Monatsarchiv: Juli 2010

Ein DJ entdeckt Kuba: Hauptsache, frisch!

Wo seine Discjockey-Kollegen hämmern, klotzen und Bretter bohren, da setzte Gilles Peterson schon immer auf eine eher ätherische Art des Musikhörens. Seit drei Jahrzehnten mischt der Londoner Musiklabel-Betreiber und BBC-Radiomann vermeintlich Abgestandenes mit ungewohnten Aromen neu auf und führt den Dancefloor geographisch und spirituell an neue Grenzen. Den Jazz rüstete er Mitte der Achtziger mit Funk und tanzbaren Beats zum Acid Jazz auf; später kamen Dub, Reggae, Drum’n’Bass, Afrobeat oder Hip-Hop in den Mix, und Peterson stellte zahlreiche Kompilationen mit esoterischen Fundstücken der afroamerikanischen, afrikanischen und brasilianischen Musik zusammen. Hauptsache, frisch – und aus dem Untergrund. Nicht zuletzt dank seiner legendären BBC-Radiosendung „Worldwide“ brachte er eine wachsende Fangemeinde auf den Geschmack und infizierte eine ganze Generation von DJs mit eklektischen Grooves aus aller Welt.

Da mag es bestenfalls verwundern, dass er erst jetzt nach Kuba findet, dem Land, dem wohl ein Großteil seiner Plattensammlung ihre Rhythmen verdankt. „Havana Cultura – New Cuba Sound“ heißt die neueste Veröffentlichung (Brownswood Records). Im September 2008 war Peterson nach Havanna gereist, um die Köpfe einer Avantgarde jenseits der großen Salsa-Orchester aufzuspüren. „Viele Leute denken, auf Kuba gäbe es nur Salsa und Son. Dabei ist eine junge Generation längst dabei, die Folklore der Großeltern mit urbanen Straßenrhythmen zu verschmelzen.“ Peterson traf Rapper, Rumberos, Reggaeton- sowie Jazzmusiker und lud am Ende zwei Dutzend dieser Untergrundgrößen in die Egrem-Studios, den Ort, der seit dem „Buena Vista Social Club“ weltberühmt ist. Peterson selbst agierte in der Rolle des kulturellen Übersetzers.

Ohne den Beistand des kubanischen Pianisten Robert Fonseca, sagt Peterson, wäre das Projekt wohl gescheitert. Der Jazzpianist knüpfte nicht nur alle Kontakte vor Ort, er vermittelte den Musikern auch die ästhetischen Vorstellungen des englischen Produzenten. Möglicherweise hängt die Energie und überschwängliche Verve von „Havana Cultura“ mit einer vordergründig naiven Vorgehensweise zusammen. Denn egal, woher die Musiker stammen: Fonseca und Peterson drücken dem Ganzen ihren Stempel auf, sie haben das Aufeinanderprallen von archaischen Rhythmen und modernem Funk wie aus einem Guss produziert.

Die erste von zwei CDs versammelt dabei die mit einer von Fonseca zusammengestellten Hausband aufgenommenen Stücke. Da swingt etwa Arroz Con Pollo in bester Latin-Funk-Manier, leiht die Sängerin Mayra Caridad Valdés einer Coverversion von Fela Kutis „Roforofo Fight“ ihre sinnliche Stimme. Tres-Gitarren, Fender Rhodes Klavier und harte Beats tauchen selbst Klassiker wie Irakeres „Chekere Son“ in ein neues, urbanes Licht. Die globale Fusion ist gewollt: Sein Lieblingsstück, erklärt Peterson, sei „La Revolucion Del Cuerpo“ mit seiner Verschmelzung von Rumba, Son, Jazz und Rap. Oft sei die Songform dem Zufall geschuldet. Auch die spanischen Sprechgesänge nehmen Ideen Petersons auf.

Auf der zweiten CD tritt Peterson lediglich als Zusammensteller in Erscheinung. Sie vereint aktuelle Stücke von Nachwuchskünstlern wie Ogguere, Danay, Obsesion oder Free Hole Negro. Klar, dass das Augenmerk vor allem auf die Musiker fällt, die den Geist des Jazz atmen oder die Fusion von Alt und Neu wagen. In diesem Sinne ganz großartig etwa die „Homenaje A Beny More“ der Reggaeton-Band Gente de Zona. Zwar ist Petersons Projekt mindestens genauso ambitioniert wie einst der „Buena Vista Social Club“. Doch im Gegensatz zu Letzterem hätte sich „Havana Cultura“ nicht allein über Plattenverkäufe finanzieren lassen. So tritt die Rummarke „Havana Club International“ als Sponsor auf – und liefert zu Petersons Album auch gleich eine Website mit (www. havana-cultura.com), auf der junge Künstler aus Havana im monatlichen Wechsel porträtiert werden – Schriftsteller, Maler, Fotografen, Konzeptkünstler, die letztlich das ideelle Umfeld bilden, aus dem der Rhythmus des neuen jungen Kuba heranwächst.

Petersons Name liefert hier im Grunde nur das Gütesiegel und bietet mit dem Projekt eine Plattform, auf der die jungen Kreativen endlich in den lange ersehnten Austausch mit dem Westen gehen können. Zwar haben einige renommierte DJs gerade ein Remix-Album namens „Havana Cultura Remixed“ angefertigt. Die wirkliche Offenbarung – das soll diesen Sommer eine Europatournee von „Havana Cultura“ zeigen – aber liegt in der live auf die Bühne gebrachten Spielfreude der Kubaner. Wie hat es doch Peterson formuliert? „Sie haben mich gelehrt, die alten afrikanischen Götter in den modernsten Beats zu hören!“
JONATHAN FISCHER
FAZ vom 31.7.2010

Mir gärtnerplatzt der Kragen! In zehn Jahren redet niemand mehr über Gentrifizierung, sondern über die Ghettos der Verlierer am Stadtrand

Im Münchner Glockenbachviertel, einer der renditeträchtigsten Immobilienlagen in der Stadt mit den höchsten Immobilienrenditen ganz Europas, eröffnen im Wochentakt neue Läden. Von den Schicksalen der Vormieter erfährt man selten viel. Nur als sich 2008 der Wirt des Salzburger Grill erhängte, erinnerten ein paar Nächte lang Blumensträuße und Kerzen an einen, der für das Viertel überflüssig geworden war, einen Gentrifizierungsverlierer. Dem Wirt wurde gekündigt, weil er die Renovierungsauflagen der Verpächter nicht erfüllen konnte.

Doch so tragisch diese Geschichte anmutet: Der etwas heruntergekommenen Bier- und Würstelbude selbst trauerte kaum jemand hinterher. In das umliegende Schwulen-, Arbeiter- und Studentenviertel zogen in den vergangenen zehn Jahren vor allem wohlsituierte Kreative und Kleinfamilien. Das Muster ist aus vielen großen westlichen Städten bekannt: Doppelverdiener-Familien in prekären Arbeitsverhältnissen, die ihnen nicht erlauben auf der grünen Wiese ein Haus zu kaufen, entdecken die unsanierten Innenstädte. Und die Stadt München, die eine „Münchner Mischung“ der Bevölkerung in den einzelnen Vierteln fördert, freute sich über renovierte Hinterhöfe und sanierte Fassaden.

Die damit einhergehende Verdrängung wurde nur langsam sichtbar: Still verlassen Unterschicht, Handwerker und Kleingewerbe die Gegend. Die Übriggebliebenen sitzen in den verbliebenen Pilsstuben, während die umliegenden Wohnblöcke von Spekulanten entmietet, mit Fußbodenheizungen und Marmorbädern ausgestattet, gestückelt und als Anlageobjekt von Kunden in Madrid oder Moskau gekauft werden. Stadtsoziologen beschreiben diese Entwicklung als zweite Phase der Gentrifizierung: Am Ende geht es darum, ob die Stadt der Zukunft ein Gemeinwesen oder ein Unternehmen sein will.

Schließlich steht nur noch der Lokalpatriotismus einzelner Hauseigentümer der Übernahme eines ganzen Viertels durch zahlungskräftige Flagstore-Boutiquen und Coffee Companys im Weg: So hielt auch der Verpächter des einstigen Salzburger Grills entsprechenden Angeboten stand. Stattdessen bekam der Wirt Michael Dietzel den Zuschlag. Nun prangt der Schriftzug seines Restaurants „Corso“ über der ehemaligen Bierschwemme, es duftet nach Espresso, mediterraner Küche und Holz. Dietzel hat den Boden und einen Teil der Wand mit hellen Dielen – „Die stammen aus einer alten Scheune.“ – verlegen lassen und dazu passende Massivholz-Tischchen und Hocker in das Lokal gestellt. „Wenn ich gewusst hätte, dass sich der alte Wirt ums Leben bringt, hätte ich den Mietvertrag nicht unterschrieben“, sagt er.

Als er selbst noch im Viertel wohnte, habe er sehr bedauert, wie ein Tante-Emma-Laden nach dem anderen schloss. Andererseits profitiere er als Lokalbetreiber von der Umwälzung: „Das ist schon ein komisches Gefühl. Schließlich schätze ich privat gerade das Dörfliche, Geschlossene in unserem Viertel.“ Nun bevölkern Jungmütter, Nachtclub-Betreiber und Freiberufler mit Laptop seine Bar. Welcher neue Laden wo aufmacht, gehört hier zum Tagesgespräch. Die Gentrifizierungs-Verlierer haben andere Sorgen: Sie kämpfen nicht nur gegen steigende Mieten und Wohnungsnot, sondern um ihre mit dem Viertel eng verwobene Identität. Es gibt sie nämlich immer noch, die Handwerker in Blaumann oder Schürze. Die Alteingesessenen, die in der Turnhalle an der Auenstraße – dort wo vor 150 Jahren der TSV 1860 München gegründet wurde – boxen. Und sich das neue Altersheim in der Klenzestraße mit seiner Monatsmiete ab 3300 Euro nie werden leisten können.

Um der Gentrifizierung etwas abzugewinnen, müssten sie die eigene Wohnung besitzen oder im Verkaufsfall zu einem erschwinglichen Preis erwerben können. Doch nur die wenigsten Mieter verbleiben in den umgewandelten Eigentumswohnungen. „Die Überlappungen zwischen den Milieus, die Möglichkeit die eigenen Nester zu verlassen“, sagt der Hamburger Professor für Stadtökonomie Dieter Läpple, „macht die moderne Stadt aus.“ Nicht zuletzt verleihe auch das örtliche Handwerk oder die Möglichkeit für Erzieher, in derselben Umgebung wie ihre Schützlinge zu wohnen, einem Viertel Lebensqualität.

Die Spekulanten haben natürlich andere Interessen. An Einheimische richten sie sich ohnehin kaum. Vielmehr werden die nach Steuerabschreibungsmodellen umgewandelten Luxuswohnungen den Bauträgern von Anlegern aus aller Welt aus der Hand gerissen. In den günstigeren Preisklassen dagegen gibt es kaum etwas. Es ist abzusehen, dass die Reichen und Kinderlosen irgendwann unter sich bleiben. „Man wird durch die Stadt gehen können“, prophezeit der Stadtsoziologe Jens Dangschat von der TU Wien, „ohne über Armut und Integrationsprobleme jemals nachzudenken.“ Doch lag der Reiz des Urbanen nicht gerade im Zusammentreffen verschiedener Schichten und Lebensentwürfe?

„Willkommen im Viertel, ihr Arschlöcher“, verkünden Aufkleber in der Isarvorstadt. Oder: „Mir gärtnerplatzt der Kragen“. Eine Anti-Gentrifizierungs-Bewegung, wie sie bei der Besetzung des Gängeviertels in Hamburg sichtbar wurde, oder Solidaritätsaktionen nach dem Muster der in Berliner Kiezen organisierten Mietstreiks findet man in München kaum. Zumal die politischen Verantwortlichkeiten kaum durchschaubar sind. Stadtsoziologen denken deshalb längst über Eingriffe der Kommunen in den freien Markt nach: Gentrifizierung sei immer von Städtebaufördermitteln und Steuererleichterungen angekurbelt worden. Warum also sollten nicht auch gesetzliche Regulative ihre Auswüchse bekämpfen? „Wenn es nicht zu einer Polarisierung der Gesellschaft kommen soll“, sagt Dangschat, „muss die Stadt einen sozialen Ausgleich zwischen den auseinanderdriftenden Quartieren schaffen.“ Das für seine mieterfreundliche Politik bekannte Münchner Rathaus allerdings stößt hier an Grenzen. Das Gemeinwohl steht gegen die Freiheit des Eigentums.

Und Renditehaie kennen die Gesetzes-

lücken.

Ein wirksamer Schutz vor einer ausufernden Gentrifizierung im Münchner Glockenbachviertel würde eine landesstaatliche Umwandlungsverordnung erfordern. In Hamburg hat der Senat – alarmiert von der Abwanderung einkommensschwacher Mieter aus der Stadtmitte – eine solche beschlossen. Die Aufteilung und Luxussanierung von Immobilien ist seither um rund 90 Prozent zurückgegangen. Entsprechende Anträge der bayerischen Grünen scheiterten bisher an der Regierungsmehrheit der

CSU.

Welche gesellschaftliche Sprengkraft die Abkapselung der städtischen Milieus bergen – das zeigen die Verhältnisse in den französischen Banlieues. „Es war lange Stadtratspolitik, die einfachen Leute in der Mitte der Gesellschaft einzubinden“, sagt Christian Stupka, Mitbegründer der Wogeno-Genossenschaft. „Alles andere würde der Stadt ökonomisch und sozial gewaltige Kosten aufbürden.“ Mit seiner Dienstleistungsagentur GIMA vermittelt er zum Verkauf stehende Mietshäuser in München an ortsansässige Genossenschaften.

„Uns geht es darum, dauerhaft preisgünstigen Wohnraum in der Stadt zu erhalten“, erklärt Stupka, der allein in den vergangenen zwei Jahren über 300 Wohnungen in Genossenschaftseigentum überführt hat.

Andere Städte studieren deshalb bereits das GIMA-Modell: Spekulationsobjekte auf diese Weise dem freien Markt zu entziehen, wirkt nicht nur preisdämpfend, sondern ermöglicht den Alten, Armen und Migranten den Verbleib in bevorzugten Wohnlagen. Stupka führt gern das Beispiel Untersendling an: Die Massierung von Genossenschaftswohnungen habe diesen Stadtteil vor den negativen Folgen der Gentrifizierung bewahrt. Allerdings sind in München bisher gerade einmal fünf Prozent des Wohnraums preis- oder sozialgebunden. Zugleich ist die GIMA auf Hausbesitzer angewiesen, die Sozialverträglichkeit höher schätzen als die größtmögliche Rendite. So hängt das Weiterbestehen der „Münchner Mischung“ weitgehend an einem gutwilligen Kapitalismus.

Oder an Stadtteil-Aktivisten wie Stephan Alof. Der Chef einer Tumor-Ambulanz mit 30 Mitarbeitern hat vor sieben Jahren im Glockenbachviertel das Café Maria eröffnet. Sein Konzept: Einfache Speisekarte und eine Atmosphäre, die sich nicht an ein exklusives Publikum wendet: „Im Viertel leben immer noch viele Arme und Alte. Die lade ich genauso ein wie das schwule Pärchen oder den Architekten-Mittagstisch.“ Offensichtlich mit Erfolg. Alof hat inzwischen mehrere Dependancen im Viertel aufgemacht. Und den örtlichen katholischen Pfarrer als wichtigsten Verbündeten gewonnen. So haben beide den Fronleichnams-Altar mit Bedacht vor einem Schwulen-Café aufgebaut, sie veranstalten in der Kirche kostenlose Musiknächte und haben einzelne Hausbesitzer von Verpachtungen an Rösterei-Ketten abgebracht. „Wenn wir diese Gemeinschaft nicht pflegen“, warnt Alof, „kippt das Viertel in fünf bis zehn Jahren.“ Als mahnendes Beispiel dient ihm der „totsanierte“ Gärtnerplatz: Dort habe der massenhafte Einfall der Gastro-Schickeria die Straße fast komplett von der Nachbarschaft abgekoppelt. Dagegen setzt Alof auf eine neue bodenständige Viertelkultur. So plant er ein Wirtshaus im Seitenschiff von Sankt Maximilian – mit Hendl und Fassbier. „Die Leute suchen doch nach Gemeinschaft, nicht nach vier Geschmackssorten Latte Macchiato.“ Doch ob solche Solidaritäts-Inseln allein die Gesetze des Marktes aushebeln können? Stadtteilforscher gehen davon aus, dass in zehn Jahren ohnehin niemand mehr über schicke Viertel diskutiert. Die Stadt wird dann wesentlich gravierendere Probleme haben: Die Zusammenballung der Gentrifizierungs-Verlierer am Stadtrand.
JONATHAN FISCHER
SZ vom 30.7.2010

Smod: Rap aus Mali

Dass eine malische Rapcombo uns Europäern einen Sommerhit liefert – damit hätte wohl niemand gerechnet. Nicht nur weil Smod ihre bisherigen Alben nur auf den Märkten Westafrikas verkauften, sondern auch weil afrikanischer Hip-Hop in Übersee gerne als Armuts-Kopie der amerikanischen Vorbilder denunziert wird. Dieses Vorurteil widerlegen die Rapper aus Bamako bereits auf dem Cover ihres neuen, schlicht »Smod« betitelten Albums: Da werden die drei adrett gekleideten Oberschüler von allerlei afrikanischen Folklore-Ornamenten umrahmt. Die Fährte stimmt: Denn der Bandleader Samou Bagayoko hält als Sohn von Malis international erfolgreichem Gesangspaar Amadou & Mariam die Griot-Tradition in Ehren. Während der Produzent Manu Chao das Rundum-Design der Platte verantwortet. Wer kann schon so stilsicher wie er Dritte-Welt-Romantik in Mitschnipp-Nummern verpacken? Die zwischen Französisch und Bambara wechselnden Chants sind bei gemeinsamen nächtlichen Sessions auf dem Hausdach von Amadou & Mariam entstanden. Nur Gitarre und Beatbox begleiten die drei jungen Malier. Doch die melancholische Leichtigkeit ihrer Afro-Raps trügt: Les Dirigeants Africains etwa erklärt die afrikanischen Staatsführer zu korrupten Vielrednern und Geldfressern. Smod geben der rebellischen Jugend Malis eine Stimme. Und das Rezept, wie man auch in Europa Hörer findet!
»Smod« (Because/Al!VE)
JONATHAN FISCHER
Die Zeit 28.7.2010

Überfällig: Die britische Soulsängerin Martina Topley-Bird covert sich selbst

Seit ihr düster-lasziver Gesang 1995 Trickys Debüt „Maxinquaye“ veredelte, konnte Martina Topley-Bird sich kaum vor Verehrern retten: Mark Lanegan und Josh Homme von den Queens Of The Stone Age engagierten sie, Massive Attack machten sie zu ihrer Sängerin und Danger Mouse produzierte Topley-Birds letztes Soloalbum „The Blue God“. Doch zu oft degradierten opulente Arrangements ihre Stimme zur bloßen Zutat. Nun tritt die Londoner Sängerin zum Befreiungsschlag an. Auf „Some Place Simple“ (erschienen auf Damon Albarns Label Honest Jons) reinterpretiert Topley – neben vier Neukompositionen – ein Dutzend ihrer alten Songs in minimal instrumentiertem Gewand. In den Mittelpunkt rückt dabei ihr ätherisch-brüchiges Timbre. Etwa auf „Baby Blue“, auf dem nur eine Ukulele, ein Glockenspiel und ein Tambourin Martina Topley-Birds Wispern untermalen. Andere nur sehr spärlich eingesetzte Begleitinstrumente sind ein elektrisches Klavier, ein Daumen-Piano sowie ein afrikanisches Balafon, eine Art Xylofon in Übergröße. Gerade letzteres bringt Spannung in die Arrangements, weil überraschende Reibungsflächen entstehen für Topley-Birds an den Blues angelehnte und oft ins Surreale kippende Melodien. Ein Album, das eine große Soulsängerin ganz ohne Make-Up zeigt und das der überfällige Gegenentwurf ist zu den überproduzierten Poptorten in den Rhythm’n’Blues-Charts liefert.
SZ 28.7.2010 JONATHAN FISCHER

Die Puppenkillerin – Sie fasziniert Teenage-Mädchen wie harte Jungs: Die 25-jährige Nicki Minaj fordert Hiphop-Klischees heraus

In Bezug auf Rollenmodelle gab es im Hiphop bisher zwei Wahlmöglichkeiten. Entweder frau eiferte Queen Latifah, Salt’n Pepa oder Lauryn Hill nach, setzte auf feministische Selbstbehauptung und eine saubere und ordentlich ausdiskutierte Sexualität. Oder die innere Rotzgöre, das It-Girl übernahm mit schamlosen Unterleibsbeschwörungen das Mikrophon. Foxy Brown und Lil’ Kim hatten das Ende der 90er Jahre erfolgreich vorgemacht. Zu welchem Lager nun Nicki Minaj gerechnet wird, das hängt stark von der sexuellen und ideologischen Orientierung des Betrachters ab. Ihr Sex-Appeal jedenfalls knallt einem gerade auf allen Kanälen entgegen. Sie ziert halb Ninja-Braut, halb Ghetto-Barbie unzählige Magazin-Cover und ihre erste offizielle Single „Your Love“ – die 25-Jährige hat bisher lediglich drei Mixtapes veröffentlich – wird als Vorbote eines der Alben des Jahres hochgejubelt. Dabei sorgt nicht mal ihre erstaunliche Blitzkarriere für den größten Wirbel: Vor zehn Monaten noch ein kaum bekanntes Girlie aus Jamaica, Queens, nun vom Videosender BET zur besten weiblichen HipHop-Künstlerin gekürt und von Superstar Lil Wayne als Vorzeige-Frau für sein Camp verpflichtet. Nein, die Blogs stürzen sich vielmehr auf die Frage, ob Nicki nun lesbisch sei. Und wie weit sie sich überhaupt der Männerwelt andiene. Denn das eigentliche Drama der als Onika Tanja Maraj geborenen Rapperin spinnt sich um: die eigene Weiblichkeit.

Lange gab es keine Rapperin mehr, die wie sie gleichzeitig die Fantasien der harten Kerle wie der Teenage-Mädchen zu beschäftigen wusste. „Im HipHop ist der typische Erzähler ein junger, aggressiver und notgeiler Mann“, hat der afroamerikanische Journalist Nelson George einmal erklärt. Frauen hätten dagegen nur als Glamour-Girls oder „aggressive Objekte der Begierde“ eine Chance. Minaj scheint ihn auf den ersten Blick zu bestätigen. Sie gibt sich wahlweise als Harajuku Barbie, Nicki the Ninja oder Nicki Lewinsky aus. Zufall, dass Minaj wie ménage (à trois) ausgesprochen wird? Immer wieder schürt die Rapperin durch solche Konstellationen das Gerücht, sie sei bisexuell oder lesbisch. So etwa auf Ushers jüngster Single „Lil’ Freak“. Da bringt Minaj – zu ihrem eigenen Vergnügen – eine Frau zum Date mit dem Rhythm’n Blues-Beau mit. Zwar bekennen sich Rapperinnen wie Yo Majesty! bereits seit Jahren zur Frauenliebe, können lesbische HipHop-Gruppen wie die in Berlin lebenden Amerikanerinnen von Scream Club auf eine breite Szene zurückgreifen – doch das alles spielt sich mehr oder minder im Untergrund ab, hat die Welt der Lil Waynes und Snoop Doggs bisher kaum tangiert. Minaj aber fordert die Superstars heraus. Kein Wunder, dass sich feministische Blogs der mit rosa Kunsthaar und aufreizenden Miedern posierenden Rapperin annehmen, ihre Texte sezieren und von Nicki Minaj das offizielle Coming-Out einfordern. Die Frage bleibt: Wie weit kann eine Rapperin wie sie über ihr Image selbst bestimmen?
Frauen gelten im HipHop immer noch als Anhängsel erfolgreicher Männer. Sind sie aber wie Missy Elliott oder Queen Latifah jenseits der Stereotypen erfolgreich, werden sie schnell als Lesben denunziert. Im HipHop ein ähnliches Totschlagwort wie schwul. Wohl auch deshalb ließ sich Minaj von Anfang an von der Industrie auf kein Image festlegen. „Das Sex-Ding kann dich nur bis zu einem gewissen Punkt bringen. Jetzt geht es mir um Texte und Musik: Ich bin mehr als ein sexy Bild mit einem Lutscher im Mund.“ Und doch hat sich die einstige Schauspielschülerin ebenso kalkuliert in Szene gesetzt wie Madonna auf ihren Erotikfotos. Doch diese Phase erklärt die 25-Jährige für abgeschlossen: Es war ihre Eintrittskarte in die vom Männerblick geprägte HipHop-Welt. Instrumentalisierte Weiblichkeit: Wie oft beschwört Minaj in ihren selbstgeschriebenen Raps die „power of pussy“? Und wenn sie einen Klassiker wie Notorious B.I.G.s Warning aus weiblicher Perspektive interpretiert, macht sie – Hallo Rihanna! – klar, dass sie Männern nie mehr Macht als nötig einräumen würde.

Das haben sie schon die Erfahrungen ihrer Jugend in den Housing Projects von Jamaica, Queens, gelehrt: Minajs Mutter, eine Krankenschwester, arbeitete hart für das Familien-Auskommen. Ihr Vater dagegen war ein Junkie, der schon mal die Wohnzimmermöbel verkaufte, um seine Sucht zu finanzieren. „I hate you so much/ that it burn when I look at you“ rapt Minaj auf ihrem Song „Autobiography“ an die Adresse ihres Vaters. Einmal, erzählt sie, versuchte er die Wohnung samt Ehefrau anzuzünden. Anschließend waren all die Puppen, Kuscheltiere und Bilder der Tochter verbrannt. Und die kleine Nicki suchte in einer Fantasiewelt Zuflucht: „Cookie war meine erste Identität. Später kamen Harajuku Barbie und Nicki Minaj hinzu.“ Sie sang im Kirchenchor, schrieb als 12-Jährige ihren ersten Rap und galt in der Schule als lautes, freundliches aber stets das Kommando führendes Show-Girl. Sie bewarb sich an der La Guardia Kunsthochschule in Manhattan als Sängerin – und wurde schließlich als Schauspielerin aufgenommen. Ihr Studium finanzierte sie mit Kellner-Jobs. Nebenbei schrieb sie Kurzgeschichten. Aber ihr Ziel war klar: Rapperin. „Ich wollte den Jungs aus meiner Siedlung zeigen, dass ich es genauso drauf habe!“ Dabei half ihr das als Kind eingeübte Rollenspiel: Nicki Minaj kann jederzeit von einem Ghetto-Pinup zu einem japanischen Anime-Charakter mutieren.

Vor allem aber spielt Nicki Minaj mit den Geschlechter-Klischees: Auf ihren Konzerten gehört es zum Ritual, die Busen ihrer Verehrerinnen zu signieren. Und im Interview erklärt sie, die Welt würde sich langsam für gleichgeschlechtliche Sexualität öffnen – und mit ihr auch der HipHop. Kritisch bleibe nur die Lage schwuler Männer: „Viele Leute glauben Schwulen fehle es an street credibility. Aber auch das wird sich noch im Laufe meines Lebens ändern.“ Leiden doch unangepasste Frauen und Schwule unter dem selben HipHop-Vorurteil: „Der ghettozentrische Blick“, erklärt Nelson George, „diskriminiert jede Form von Milde, Weichheit und nicht-heterosexueller Sexualität als Schwäche.“

Im Herbst soll Minajs Debutalbum auf einem Major Label erscheinen. Und wenn die Lobreden von Jay-Z und Kanye West stimmen, wird es die Rapperin in die Liga ihres heimlichem Idols Lauryn Hill katapultieren. Schließlich sieht sie sich selbst als „spirituelle Kämpferin“. Und als „Puppenkillerin“. Den Mädchen, die wie sie in den Projects aufwachsen jedenfalls rät sie jedenfalls , sich nicht sexuell definieren zu lassen.
JONATHAN FISCHER
SZ/jetzt.de 19.7.2010

Outkast-Star Big Boi: Triumph des Klangkriegers

Ein Rapper, der Kate Bush und Country liebt, hat’s schwer: Big Boi, eine Hälfte des Erfolgs-Duos Outkast, musste lange kämpfen, um sein Solo-Debüt veröffentlichen zu können. Der Einsatz hat sich gelohnt: Jeder Song seines Albums enthält mehr Ideen als das Gesamtwerk vieler HipHop-Kollegen.

Antwan „Big Boi“ Patton hat schon viele Häutungen hinter sich: Mit dem HipHop-Duo Outkast brachte er Mitte der Neunziger den Southern Rap auf die Landkarte des Pop. Zusammen mit Partner André 3000 versöhnte er anschließend experimentellen HipHop und Kommerz: Getrennt arbeitend steuerten beide jeweils ein Album zu ihrem bisher größten Erfolg bei, der 2003 veröffentlichten und über 15 Millionen mal verkauften Doppel-CD „Speaker Boxxx/ The Love Below“. Es folgte eine schrullige Kino-Klamotte namens „Idlewild“. Anschließend verschwanden die beiden Outkasts jahrelang von der Bildfläche. Zuletzt gab es mehr Trennungsgerüchte als neue Songs von ihnen zu hören. Das Massenpublikum war wohl doch noch nicht bereit für Camp-artig kostümierte und zu Dreißiger-Jahre-Jazz tanzende HipHop-Stars.

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Big Boi aber nutzte die Auszeit. Und kehrt nun mit einem Koffer voller Experimente und einem neuen Alias zurück: „Sir Lucious Leftfoot: The Son Of Chico Dusty“. So heißt sein gerade erschienenes Solo-Debüt. „Sir Lucious,“ erklärt Big Boi per Telefon aus seinem Studio in Atlanta, „ist eine Facette meiner Persönlichkeit: Ich nenne ihn einen Klangkrieger“. So hört das Phantastische, Farbenprächtige und Schrullig-Verspielte auch nicht beim Titel auf. Für den Südstaaten-Rapper und Produzent ist sein seit drei Jahren immer wieder verschobenes Opus ein allamerikanisches Musik-Kaleidoskop: „HipHop gilt heute als eines der konservativsten Genres überhaupt. Ich aber liebe das Abenteuer. Warum also nicht über den Tellerrand des HipHop und R’n’B hinausschauen und all die Klänge da draußen nutzen, um neue Musik zu schaffen?“

Artsy Potpourri zum Mitsingen

Die Klänge da draußen: Sie entpuppen sich auf „Sir Lucious Leftfoot: The Son Of Chico Dusty“ als geschickt arrangierte Splitter aus Jazz, Rock, P-Funk, Bluegrass, Gospel und Country. Ein swingendes, infektiöses Potpourri schwarzer Musik der letzten acht Jahrzehnte. Antwan Patton nimmt sich die selben Freiheiten wie die Pioniere des HipHop: Warf nicht Afrika Bambaataa einst Kraftwerk und Beethoven in seinen Mix?

Doch während Bambaataa sich als New Yorker Kosmopolit inszenierte, geht Patton alias Big Boi seine Musik aus einer Südstaaten-Perspektive an. Rückendeckung holt er sich aus seiner Familiengeschichte, zitiert seinen Vater als „Chico Dusty“ und feiert seine Großeltern mit jedem Sample. „Ich wuchs hauptsächlich bei meiner musikvernarrten Großmutter auf. Während sie den Haushalt richtete, liefen auf der Stereoanlage Jimi Hendrix, Funkadelic, Bob Marley und Kool And The Gang – neben jeder Menge altem Soul…“ Ja, es ist der Geist des Soul, der Big Bois schillerndes Werk zusammenhält. Ihm die großen Melodien zuspielt. Und ihn Mitsing-Refrains finden lässt, die ebenso unverbraucht wie radiofreundlich klingen.

Umso mehr verwundert es, welche Kämpfe Big Boi mit seiner Plattenfirma um die Veröffentlichung austragen musste: Bereits 2004 hatte er mit der Studioarbeit am Album angefangen. 2007 wurde es erstmals angekündigt – doch nur die Single „Royal Flush“ erschien, während sein Pro-Obama-Song „Sumthing’s Gotta Give“ im Internet kursierte. Dann entließ Patton zwei weitere seiner Tracks zum kostenlosen Download in die Blogosphäre – ein Racheakt an Outkasts Plattenfirma Jive, die sich weigerte das Gesamtwerk zu veröffentlichen. Zu unkommerziell. Zu experimentell. Zu anders als die gerade angesagten Top Ten.

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„Ich habe weltweit mehr als 25 Millionen Platten verkauft“, wettert der HipHop-Star, „und nun erklären sie mir, ich müsste mehr Stangenware produzieren, Songs die nach Lil Waynes „Lollipop“ klingen.“ Zu künstlerisch sei das, habe ein Labelmanager genörgelt! „Too artsy!“ Big Boi dehnt das Wort „artsy“ wie die Pointe eines schlechten Witzes. Tatsächlich offenbart sein experimenteller Ansatz die tiefe Spaltung der HipHop-Welt: Hatten nicht die Debütalben von De La Soul, Kanye West oder, eben, Outkast künstlerisch einiges gewagt – und dennoch kommerziell gewonnen? Doch die großen Plattenfirmen, so konstatiert Big Boi, würden die Musik am liebsten jedes Geschäftsrisikos berauben – und damit jeder Innovation.

Ausbruch aus dem HipHop-Ghetto

Zwischenzeitlich plante Big Boi, sein Album nur online zu veröffentlichen. „Die sozialen Netzwerke sind ideale Kanäle für etablierte Künstler: Wenn ich einen Song über Twitter in die Welt entlasse, wird er in 24 Stunden ein paar Millionen mal abgerufen….“ Nun aber kommt Big Bois Album doch noch als CD auf den Markt. Das HipHop-Traditionslabel Def Jam sprang in letzter Minute ein – und hat nun mit „Sir Lucious Leftfoot: The Son Of Chico Dusty“ einen Klassiker mehr im Katalog. Denn auch wenn Jive einige Duette mit Outkast-Partner André 3000 nicht freigab: Jeder einzelne Song diese Albums enthält mehr Ideen als das Gesamtwerk vieler HipHop-Kollegen. Auch wenn die Drogen- und Sex-Referenzen seiner Texte recht verschwurbelt wirken – geschenkt!

Denn Big Boi geht es doch vor allem um den Ausbruch aus dem HipHop-Ghetto: Auch darum ist er dieses Jahr mit dem städtischen Ballett von Atlanta auf die Bühne gegangen und hat HipHop-Musik für klassische Tänzer komponiert. „Dope“ sei das gewesen, sagt er. Fast noch abenteuerlicher klingt Big Bois nächster Plan: „Ich versuche gerade, Kate Bush zu einem Album mit mir zu bewegen. Ihre märchenhafte Stimme und meine Beats: das wäre die Erfüllung eines Lebenstraums!“
JONATHAN FISCHER
Spiegel Online 16.7.2010

Samen der Hoffnung: Solomon Burke hat einundzwanzig Kinder und neunzig Enkel, und wenn er sich um die nicht kümmert, predigt er seine Soulweisheiten – dieses Mal mit Willie Mitchell.

Auch nach einem Grammy, vier großartigen Americana-Alben und Songs, die Verehrer wie Bob Dylan, Tom Waits, Eric Clapton oder Van Morrison für ihn schrieben, ist der siebzigjährige (nach anderen Angaben schon vierundsiebzigjährige) Bischof noch nicht am Ende seiner Mission angelangt, geht sein „Kreuzzug für das Wahre, Zeitlose, Tiefgründige“ in der amerikanischen Roots-Musik weiter. Genauso kündigt der seit einigen Jahren nur noch im Rollstuhl auftretende „King Of Rock ’n‘ Soul“ sein neues Album an – um anschließend alles Pathos mit seinem schallenden Gelächter zu ersticken.

Dabei scheint ein ehrfürchtiger Ton durchaus angebracht: Denn wenn Solomon Burke nun zum ersten Mal seit seinem Comeback im Jahre 2002 zu seinen Wurzeln, dem Southern Soul, zurückkehrt, hat er dafür einen Traumpartner gefunden: Willie Mitchell, Produzent der klassischen Alben Al Greens. Bereits seit den siebziger Jahren, so erzählt Burke, hätten beide immer wieder miteinander telefoniert und von einer Zusammenarbeit geschwärmt. Doch dann lag das Projekt jahrzehntelang auf Eis: Mitchell fiel nach dem Verlust seines Schützlings Green an den Gospel in ein Schaffenstief, verlor seine Plattenfirma Hi Records in Memphis und hatte mit Alkoholproblemen zu kämpfen – während Burke sich enttäuscht vom Popgeschäft in seine Kirche in Los Angeles zurückzog.

Nun aber hat sich der Zeitgeist gedreht. Traditionelle Rhythm-&-Blues-Klänge sind wieder en vogue, und Burke, der in den sechziger Jahren mit countryesken Balladen wie „Cry To Me“, „Just Out Of Reach“ oder „If You Need Me“ berühmt wurde, füllt weltweit wieder die Konzerthallen. Ob es nun Gottes Fügung war oder nur eine von Burkes berüchtigten Flausen: der Bischof schaute vergangenes Jahr nach einem Konzert in einem Mississippi-Casino unangekündigt in Mitchells Royal Recording Studios vorbei – das erste Mal, dass sich die zwei Männer persönlich begegneten. „Poppa Willie“ aber nutzte die Chance: Mitten in der Nacht bat er seinen Besucher ins Studio und telefonierte innerhalb einer Stunde die Studio-Veteranen der Hi Rhythm Section herbei.

Einen Song hatte der Produzent auch schon bereitliegen: „You Needed Me“, einen dreißig Jahre alten Schmachtfetzen von Anne Murray, den sich Burke mit so viel Empathie und Inbrunst aneignet, als müsste er Mitchell noch von der Chemie ihrer Verbindung überzeugen. „Diese Nummer hatte auf mich gewartet“, erklärt der singende Bischof, „wie ein altes Haus, das einen neuen Bewohner sucht.“ Nach zwei Aufnahmen war der Song im Kasten. Burke wäre nun gerne zum gesellschaftlichen Teil des Abends übergegangen – immerhin war es schon zwei Uhr nachts. Doch Mitchell bestand darauf: „Wir schreiben jetzt den nächsten Song.“

Am Ende blieb Burke zehn Tage in Memphis hängen, während deren er zusammen mit dem achtzigjährigen Produzenten ein knappes Dutzend Songs schrieb und aufnahm. „Nothing’s Impossible“ heißt das Album. Für Mitchell sollte es die Krönung seines Lebenswerks werden – er verstarb im Januar dieses Jahres kurz nach Fertigstellung der Aufnahmen. Burke aber findet in Mitchell seinen Meister: Der Produzent nimmt den kraftvollen Bariton des Bischofs an die Zügel, passt ihn den bluesgetränkten Rhythmen seiner Hi Rhythm Section ein. Die meisten Songs bewegen sich im Balladen-Tempo und akzentuieren Burkes Gesang lediglich mit kargen, zurückgenommenen Gitarrenlicks. Nur einmal bemüht Mitchell einen seiner tanzbaren Midtempo-Shuffles. „Everything About You“ atmet denn auch am ehesten den Geist der Hi-Records-Klassiker, die einst am selben Ort mit Syl Johnson, Otis Clay, Al Green oder Ann Peebles entstanden: schweres Schlagzeug, fette Bläser und Streicher in Moll.

Nicht alle der gemeinsam geschriebenen Songs überzeugen restlos: Da bleibt der eine Etage tiefer als Al Green intonierende Burke bisweilen im Allzu-Priesterlichen hängen, scheint der vage Optimismus seiner Texte alle gefühlten Widersprüche wiederaufzuheben. Am Ende aber kann selbst mittelmäßiges Material den Bischof nicht bremsen: Seine Intuition, Stimmgewalt und schiere Überzeugungskraft entlocken auch vermeintlichen Füllern ungeahnte emotionale Tiefen.

Solomon Burke ist Prediger, kein Analytiker. Lieber als über kompositorische Finessen palavert er über die phantastische Hummer-Pizza in Memphis, den Studio-Besuch seines Freundes Bobby Blue Bland und erinnert sich lachend an Mitchells Arbeitstempo: „Bei ihm musste alles zack, zack gehen, selbst sein Haar kämmte er in Rekordzeit. Er wusste wohl, dass ihm nicht viel Zeit blieb.“ Tatsächlich hat der Produzent hier in kürzester Zeit noch einmal das Resümee von vierzig Jahren gezogen, in denen er den Memphis-Soul prägte wie kein anderer.

Seine Arrangements holen das Beste aus Burkes Stimme heraus: Wenn der Sänger nuancenreich über das Wesen der Liebe meditiert, dann geben sie den eleganten Rahmen. Am stärksten aber ist Burke, wenn er, mitfühlend auch mit sich selbst, die Ballade „The Error Of My Ways“ zwischen schmachtender Reue-Ballade und erlösendem Gospel intoniert und dabei einzelne Worte wie „dreams“, „love“ oder „scream“ zu kleinen Dramen dehnt. Und selbst noch mit einer scheinbar spontanen Aufzählung der Wochentage fesselt dieses Album.

Das bedeutet nicht nur, dass Solomon Burkes und Willie Mitchells Magie die drei Jahrzehnte Wartezeit wert sind; es löst auch die Lebensmaxime des Bischofs, Bestattungsunternehmers und mit einundzwanzig Kindern und neunzig Enkeln gesegneten Familienpatriarchen wieder einmal ein: „Ich wandele immer noch auf Gottes großem Highway“, predigt Burke, „um den Samen der Hoffnung unter die Menschen zu bringen.“ Amen!
JONATHAN FISCHER
FAZ 15.7.2010

Warum DJ Westbam kein Vinyl mehr mitnimmt

In dieser Rubrik erzählen seit Jahren auf jetzt.de die besten DJs von ihren schlimmsten Nächten. Heute berichtet DJ Westbam von einem epochalen Erlebnis.

2009 habe ich es endgültig aufgegeben Vinyl zu spielen. Meinen Nerven zuliebe. Den Nerven meines Publikums zuliebe. Und um nicht noch mal in die Gefahr zu geraten, einige meiner gerillten, schwarzen und zwölf Inch breiten Maxis einem Tontechniker über den Schädel ziehen zu müssen. Nach dem folgenden Erlebnis jedenfalls war ich mir sicher: Der Fortschritt wirkt in allen Bereichen der Technik – nur um die DJ-Kanzeln hat er einen weiten Bogen gemacht. Zwar sind Plattenspieler nun bestimmt seit einem halben Jahrhundert als Arbeitsgeräte für Discjockeys im Einsatz, es schmücken zwei 1210er jedes bessere Café in Rio wie in Tokio. Sie gehören zum modernen Leben wie Faustkeile zur Steinzeit. Doch weiß noch jemand wie man einen Faustkeil, pardon, einen Plattenspieler ordnungsgemäß bedient? Beziehungsweise wie man die Geräte Störungs- und Rückkopplungsfrei verkabelt?

Im Sommer letzten Jahres schleppte ich also das letzte Mal meinen schweren Plattenkoffer. Man hatte mich für einen Rave nach Moskau eingeflogen – und ich war offensichtlich der einzige im Pulk der aus aller Welt angekarrten DJs, der den Ehrgeiz hatte mehr als nur ein paar digitale Dateien mitzubringen. Eigentlich seltsam, Vinyl hatte meinem Beruf doch eine sehr handgreifliche Würde verliehen. Von seiner Aura lebte eine ganze Kultur: Vom Scratchakrobaten bis zum Deckshark. Warum also sich dessen selbst berauben?

Ich hatte in meinen Vertrag geschrieben: Zwei 1210er, ein dazugehöriger Techniker und zur Sicherheit noch ein persönlicher Soundcheck. Konnte ich mich darauf verlassen? Meine diesbezüglichen Mails beantworteten die Veranstalter umgehend: Keine Sorge, wir sind erfahren, wir haben das im Griff. Okay. Auch als der Soundcheck eines Interviews zuliebe ausfiel, blieb ich zuversichtlich. Hauptsache, ich konnte bald meinen Vor-DJ ablösen: einen Japaner namens Yoshi, dessen mit sentimentalen Geigen aufgemotzter Gabber zwar zehntausend russische Raver zum Hüpfen brachte – mich aber beinahe auf dem Absatz umkehren ließ. Musikalisch das nackte Grausen. Die leibhaftige Zombie Nation. Und mir blieb nur eine Mission: Diesen billigen Plastik-Spuk mit einem fetten Stück Vinyl austreiben. Als ich die Bühne betrat sah ich einen Tontechniker hektisch die 1210er verkabeln. Ich zog eine Maxi aus dem Koffer, setzte die Nadel auf die Einlaufrille. Der erste Beat. Passte. Start. Also den Regler hochziehen und: chrrrrrrrrrr. Der Tonarm kickte in die Auslaufrille. Zwanzigtausend Augenpaare schauten mich verständnislos an. Noch ein Versuch: Chrrrrrrrrrrr… Der Tontechniker war spurlos verschwunden. Was tun? Sollte ich jetzt etwa meine Mit-DJs um CDs anhauen?Da könnte ja auch jemand kurz vor einem Auftritt zu den Rolling Stones kommen und sagen: Gitarren gehen heute leider nicht – könnt Ihr Euer Zeug stattdessen auf Keyboards spielen?

Chrrrrrrr. Genauso lang dauerte mein letzter Vinyl-Gig. Nein, Decksharks und Plattenkiebitze sind wohl demnächst zum Aussterben verurteilt. Es gibt nichts mehr zu gucken, sobald die CD im Spieler ist. Und doch lasse ich mir immer noch vertraglich zwei Plattenspieler zusichern. Nicht nur weil mir ihr Anblick ein Stück Heimat bedeutet. Sondern auch um die Tontechniker zu quälen. . .

Protokoll: jonathan-fischer.jetzt.de
SZ 12.7.2010

Südafrikanische Popmusik: Ayoba für alle

Auf dem Fußballrasen mögen die Südafrikaner enttäuscht haben – auf dem Dancefloor aber können sie sich mit der Weltspitze messen. War es nicht DJ Mujava aus Pretoria, der erst vorletzten Sommer mit seinem Video zu „Township Funk“ eine weltweite Tanz-Euphorie ausgelöst hat? Werden südafrikanische DJs nicht längst in Clubs von Miami bis London gefeiert? Und strahlt die lokale House-Variante namens Kwaito nicht mehr Energie aus als die banalen „Waka Waka“-Gesänge westlicher Popstars?

Auch wenn sie bei keiner offiziellen Feier der Fifa ertönen durfte: Lokal produzierte House-Musik dominiert Südafrikas Jugendkultur. „Wir sind wahrscheinlich das einzige Land der Welt“, sagt DJ Oskido, „in dem House-Musik den Mainstream stellt. Besucher aus Übersee staunen immer wieder über den Zulauf, die spontane Energie unserer Partys.“ Schon immer drehte sich südafrikanischer Pop, ob Township-Disco oder Gospelmusik, um dieselben Zutaten: Basstrommel und Chorgesang.

Soundtrack der Marktstände

Als Südafrika 1994 das Ende der Apartheid feierte, fingen findige DJs an, den Rhythmus der importierten House-Platten zu verlangsamen und mit Gesängen auf Zulu oder Xhosa anzureichern – die Geburtsstunde des Kwaito. Der neue Pop-Bastard verbreitete sich bald aus den Townships in die Einkaufszentren der Inner City, wurde zum Soundtrack von Marktständen und Minibussen, ertönte auf Hochzeiten, Politdemos und Nachtclubs. „Kwaito hat für uns eine Menge verändert“, sagt einer seiner größten Stars namens Zola, „die Menschen brauchten neue Songs, die ihnen halfen, ihrer Situation zu entkommen und über sich selbst lachen zu können, statt nur wütend zu sein.“

Tatsächlich gelang es der Musik, die südafrikanische Jugend auf einen gemeinsamen Rhythmus einzuschwören. Im Kwaito fand diese Post-Apartheid-Generation ein einheimisches Pendant zur amerikanischen Hip-Hop-Aufsteigersaga. Ein Werkzeug der Selbstermächtigung für sonst oft chancenlose Township-Youngster. Und eine der wenigen Industrien Südafrikas, die überwiegend in schwarzer Hand sind. „Black empowerment“ nennt es Zola. Viele Kwaito-Alben gingen allein in Südafrika einige 100 000 Mal über die Theke – während die größten Stars des Genres vor ausverkauften Häusern von Kenia bis nach Nigeria touren. DJ Oskido etwa, der als Würstchen-Verkäufer vor einem Nachtclub anfing. Oder Dash Brown, dessen Eltern zu arm waren, um ihn die Grundschule beenden zu lassen. Besonders in Johannesburg und seinen umliegenden Townships entstand eine Reihe junger Unternehmen, die alle vom Kwaito-Boom leben: Plattenfirmen, Studios, Konzertagenturen, populäre Radiosender wie YFM, aber auch Modemarken.

Vornehme Villen, dicke Autos

Erst in den letzten Jahren hat sich das musikalische Zentrum südafrikanischer Popkultur verlagert, von der Wirtschaftsmetropole Johannesburg in die Strandstadt Durban. „Wir haben das Tempo verschärft“, erklärt DJ Tira, der die Kwaito-Band Big Nuz produziert, „und unsere Refrains kann jedes Kind mitsingen.“ Eine neue Leichtigkeit breitet sich im südafrikanischen Kwaito aus: Trugen viele der frühen Hits noch politische Kritik vor, verteidigt eine neue Generation von DJs das Recht der Jugend auf Träume von Wohlstand, Frieden und Feiern. „Ayoba“ steht auf Zulu für freudige Erregung und gilt als optimistischer Kampfruf der Party-Szene. „Wenn wir in unseren Videos vornehme Villen und dicke Limousinen zeigen“, sagt DJ Chynaman, „wollen wir unsere Zuschauer inspirieren: Du musst nicht kriminell sein, um diese Reichtümer zu besitzen. Du kannst es mit harter Arbeit schaffen, selbst wenn du aus dem Township kommst.“

Manche Kwaito-Veteranen kritisieren zwar den neuen Fokus auf eine mittelständische Urbanität. Doch ihre Geschichte vergessen selbst die jungen DJs nicht so schnell. Da hört man neben Vuvuzelas immer öfter Jazzklänge von Hugh Masekela oder Philip Tabane. Und House-Remixe legendärer alter Hits von Miriam Makeba bis Mahlatini and The Mahotella Queens landen regelmäßig in den südafrikanischen Charts. „Südafrikanischer House hat bereits die großen Metropolen des Westens erreicht“, sagt DJ Oskido. „Nach dieser WM werden die Besucher sie hoffentlich auch in den Rest der Welt tragen.“
Jonathan Fischer
SZ 10.7.2010

Umlando – Über den südafrikanischen Jazztrompeter Hugh Masekela

Der Jazztrompeter Hugh Masekela ist seit 50 Jahren eine der gewichtigen politisch-musikalische Stimmen Südafrikas. Jetzt erklärt er zwischen den Fußballspielen sein Land der westlichen Welt – und scheut sich nicht, die schwarze Regierung und die WM-Euphorie zu kritisieren: „Die Nachrichten über Afrika brechen mir das Herz. Immer wieder derselbe Wahnsinn!“ Der alte Mann des südafrikanischen Jazz, der mit Oldies wie „Grazing In The Grass“ beim Auftaktkonzert zur Fußball-WM in Soweto Millionen Fans begeisterte, kann immer noch laut werden. Und dabei ein zorniges Funkeln aus seinen wachen Augen versprühen. Entertainment und Politik wollte Masekela noch nie trennen: „Südafrikas Musik handelt immer von Gerechtigkeit, menschlicher Würde und dem Aufbegehren gegen die Fremdbeherrschung. Selbst Liebeslieder machen da keine Ausnahme: Come back from Johannesburg my dear, where you have to work . . .“ Der 70-Jährige summt diese Worte mit geschlossenen Augen. Und ein Leuchten erhellt das zerfurchte Gesicht. Ja, der Jazzmusiker hat den Schmerz und die Sehnsucht der Townships nun ein halbes Jahrhundert in poppige Melodien gefasst: „Coal Train“ heißen sie oder „Happy Mama“ und handelten nicht selten von Gefangenen, Bergleuten und Wanderarbeitern.

Nun sitzt Masekela in einem Restaurant in Manhattan, wo er die Fertigstellung einer Doku-Serie überwacht, die das amerikanische Fernsehnetzwerk ABC/EPSN über sein Leben drehte und in den vergangenen Wochen ausstrahlte. „Umlando“, Zulu für „Durch die Augen meines Vaters“, hießen die zehn kurzen Episoden, die Hugh Masekela mit seinem amerikanischen Sohn Sal, der als Fernsehmoderator arbeitet, beim Besuch der väterlichen Heimat zeigen. Sie sind weltweit auch über die Website ESPN.com abrufbar. Einige der Schauplätze sind eher biographisch, andere politisch motiviert: Der Vater führt den Sohn etwa zur einstigen, von den Weißen im Zuge der Rassentrennung konfiszierten Familienfarm. Sie besuchen das Township bei Johannesburg, wo beim sogenannten Sharpeville Massacre vor 40 Jahren die südafrikanische Polizei 69 friedliche Anti-Apartheid-Demonstranten erschoss. Und Masekela kommentiert alles gewohnt unverblümt: Einmal erklärt er, dass AIDS die Apartheid als Geißel ersetzt habe und gerade dabei sei eine ganze Generation junger schwarzer Südafrikaner auszulöschen. Ein andermal spielt Masekela Trompete vor tanzenden Schulkindern, um sie anschließend vor verantwortungslosem Sex zu warnen. Zulu-Dörfer, Bergarbeiterstädte und Township-Bars sind die Kulisse für die von Emmy-Gewinner Jonathan Hock gedrehte Dokumentation.

Als junger Mann habe er seine Nase an den Fensterscheiben der vornehmen Restaurants in Johannesburg plattgedrückt – aus Neugier auf dieses andere, ihm verschlossene Südafrika: Was diese Weißen wohl speisten? Es waren eher Fremde als Feinde, schließlich standen einige von ihnen auf derselben Seite. So bekam der junge Musikstudent ausgerechnet von einem weißen Apartheid-Gegner, dem Erzbischof Trevor Huddleston, seine erste Trompete geschenkt. Mit 13 Jahren hatte er den Hollywood-Film „Young Man With A Horn“ gesehen und wollte seitdem Kirk Douglas in seiner Rolle als Bix Beiderbecke nacheifern.

1959 gründete er schließlich seine eigene Band. Die Jazz Epistles, denen unter anderem Dollar Brand alias Abdullah Ibrahim angehörte, spielten eine südafrikanische Variante des Hard Bop und nahmen als erste Jazzformation Afrikas ein eigenes Album auf. Doch nach dem Sharpeville-Massaker sah Masekela in seiner Heimat für sich keine Zukunft mehr. Er verließ Südafrika 1960, studierte bei Yehudi Menuhin in London, wurde von Dizzy Gillespie nach New York geladen und hatte bald mit den besten Musikern der amerikanischen Jazzszene gejammt. Mit dem Leben im Exil konnte sich Masekela jedoch nie anfreunden. Letztlich war es sein Freund und Mentor Harry Belafonte, der ihn von einer Rückkehr abgehalten habe: „Nelson Mandela war zur Todesstrafe verurteilt worden. Wer würde da schon für das Leben eines gegen die Apartheid antretenden Jazztrompeters garantieren?“

Also nutzte Hugh Masekela den erzwungenen Flüchtlings-Status, um seine eigene Stimme zu finden. Er hatte amerikanischen Jazz gespielt, weil es für südafrikanische Musik vor Miriam Makeba keinen Markt gab. Deren Erfolg – Masekela war ein paar Jahre mit Makeba verheiratet – aber bereitete auch seinen Durchbruch vor. „Miles Davis nahm mich damals zur Seite“, erzählt Masekela: „Warum, fragte er mich, willst du unbedingt wie wir klingen? Ich sollte lieber meine südafrikanische Musik spielen. Von ihr könnten die Amerikaner noch etwas dazulernen.“

Masekele nahm sich den Rat zu Herzen, verband fortan Bebop und Swing mit afrikanischen Rhythmen wie Kwela und Mbaqanga, veröffentlichte seine Fusion-Musik auf dem berühmten Soul-Label Motown und landete mit „Grazing In The Grass“ 1968 einen internationalen Superhit. Über vier Millionen mal verkaufte sich der Song. Davon ermutigt schürfte Masekela in Zusammenarbeit mit dem südafrikanischen Saxophonisten Dudu Pukwana noch tiefer nach seinen südafrikanischen Wurzeln. Und war nebenbei eine Ausnahmeerscheinung im westlichen Rock’n’Roll-Zirkus: „Sie konnten mich stilistisch nicht einordnen. Aber meine Trompete wollten alle gerne dabei haben.“ Etwa die Byrds für ihren Song „So You Wanna Be A Rock’n’Roll Star“. Oder das Monterey Pop Festival, wo er auf Jimi Hendrix und The Who traf. Oder auch Paul Simon, der Masekela für seine „Graceland“-Tournee

engagierte.

Spätestens mit dem Musical „Sarafina“ hatte der Mann mit dem weichen Trompetenklang und der raspelnden Stimme im Westen ein Massenpublikum gewonnen. Er bediente gekonnt das Bedürfnis nach milden Exotika. Und hätte wohl als Softjazz-Star ausgesorgt wäre ihm die südafrikanische Heimat, wo seine Platten offiziell verboten waren, nicht immer wichtiger gewesen. Ein aus dem Gefängnis herausgeschmuggelter Brief hatte ihn 1987 dazu gebracht eine Hymne auf Nelson Mandela zu schreiben: „Bring Him Back Home“. Und selbst als Masekela nach dem Ende der Apartheid 1991 in seine Heimatstadt Johannesburg zurückkehrte, blieb die alte Kampfeslust ungebrochen: Gut, die offizielle Apartheid war beseitigt, aber hatten schwarze Jugendliche deswegen schon Aussichten, in seine Fußstapfen zu treten?

Der Titel seines jüngsten Albums „Phola“, erklärt Masekela, bedeute übersetzt „heilen“ oder „genesen“. Auch eineinhalb Jahrzehnte nach Ende der Apartheid brauche seine Heimat diese Heilung. Eine Rückbesinnung auf die eigenen Stärken: „Viele schwarze Südafrikaner erwarteten ein Wunder, nachdem sie das erste mal wählen durften. Aber das war naiv. Diejenigen, die uns früher unterdrückten und viel Geld mit unserer billigen Arbeitskraft verdienten, sind wirtschaftlich immer noch die Mächtigen. Sie denken gar nicht dran, etwa aus Reue über die Vergangenheit ihren Wohlstand zu teilen.“

Und wenn er auch nicht dem naiven Glauben anhängt, dass etwa das Wohlstandsgefälle und die daraus resultierende Rekordkriminalität seiner Heimatstadt Johannesburg durch Lieder bekämpft werden könne, sieht er es auch unter einer schwarzen Regierung als „Berufspflicht, die Wahrheit auszusprechen“. Der 71-jährige Musiker lacht sein kurzes, kehliges Lachen, bei dem ein bitterer Unterton mitschwingt – besonders wenn er über den Irrglauben spricht, mit der Apartheid seien auch die Probleme des Landes beseitigt. Die könne auch ein Monat Weltmeisterschaftsfieber nicht

lösen.

„Ich werde nicht lügen“, sagt er, „und die Weltmeisterschaft als ein Wunder ausgeben. Von ihr profitieren nur Menschen, die sich auch die Eintrittskarten leisten können. Aber von den 47 Millionen Südafrikanern sind 20 Millionen bettelarm. Die Weltmeisterschaft wird ihr Leben in keiner Weise ändern.“
JONATHAN FISCHER
SZ 9.7.2010