Monatsarchiv: Mai 2019

Timbuktu tanzt! Lange Zeit war die Stadt in Mali ein Zentrum der islamischen Kultur. Dann kamen die Dschihadisten. Heute fassen die Menschen wieder Lebensmut – trotz Terrorgefahr

Das Fußballstadion von Timbuktu ist ein Ort der Hoffnung. Hinter einer Lehmmauer leuchtet es grellgrün: Der einzige Kunstrasenplatz im Umkreis von einigen hundert Meilen, ein bunter Fleck inmitten einer in weißgelbem Sand schwimmenden Stadt. Daneben stehen dreireihige Tribünen aus Holz und Metall – genug für die Fußballspiele, die örtliche Mannschaften hier jedes Wochenende ausgetragen. Heute aber soll das Stadion seinem Namen gerecht werden. Eine große Bühne mit Lichtmasten steht hinter dem Fußballtor. Techniker verlegen Kabel. „Festival Vivre Ensemble“ verkündet ein Banner. Es ist das dritte Jahr, in dem das Festival für ein paar Tage Musiker, Schriftsteller, Politaktivisten aus ganz Mali eingeladen hat: „Timbuktu muss endlich aufhören, sich wie ein Gefängnis anzufühlen“, erklärt Mohamed Ag Al Moctar, ein Tuareg, der früher als einer von rund 70 englischsprachigen Tourguides arbeitete und für das Festival aus seinem Exil in Dakar zurückgekehrt ist. „Die Stadt soll wieder leben“. Ein paar lokale Handwerker haben auf dem Gelände bereits ihre Waren ausgebreitet: Silberne Tuareg-Kreuze, Lederbörsen und Kalligraphien. „Ich bin glücklich“, sagt einer von ihnen. „Endlich kommen wieder Besucher, wir haben seit Jahren nur noch die UNO-Soldaten als Kundschaft“. Auf seinem Handy zeigt er Bilder von früher: Mit Bono vor der großen Djingerey Bey Lehmmoschee. Das war 2011. Damals als jährlich noch Zehntausende Touristen die „schwarze Perle der Sahara“ besuchten.

Ein Jahr später hatten Tuareg-Separatisten und die Gruppe Al-Quaida im islamischen Maghreb (AQIM) Timbuktu besetzt. Und auch wenn eine französische Interventionstruppe sie 2013 wieder vertrieb – die Stadt hat sich von diesem Schlag noch nicht erholt. Allein, die Schwierigkeit dorthin zu gelangen: Der Landweg nach Timbuktu führt über Schlaglochpisten durch unsicheres Gebiet. Die wenigen Festival-Besucher von außerhalb mussten sich deshalb in alten russischen Militärmaschinen der UNO-Mission einfliegen lassen, sofern sie sich überhaupt einen der – vorrangig für UN-Soldaten reservierten – Plätze aushandeln konnten. Es scheint als ob die Stadt wieder so abgeschnitten von der Welt lebt wie im 19. Jahrhundert.

Damals hatten Dutzende von Afrikaforschern ihr Leben riskiert, um als erste Weiße der mythischen Stadt mit den angeblich „goldenen Dächern“ ansichtig zu werden. 1825 setzte die Societé de Géographie in Paris sogar einen Preis von 10 000 Francs für denjenigen aus, der die Stadt erreichte und Erkenntnisse über Geographie, Erzeugnisse und Handel vorlegen konnte. Im August 1826 war es so weit: der Schotte Alexander Laing schickte „den ersten jemals von einem Christen geschriebenen Brief aus jenem Ort“. Seine Aufzeichnungen aber gingen – nach einem tödlichen Überfall nördlich der Stadt – verloren. Ihm folgte zwei Jahre später Réné Caillié und war enttäuscht: „Auf den ersten Blick bestand die Stadt aus einer Ansammlung schlecht gebauter Erdhäuser. In alle Richtungen war nichts zu sehen außer gewaltigen Ebenen eines Treibsands“. Erst der Hamburger Heinrich Barth, erkannte den wahren Reichtum der Stadt. 1853 war er als vermeintlicher Türke angekommen. Unter dem Schutz des örtlichen Scheichs und Gelehrten Al-Bakkai blieb er ein Jahr lang: Die von ihm eingesehenen Manuskripte, schrieb er, würfen ein „völlig ungeahntes Licht“ auf „einen großen Teil dieses von der Geschichte ganz verwahrlost geglaubten Kontinents“. Timbuktu stieg in der Folge zum Mekka westlicher Historiker und Literaten auf. Als der afroamerikanische Literaturpapst Henry Louis Gates 1997 die Stadt besucht, gestand er, „zu Tränen gerührt“ zu sein: „Mein Leben lang hatte ich gelehrt, dass die Afrikaner keine Bücher schrieben, und nun lagen hunderttausende Schriften aus dem 14. bis 17. Jahrhundert vor mir“. Dass Afrika angeblich keine geschriebene Historie habe – war das nicht lange das Argument der Kolonialisten für die Überlegenheit der eigenen Kultur?

Die Dschihadisten aber verkehrten die weltoffene Gelehrtentradition in ihr Gegenteil. Sie erließen drakonische Gesetze: Frauen durften nur noch verschleiert außer Haus, Männer nur noch mit langen Hosen Fußball spielen. Wer Parfum trug, wurde ausgepeitscht. Zudem machten sich die „Gotteskrieger“ daran, das jahrtausendealte Kulturerbe der Stadt zu zerstören: Die berühmten Heiligengräber wurden mit Hacken und Schaufeln eingerissen, tausende Manuskripte aus den berühmten Bibliotheken der Stadt verbrannt. Besonders aber hatten sie es auf die Musiker abgesehen, erklärt El Hadj Djitteye: „Sie verbaten uns weltliche Musik zu hören. Das war kein Zufall – denn Musik ist unser Lebenssaft.“ Djitteye ein 32-jähriger Blogger, Journalist und Bürgerrechtsaktivist, strahlt mit seinem freundlichen breiten Grinsen, der polierten Glatze und dem Samtjackett so etwas wie Weltläufigkeit aus. Er hat während der Zeit der Besatzung heimlich für internationale Nachrichtenagenturen aus seiner Heimatstadt berichtet. „Musiker wurden bedroht und flohen, ihre Instrumente wurden verbrannt. Eines Tages kamen die Dschihadisten mit Reissäcken und plünderten das Archiv der örtlichen Radiostation “.

Inzwischen hat sich der Krieg verlagert, in die Wüste, deren Dünen am Stadtrand anfangen und die ein paar tausend Meilen nach Norden bis Algerien und Libyen reichen. Timbuktu aber hat sich von der Krise noch lange nicht erholt: „Radikale Prediger aus dem Ausland“, sagt Djitteye, „werben um unsere arbeitslosen und desillusionierten Jugendlichen. Die Regierung in Bamako tut nichts für sie. Und wer will schon in einer Stadt leben, die – abgesehen von den gelegentlichen Anschlägen der Dschihadisten – wieder das Ende der Welt darstellt?“

An diesem Freitag Mittag im März wirkt selbst hier, an der Hauptverkehrsader von Timbuktu alles ziemlich beschaulich, ja fast dörflich: Mit Heu beladene Eselsgespanne zuckeln vorbei, Tuaregs in blauen Turbans grüßen lässig von ihren Mofas, Ziegen queren die löchrige Teerstraße. Weiße UNO-Panzer stehen an den Verkehrsknotenpunkten. Sie gehören inzwischen zu Timbuktu wie die Lehmtürme der Jahrhunderte-alten Lehmmoscheen. Ansonsten herrscht trügerischer Alltag. Die Straßen sind auffallend sauber, eine monatliche freiwillige Aufräumaktion der Bürger hat allen Müll beseitig. In kleinen Blechschachteln bieten Händler Lebensmittel an. Vieles ist weitaus billiger als in der 1000 Kilometer südlich gelegenen Hauptstadt – denn hier kommen die Waren konstengünstig über Wüstenpisten aus Nordafrika. Früher war Timbuktu wegen seiner Lage zwischen der Sahara und dem nördlichsten Punkt des Nigerbogens ein bedeutender Umschlagplatz für Salz und Gold. Heute decken sich Besucher aus Bamako mit H-Milch ein. In der „Auberge du Desert“ dem einzigen noch intakten Hotel der Stadt, erinnern Fotos an bessere Zeiten: Francois Mitterrand, Ban Ki Moon oder amerikanische Rockmusiker wie Robert Plant stiegen hier ab. Heute stehen vor dem Eingang ein paar Männer in traditionellen Djelabas zusammen, Zigaretten im Mundwinkel, den Blick auf ihre Smartphone-Displays. Ab und zu hört man einen dieser nasalen Tuareg-Gesänge. Ein Klingelton. Dann kehrt wieder Stille ein.

Schwer vorzustellen, dass hier bereits im Mittelalter ein auf ganz Afrika und Arabien ausstrahlendes Zentrum der Wissenschaft blühte. Dass Timbuktus Universitäten berühmt für ihre Werke der Astronomie, Medizin, Geschichte, Geographie und Rechtswissenschaften waren. Dass im 14. Jahrhundert der malische König Moussa Mansa, mit einer Entourage von zehntausenden Dienern, und zwei Tonnen Gold als Reisekasse per Kamelkarawane nach Mekka aufbrach – und auf dem Rückweg Gelehrte aus der ganzen islamischen Welt mitbrachte.

Eine „Fattash“ genannte bis zum Ende des 16. Jahrhundert reichende Chronik beschrieb Timbuktu in den höchsten Tönen: „Von der Provinz Mali bis zu den äußersten Grenzen des Maghreb war keine Stadt so bekannt für ihre herrlichen Institute, ihre politischen Freiheiten, ihre große Moral, die Sicherheit ihrer Einwohner und ihres Besitzes, ihre Güte und ihr Mitgefühl gegenüber Armen und Fremden, ihre Zuvorkommenheit gegenüber Studenten und Männern der Wissenschaft, von Schülern und Gelehrten“. Zur Blütezeit Timbuktus zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert sollen sich mehr als 150 Koranschulen mit ungefähr 5000 Schülern in der Stadt befunden haben. Ganz zu schweigen von den Privat-Bibliotheken, die Werke bis aus Europa besaßen und hunderte von Kopisten anstellten.

Man muss diese ganz große Geschichte eines toleranten, für die Welt und die Wissenschaft offenen Islam vor Auge haben, um zu ermessen, was das „Festival du Vivre Ensemble“ für die Bewohner der Stadt bedeutet. „Lasst euch nicht instrumentalisieren, von denen die euch spalten wollen“, mit diesen Worten eröffnet Abu Bakrine Cissé, der Bürgermeister von Timbuktu, am Freitag abend das Festival. „Timbuktu wurde siebenmal kolonisiert, besetzt von den Marokkanern, den Franzosen, den Fulani und den Bambara. Wir haben alle integriert, gelernt mit ihnen zusammen zu leben.“ Man müsse die Kultur in die einst als Hort der Toleranz gepriesene „Stadt der 333 Sufi-Heiligen“ zurückbringen. Und vor allem: den Menschen der verschiedenen Ethnien einen Ort zu geben, an dem sie zusammen reden, feiern, und tanzen. Die Nachricht hat sich längst rumgesprochen:

An der Lehmmauer vor dem Stadion reihen sich Hunderte von Mofas, eine Traube junger Männer und Frauen in bunten Turbans, mit und ohne Kopftüchern drängt sich vor dem Eisentor. Drinnen spielt sich eine Art Familienfeier ab: Tuaregs reiten auf ihren Kamelen durch das Stadion, Hostessen in hellblauen Damastgewändern geleiten die Ehrengäste ans Mikrophon, Männer, Frauen und Jugendliche in wallenden Gewändern drängen sich auf Teppichen und Sofas vor der Bühne. Nicht alle hier sprechen Tamashek, die Sprache der Tuareg. Aber alle verstehen die fast schmerzvolle Sehnsucht des Wüsten-Blues, den Kader Tarhanin in seinen Gesang legt: Es geht um jahrhundertealte Nomaden-Bräuche, der Wille sich (von keiner Regierung) seine Grenzen diktieren zu lassen. Und ja, natürlich die Schönheit der Henna- und Goldschmuck-tragenden Tuareg-Frauen.

Auch als Mylmo, ein HipHop-Star aus Bamako, seinen Song „Histoire de Mali“ auf die Bühne bringt – leuchten hunderte von Handys auf. Es ist eine Abrechnung mit der Geschichte des Vielvölkerstaates, die auch die Tuareg-Aufstände und blutigen Racheaktionen der malischen Armee nicht auslässt. Lauter Zustimmungs-Jubel. Einige HipHop-Käppi-tragende Jugendliche springen vor Begeisterung im Kreis. „Er sagt die Wahrheit“, erklärt Mohammed, der ehemalige Tourguide. „Viele meiner Tuareg-Verwandten bleiben wegen dieser Geschichte lieber in den Flüchtlingslagern in Mauretanien. Sie erinnern sich noch zu gut an die Massaker von 1996“. In seinem leeren Haus hat er nun Musiker aus Bamako und Algerien aufgenommen. Kostenlos. Denn so sei es immer in Timbuktu gewesen: „Du kannst jederzeit zu einem Nachbarn und bekommst dort Essen und ein Bett“. Als die Band von Vieux Farka Touré, Sohn der Sahel-Blues-Legende Ali Farka Touré, die Bühne betritt, wird klar, warum die Dschihadisten diese Musik verboten hatten. Der pentatonische Gitarren-Groove, traditioneller Bindestoff für das örtliche Gemenge aus Tuareg, Songhay, Fulani und Bambara, tut immer noch seine Wirkung: Strahlende Gesichter. Wehende bunte Schleier. Männer, die sich an den Händchen halten und tanzen.

Das „Festival Vivre Ensemble“ würde gerne an das berühmte „Festival Au Desert“ anschließen: Bis 2011 hatten Tuareg am Stadtrand von Timbuktu ein jährliches Musikfest veranstaltet. Bono und Led Zeppelin-Gitarrist Robert Plant jammten hier an der „afrikanischen Wiege des Blues“ – zehntausende Fans folgten ihnen. Tuareg-Rock in einer Zeltstadt unter dem Sternenhimmel der Sahara: Was könnte romantischer sein? Wenn nur die Sicherheitslage mitspielen würde! „Sie können das Hotel nicht ohne Begleitschutz verlassen“, warnt der Manager der „Auberge du Desert“. Womöglich hätten die Dschihadisten auch in der Stadt Augen und Ohren. Die Bühnenteile und die Technik für das Festival waren mit Pirogen auf dem Niger aus Bamako gekommen. Organisiert hat das alles maßgeblich die NGO „Instruments 4 Africa“ – mit finanzieller Hilfe der US-Botschaft. Musik als Mittel gegen den Extremismus. In diesem Sinn finden überall in der Stadt auch Lesungen, öffentliche Debatten und sogar eine Modenschau statt.

In einem Anbau der „Auberge du Desert“ leitet El Hadj Djitteye einen zehntägigen Workshop: „Führungstraining in der Zivilgesellschaft“. Ditteye, nach der Krise an der University of Washington zum Konfliktmanager ausgebildet, unterrichtet zwei Dutzend junge Männer und Frauen, die ihr Wissen später an lokale Organisationen weitervermitteln sollen: Was sind unsere traditionellen Methoden der Konfliktlösung? Warum funktionieren sie oft nicht? Wie können sich junge Leute selbst ermächtigen, um gehört zu werden? „Wir müssen die traditionellen Autoritäten in die moderne Rechtsprechung einbeziehen“ steht auf einem Flipchart und: „Mit Klarheit und Struktur reden, wie es schon der Prophet Mohammed gefordert hat“. Thema des Tages allerdings ist ein missglückter Terroranschlag am selben Morgen. Der Selbstmord-Attentäter hatte sich in seinem Auto kurz vor der Ortseinfahrt von Timbuktu in die Luft gesprengt – sein eigentliches Ziel, spekuliert Festival-Mitveranstalter Mohamad Ag Hamaleck, könnte das Festival gewesen sein. „Wir haben lange über einen Abbruch diskutiert. Aber niemand wollte das wirklich. Die Menschen in Timbuktu brauchen das Festival, damit Freude und Vertrauen zurückkehren. Es abzusagen würde uns alle nur deprimieren. Weil die Dschihadisten dann gewonnen hätten“.

Man kann Timbuktu heute als Vorbild für die Entwicklung einer wehrhaften Zivilgesellschaft sehen. Eine Stadt, die zwischen Globalisierung, Dschihadismus und staatlicher Vernachlässigung, versucht, ihre Kultur am Leben zu erhalten. „Wir haben unsere eigenen demokratischen Traditionen“, hatte der Bürgermeister gesagt. „In den Koranschulen war – anders als heute in den staatlichen Schulen – der Unterricht erst zu Ende wenn die Lehrer alle Schülerfragen erschöpfend beantwortet hatten“. Warum der Westen immer nur über die Islamisten berichten würde?

„Place Heinrich Barth“, steht auf der Steintafel am Vorplatz der Sidi Yahiya Moschee. „Mit den Deutschen teilen wir die Liebe zur Literatur“, erklärt der Schriftsteller und Historiker Salem Ould El Hadj und streicht sich bedächtig seinen weißen Bart. „Ein seltenes Buch ließen sich die Gelehrten hier oft mehr kosten als eine Herde Kamele“. Der alte Mann führt die Gäste des Festivals Vivre Ensemble durch „seine“ Stadt: Zu den einstöckigen Lehmhäusern, in denen einst Caillies, Laing und Barth übernachteten. Zu einem Literatur-Club, in dem junge Schülerinnen sich für Victor Hugo und Voltaire begeistern – und zur Imam Ben Essayouti Bibliothek, deren vielfarbige Kalligraphien zum Teil aus dem 15. und 16. Jahrhundert stammen. In einem lokalen Versteck entgingen sie der Vernichtung durch die Dschihadisten. „Über zweihunderttausend Manuskripte haben wir während der Besatzung nach Bamako heraus geschmuggelt“, sagt Ould El Hadj vor den wieder aufgebauten Heiligengräbern an der Mauer der großen Moschee. „Auf Eselskarren, Lastwagen und Booten, unter Gemüse und Brennholz versteckt. Wir haben sie ausgetrickst“. Der alte Mann grinst, während geschminkte Frauen in bunten Tüchern und Leggins auf ihren Mofas vorbeibrausen. Erst nach der Besatzung sei den Menschen in Timbuktu wirklich klar geworden, auf welchen Schätzen sie sitzen: „Die Schönheit tritt erst im Augenblick des Verlusts hervor“.

JONATHAN FISCHER

in gekürzter Form erschienen in der SZ, 10.5.2019

Saite gerissen – Malis berühmte Kunst- und Musikschule „Institut National des Arts“ bringt trotz Notstand und Vernachlässigung durch die Politik noch Stars wie Wassa Kouyaté hervor

Bamako, Parc National: Wassa Kouyatés klarer nasaler Gesang dringt durch den Lärm der Mofas, das Gehupe der Busse und das Lachen von Schulkindern, die in ihren blauen Uniformen über den Rasen rennen. Hier im einzigen Park der staubigen Metropole am Niger probt sie ihre neuen Lieder. Songs über ihr Heimatdorf Djoliba, über die Liebe und den Verlust der Menschlichkeit in der Stadt. Ab und zu bleiben Passanten stehen, zücken ihre Handys und filmen die junge Frau, die ihr Saiteninstrument auf dem Schoß wiegt wie ein zu groß geratenes Baby.

Wassa Kouyaté aber scheint ihre Umwelt kaum zu bemerken. Sie spricht mit der Kora. Sie atmet, sie schreit, sie fleht mit den perlenden harfenartigen Klangkaskaden, die sie dem Instrument entlockt. Es scheint fast, als sei das westafrikanische Saiteninstrument mit dem Kalebassen-förmigen Bauch und dem schmalen Hals eine natürliche Verlängerung ihres weiblichen Körpers.

„Ich bin schon als Kind auf unerklärliche Weise von der Kora angezogen worden“, erklärt die 22-Jährige und lacht ihr kehliges Lachen. Eine Anziehung, der sie – zumindest nach den ungeschriebenen Gesetzen der malischen Gesellschaft – nicht hätte nachgeben dürfen. „Jede freie Minute verbrachte ich bei einem älteren Nachbarn, und bat ihn mir etwas auf der Kora zu zeigen – auch wenn ich wusste, dass das Instrument traditionell nur Männern vorbehalten war.“

Nach der Unabhängigkeit 1960 blühte die Musik auf, dank staatlicher Förderung

Dass Wassa Kouyaté inzwischen als erste malische Koraspielerin im nationalen Fernsehen auftritt, sie auf großen Festivalbühnen spielt, und regelmäßig zwischen Marrakesch, Paris und London tourt, das hat sie einer Schule zu verdanken, die einst das kulturelle Aushängeschild Malis werden sollte: Dem Institut National des Arts (INA). Es gibt dort Klassen für Theater, Bildhauerei und Schmuckdesign, in der Fotografieklasse studierte einst Malick Sidibé, doch am berühmtesten ist die Musikabteilung. Sie hat bereits ein Dutzend internationaler Stars hervorgebracht. Habib Koité etwa, Cheick Tidiane Seck oder Baba Salah.

„Als ich mich hier für ein Studium einschrieb“, sagt Wassa, „war ich die einzige Frau in der Kora-Klasse“. Das koloniale Prachtgebäude mit seinen Säulen und Giebeln bröckelt vor sich hin, schwarze Schlieren laufen über die einst gelben Wände, in den Gängen stapeln sich kaputte Stühle und zerbrochene Instrumententeile.

Für Wassa bedeutete dieser Ort trotzdem die Rettung. Ihre Mutter hatte sie dazu gedrängt, Jura oder Medizin zu studieren, alles wäre ihr lieber gewesen als dieses „Männerinstrument“. „Selbst meine Kommilitonen versuchten mich zu überreden, als Frau stattdessen Gesang oder Klavier zu lernen.“ Wassa aber blieb stur.

Das Leben in Mali spielt sich draußen ab. Zwar verfügt das Institut des Arts über zwei Stockwerke mit Dutzenden gegen die Hitze abgedunkelten und neonbeleuchteten Klassenzimmern. Wenn möglich aber treffen sich alle im Innenhof. Zwei Balafon-Spieler hocken im Schatten des großen Mangobaums und klöppeln pentatonische Melodiebögen aus ihren Lamellen-Kästen. Gegenüber posiert eine Gruppe von jungen Frauen in traditionellen Wickel-Kostümen für ein Selfie. Andere Studenten lehnen, ein Buch in der Hand, auf ihren Mofas.

Nur Wassa ist mit dem eigenen Auto gekommen. dem Statussymbol einer, die es geschafft hat. Allerdings hat es diesmal länger gedauert: Die in Bamako verschrieenen Verkehrspolizisten hätten sie unterwegs angehalten und ihr den Führerschein abgenommen. „Natürlich ging es nur um Geld.“ Wassas Augen blitzen. „Wir haben dich im Fernsehen gesehen“, habe einer der Polizisten gesagt, „du musst reich sein. – Genau das ist der Grund, warum Afrika nie voran kommt.“

Es sind fast die selben Worte, die wenig später der Direktor der Musikabteilung wählen wird – nur auf die Politiker gemünzt, die das Institut des Arts verhungern ließen. „Die ganze Welt schätzt Mali für seine Musik, den wichtigsten kulturellen Rohstoff unseres Landes. Nur hierzulande scheint sie nicht zu zählen.“

Tatsächlich war die INA dafür geschaffen worden, jungen Talenten aus dem ganzen Land die Möglichkeit zu geben, sich zu professionalisieren, den Umgang mit Instrumenten, Medien und moderner Technik zu erlernen, sie auf eine künstlerische Karriere vorzubereiten. Dass Wassa Kouyaté und andere von hier aus den Sprung geschafft haben, spricht aber vor allem für ihre Leidensbereitschaft. Und den langen Atem ihrer Lehrer.

„Wir brauchen dringend Hilfe aus dem Ausland“, mahnt Abdramane Keita in seinem Büro voller zerschlissener Bücher und bittet den Besucher auf einen Plastikstuhl. Der Leiter der INA-Musikabteilung streicht über die Ärmel seines Boubou-Gewandes: „Eigentlich ist der Kulturminister für uns zuständig. Aber glauben Sie, dass der sich für Musik interessiert? Er hat sich hier schon ein ganzes Jahr nicht blicken lassen. Geschweige denn Geld geschickt.“

Kempes Sacko, der Leiter der Gitarren-Klasse nickt zustimmend. Hätte ihm nicht ein amerikanischer Freund gerade ein paar Dutzend Gitarren-Saiten und Ersatzteile für einen Verstärker mitgebracht, hätte er seine Abteilung schließen müssen, mangels spielfähiger Instrumente. In Mali werde Kulturpolitik eben nicht auf der Basis von Wissen und Kompetenz gemacht. Die Posten werden nach Loyalität vergeben. „Der für uns zuständige Ministerialbeauftragte hält ab und zu eine schöne Rede, aber unsere Lehrer wissen nicht mal, wann sie ihr nächstes Gehalt bekommen.“

Tatsächlich mag man es kaum fassen: Hätte die Musikweltmacht Mali mit Stars wie Salif Keita, Oumou Sangaré bis Ali Farka Touré nicht allen Grund, dieses Potenzial für sich zu nutzen? Müsste die Regierung nicht all die talentierten Jugendlichen dabei unterstützen, eine ähnliche Laufbahn einzuschlagen? Nach Malis Unabhängigkeit im Jahr 1960 bis in die Siebzigerjahre hinein hatte der Staat Orchester in allen seinen Provinzen gegründet, kubanische Musiker ins Land geladen, und Big Bands wie Les Ambassadeurs, Super Biton de Segou oder die Rail Band  finanziert.

Ganz ähnlich verhielt es sich in den Nachbarländern Senegal, Burkina Faso oder Guinea. Kein Wunder, dass viele der ikonischen Aufnahmen des westafrikanischen Pop, jene Melangen von Soul, Latin und traditioneller Musik, aus dieser Epoche stammen. Heute scheint das beinahe vergessen. Nach dem Staatsstreich von 2012 habe der Staat die Förderung von Festivals und internationale Austauschprogramme eingestellt. „Wir vermissen eine Vision, die die Musik dafür nutzt, unser Land zu modernisieren“, sagt Keita.

Ideen hätten sie an der INA genug – von der Transkription traditioneller Lieder über Konzerte bis zur Einrichtung eines eigenen Studios. Ganz oben auf der Wunschliste der Musikabteilung: Blasinstrumente, Pianos, Gitarren, Schlagzeuge und Drum Sticks. „Wenn wir nur eine Musikschule im Westen als Partner gewinnen könnten – dann müsste sich nicht mehr ein Dutzend Schüler ein einziges Instrument teilen.“

Die Verstärker sind defekt, die Koras verzogen, die Computer hat der Direktor verkauft

Was Keita nicht so gerne erzählt: Der Gesamt-Direktor der INA wurde vor einem Jahr seines Postens enthoben, er hatte Schulcomputer auf eigene Rechnung verkauft. „Eine Image-Katastrophe“. Denn wer rede schon von den Lehrern, die hier trotz karger Gehälter tagaus tagein ihr Bestes gäben, mit saitenlosen Gitarren, von der Feuchtigkeit verzogenen Koras, defekten Verstärkern und kopierten Schulbüchern die nächste Generation von Stars auf die Bühnen der großen Welt hieven?

Kempes Sacko, der Gitarrenlehrer, probt in seinem Klassenzimmer mit einer viel versprechenden Schulband: Drei Gitarren, Schlagzeug, Perkussion. Dazu singt eine junge Frau ein uraltes und gleichzeitig hochaktuelles Klagelied über einen ungerechten König. Wassa Kouyaté summt die Zeilen mit. Immerhin, bemerkt sie, hätten sich seit ihrem Studium ein paar Dinge verbessert: Bereits drei Frauen seien inzwischen in der Kora-Klasse!

Sie selbst aber steht vor neuen Herausforderungen: Nach ein paar selbstfinanzierten Videos möchte sie endlich ein Album aufnehmen. „Wenn ich mir keinen Produzenten in Paris leisten kann, dann lerne ich es eben selbst.“ Trotziger Optimismus liegt in ihrer Stimme. Dann klingelt ihr Handy. Es ist der Chef des örtlichen Polizeidezernats, einer ihrer Fans. Es tue ihm schrecklich leid, er habe seine Untergebenen wegen des Vorfalls bereits zur Rede gestellt, ihr Führerschein werde gleich mit einem Boten an sie zurück geschickt. „Merci“, sagt Wassa nur – so als habe sie nichts anderes erwartet.

JONATHAN FISCHER

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Migration ist eine wunderbare Sache – Afropopkolumne

kel-assouf-black-tenereMigrierende Sounds sind die Spezialität von Ekiti Sound: Da tanzen etwa in dem Video „Ife“ von Ekiti Sound drei junge nigerianische Frauen anmutig in einem Hinterhof in Lagos. Wenn traditionelle Tänze der Ibo, Yoruba und Hausa die treibenden perkussiven Rhythmen liefern, dann wummst der tiefe Sub-Bass, tschirpen die Computerspiel-Melodien direkt aus einem Londoner Techno-Club herüber. Hinter dem interkontinentalen Mash-Up von Ekiti Sound steckt der Nigerianer Leke aka CHIF. Sein Debut „Abeg No Vex“ (Crammed Discs) lässt ahnen, dass er schon verdammt Vieles um die Ohren hatte. Leke pendelte seit seiner Jugend zwischen Lagos und London hin und her, hatte zuletzt einen Job als Film-Sound-Designer für Nollywood, das nigerianische Pendant zu Hollywood, und wenn er nun Drum’n Bass, Afrobeat, Funk, britisch-nigerianischen Rap, Elektronik und Talking Drums zusammenspannt, wirkt das wie der Soundtrack eines Films über einen durchgedrehten Club-Nomaden. Avantgarde möchte man sagen – würde diese strenge Vokabel nicht darüber hinweg täuschen, wie enorm tanzbar, sommerlich lebensfreudig und ansteckend die Songs dieses Albums daherkommen: mit flirrenden Highlife-Gitarren, ätherischen Synthies und den raspelnden Chants von Mitstreiter Prince G vertonen sie traditionelle Sprichwörter wie „Jeder Sünder kann ein Heiliger sein/ und jeder Heiliger ein Sünder“.

Eine andere Art von Afropunk liefert das neue Album von Kel Assouf. Auf „Black Tenere“ (Glitterbeat) stampft die Band um einiges ruppiger als die Tuareg-Konkurrenz von Tinariwen oder Tamikrest. Die Kritiker brachte das ins Rätseln: Ist das „afrikanischer Heavy Metal“? „Eine Mischung aus Led Zeppelin, Black Sabbath und Wüsten-Blues“? Oder gar eine „Briefbombe aus der Sahara“? Nun gut, verletzen können Kel Assoufs Sound bestenfalls Weltmusik-Romantiker, die den Gitarrenrock der Tuareg (oder wie sie sich selbst nennen: Tamashek) zur nostalgischen Wüstenmeditation verklären. „Black Tenere“ will alles andere: Das macht Frontmann und Bandleader Anana Ag Haroun schon mit der Wahl seiner Flying V-Gitarre deutlich. Aufgewachsen im Niger und sozialisiert mit westlichem Rock, hat er nach seinem familiär bedingten Umzug nach Brüssel seinen Gitarren-Verstärker immer lauter aufgedreht. Auf seinem dritten Album mit Kel Assouf gibt sich Haroun nicht nur politisch-kämpferisch mit Songs wie „Fransa“, die Frankreichs Kolonialpolitik verdammen. Er entdeckt auch die elektronische Musik für sich. Zu verdanken ist das seinem Produzenten und Keyboarder Sofyann Ben Youssef. Der Tunesier schoss letztes Jahr unter seinem Alias Ammar 808 nordafrikanische Arabesken mit Hilfe synthetischer Basslinien in die Techno-Umlaufbahn. Nun legt er Club-Beats und schiebende Synthesizer unter Harouns kreiselnde Riffkürzel und schafft selbst auf den leiseren Songs, die etwa die Sahara-Landschaft und das „Parfum der Akazien“ besingen, das psychedelische Ambiente eines aus der Ferne fauchenden Sandsturms. „Musik“, sagt Haroun, „muss reisen und fremde Klänge mitnehmen, um interessant zu bleiben“.

Das würde wohl auch Bassekou Kouyate unterschreiben. Seit seinem 2007er Debut „Segu Blu“ elektrisierte der malische Griot seine Ngoni-Laute, schaltete Feedback und Wah-Wah-Pedale zu, experimentierte zuletzt auf „Ngoni Ba“ gar mit Indie-Rock-Anleihen. Nun kehrt Kouyate auf „Miri“ (Outhere Records) zu seinen Wurzeln zurück. Dem semi-akustischen Setting der Familienband. Dem pentatonischen Bamana-Groove. Und einer wunderbaren Melancholie irgendwo zwischen Verletzlichkeit, Trotz und „Insch‘allah“. Tatsächlich hatte sich der Musiker nach dem Tod seiner Mutter wochenlang mit seiner Ngoni in sein Heimatdorf ans Ufer des Niger zurückgezogen – um die Klage über diesen Verlust und den Zustand seines Landes in anrührende Songs zu gießen. Songs wie „Wele Ni“: Das Epos über einen historischen malischen König, der sich in seiner Überheblichkeit nicht um seine Untertanen scherte, wird jeder Malier als Anspielung auf die korrupte Regierung verstehen. Sahel-typische Gitarrenlicks verstärken die Aura des Verlorenen. Vor allem aber legt der Flow sich verzahnender Ngoni-Riffs Kouyates immer wieder die Startrampe für die melismatischen Gesänge von Kouyates Ehefrau Amy Sacko. An anderer Stelle mag man Latino-Rhythmen heraushören. Dass Kouyate sich illustre Gäste wie Habib Koité, Afel Boucoum, Abdoulaye Kouyate und die kubanischen Rapper von Madeira Limpia eingeladen hat, schön und gut. Die stoische Kraft seiner Musik aber kommt von innen. Aus der eigenen Tradition, die ihre afroamerikanischen Blues-Cousins umarmt. Migration ist eine wunderbare Sache.   JONATHAN FISCHER

SZ 23.4.2019