aber finanziell weniger abgesicherten Musikern? Welche Alternativen bleiben ihnen angesichts des Zusammenbruchs des Musikbusiness?

„In Lagos sind Versammlungen von mehr als 50 Personen untersagt“, erzählt der deutsch-nigerianische Musiker Ade Bantu aus seinem Studio in der nigerianischen Hauptstadt. Eigentlich sollte demnächst sein neues Album erscheinen. Aber nun kann er die restlichen Aufnahmen und Video-Drehs erst einmal vergessen. „Ich brauche für meine Art von Afrobeat mindestens acht bis zehn Musiker im Studio. Das ist mir wegen der Ansteckungsgefahr zu riskant“. Er habe schon jetzt durch die Quarantäne und Konzert-Absagen viel Geld verloren. Als einer der selbst regelmäßig Festivals in Lagos veranstaltet weiß er: Die Tourbooker und Festivalveranstallter sind – nach monatelanger unbezahlter Arbeit – die größten finanziellen Verlierer der Krise. Auch viele Kollegen befänden sich in einer hoffnungslosen Lage: „Die Kirchen wo die meisten Musiker ihren Lebensunterhalt verdienen, sind leer, die üblichen Jobs auf Hochzeiten und Geburtagspartys alle abgesagt – und das in einer Situation wo die Hälfte der Nigerianer mit weniger als zwei Dollar pro Tag überleben müssen.“ Gibt es eine Diskussion darüber, wie man freischaffende Künstler kompensieren könne? „Da wird auch von Seiten der Regierung nichts kommen“.

Ähnliches berichten Künstler aus ganz Afrika: Wenn die staatlichen Kassen nicht sowieso leer sind, dann steht Kulturförderung auf der Rangliste der Prioritäten weit hinten. So weit, dass schon die Frage nach Hilfen vom Staat als absurd empfunden wird. „Wir Musiker“, sagt Wassa Kouyate, eine junge Kora-Spielerin und Sängerin aus Mali, „sind auf uns selbst gestellt. Im Moment überleben wir nur, weil alle ihre Ersparnisse miteinander teilen. Aber das reicht nicht für lange“. Am 12. März war Kouyate von Bamako nach Paris geflogen – für eine zweimonatige Tour ihrer Band durch Frankreich. Der Soundcheck für das erste Konzert am 13. März fand noch statt, Stunden später kamen die neuen Notstandsregelungen, die Versammlungen von mehr als 50 Personen verbieten. „Ich bin am nächsten Tag zurückgeflogen – ohne die Einnahmen, die ich im Kopf schon auf die ganze Familie verteilt hatte. Die Lage ist verzweifelt: Wie lange kann ich mittellos daheim sitzen und nur üben?“

Gunman Xuman gehört zu den bekanntesten Rappern Senegals. Mit seinem „Journal Rappé“ einer wöchentlichen gerapten Nachrichtensendung mit kritisch politischen Inhalten, ist er speziell unter Jugendlichen populär. Ende Mai sollte er das Format auch in Deutschland vorstellen. Doch ob er bei der Münchner Biennale leibhaftig auftreten wird ist noch unklar – möglicherweise wird es nur einen Live-Stream aus Dakar geben. „Die Musiker hoffen, dass die Notstandsmassnahmen nach drei Wochen wieder aufgehoben werden. Aber das ist unrealistisch.“ Ohne Live-Auftritte aber keine Einnahmen – die Streaming-Dienste brächten höchstens ein paar Cent extra. Im Gegensatz zu Europa stelle er bei seinen Landsleuten die Neigung fest, die Gefahr zu bagatellisieren. „Der Musik-Szene fehlte es schon vorher an einer funktionierenden Infrastruktur“, sagt Xuman. „Nun zeigt das Corona-Virus nur einmal mehr wie fragil unser Metier in Afrika ist.“ Andererseits sieht der HipHop-Star das Ganze nicht nur pessismistisch. Gerade Afrikaner würden in einem permanenten Zustand der Resilienz leben. Die Menschen dort hätten nie das Gefühl gehabt, Korruption, Armut, Pandemien entfliehen zu können. Am Ende schreibe Corona nur ein neues Kapitel einer alten Widerstands-Geschichte.

JONATHAN FISCHER

SZ, 30.3.2020 (gekürzte Fassung)