Monatsarchiv: Dezember 2016

INS SCHWARZE GETROFFEN – Der Schauspieler und Stand-up-Comedian Donald Glover macht auch Musik. Als Childish Gambino holt er den psychedelischen Funk der siebziger Jahre in die Gegenwart zurück.

Als hätte der Musiker genau gewusst, was da auf sein Land zukommt: Childish Gambinos neues Album passt nur zu gut zur gegenwärtigen Paranoia Amerikas, zur Frustration über Rassismus und zur rückwärtsgewandten Politik des neugewählten Präsidenten. Dabei ist sie inspiriert von einer Musik, die in ihrer Blütezeit, den frühen 1970er Jahren, die Hoffnungslosigkeit der brennenden Ghettos Amerikas einfing. «There’s A Riot Going On», hiess die Botschaft damals. Und wo Sly Stones Meisterwerk aufhörte, da macht Childish Gambino nun mit «Awaken, My Love!» weiter. images

Childish Gambino? Das ist das musikalische Alter Ego des afroamerikanischen Schauspielers, Autors und Stand-up-Comedians Donald Glover. Gerade erst hat ihn die Kritik für die selbstproduzierte Serie «Atlanta» bejubelt, in der er in der Rolle eines vom Leben gebeutelten Hip-Hop-Managers die Existenz- und Überlebensängste junger Afroamerikaner schonungslos-makaber zur Schau stellt.

Nebenbei nahm der 33-jährige Schauspieler als Childish Gambino bereits zwei Hip-Hop-Alben auf: 2011 das Debüt «Camp» und als Nachfolger das für einen Grammy nominierte «Because The Internet» – beides Versuche, die Stereotype des afroamerikanischen Hip-Hop aufzubrechen.

Nun aber lässt Glover den Hip-Hop links liegen. Und rekurriert auf eine Musik, deren Blütezeit er selbst nicht erlebt hat: den Funk. Genauer gesagt, die psychedelische Spielart von Funk, in der paranoide Weltflucht, kosmisches Bewusstsein und politische Revolution zueinanderfinden. «Awaken, My Love!», so viel kann man vorwegnehmen, erinnert in seinen besten Momenten an ein gerade wiederentdecktes Studio-Juwel aus den 1970er Jahren.

Das fängt schon mit dem Cover an: Childish Gambinos Maskengesicht zitiert offensichtlich das ikonische Funkadelic-Album «Maggot Brain». Auch Beat-Box-Rhythmen, ausgewaschene Gitarren und tripartige Chorgesänge bescheren Funk-Liebhabern zahlreiche Déjà-vu-Erlebnisse. Was an sich kein Problem ist: Ein wenig Ahnenverehrung, zumal von einem klugen Hip-Hop-Ager wie Glover, gehört zu den Zutaten jedes grossen Wurfs in der schwarzen Musik: Man denke an Kendrick Lamars Jazz-Zitate oder an Anderson Paaks Siebziger-Jahre-Soul.

«Awaken, My Love!» allerdings weckt manchmal den Verdacht eines theatralischen Reenactments. Für solche Irritationen sorgt Glover selbst: Im September hat er einen dreitägigen Camping- und Konzert-Event im kalifornischen Joshua Tree organisiert, um die neue Funk-Identität von Childish Gambino mit Smartphone-Verbot, psychedelischen Videos und einer wilden Kostüm-Show im Siebziger-Jahre-Ambiente zu suggerieren. Und in einem «Billboard»-Interview schwadronierte er über «Schwingungen für die menschliche Zukunft» und – nun ja – über den «Beginn einer globalen Revolution».

Man sollte Glover alias Childish Gambino aber nicht zu sehr an seinen Worten messen – sondern an seiner Musik. Immerhin hat er die elf Songs von «Awaken, My Love!» ausdrücklich als eine «Übung in blossem Fühlen und Klang» bezeichnet. Und das beherrscht Glover. Sein klagendes Falsett und aufgekratztes Stöhnen und Schreien treffen einen Resonanzboden, den seine einstigen Rap-Verse kaum erreichten.

Die Geister von Outkast, George Clinton, Bootsy Collins und Shuggie Otis, Jimi Hendrix und – allen voran – Sly Stone schweben über Childish Gambino. Und wenn der erste ungebändigte Schrei der Eröffnungsnummer «Me And Your Mama», begleitet von kosmischen Chören, verzerrten Gitarren und schweren Bässen, durch die Lautsprecher fegt, sind Zeit und Raum aufgehoben. Das Funk-Mutterschiff hebt nun mühelos ab. Ebenfalls galaktisch grossartig: das von Funkadelic-Orgeln und jeder Menge Sendungsbewusstsein getriebene «Riot» mit seinen «Black and proud»-Lyrics. «Love to say they feel us / but they won’t take my pride».

Oder «Redbone», in dem Glover über verschlungenen Gitarren-Sounds und einem Arrangement, das Prince alle Ehre gemacht hätte, seine Landsleute zur Wachsamkeit aufruft. Glover reduziert die Lyrics auf das Nötigste. Alles bleibt angedeutet, untermalt von Wah-Wah-Gitarren, Glockenspielen und Gesängen, die mehr erzählen, als es reine Texte jemals könnten.

Das Schöne an diesem Album: Glover und sein schwedischer Produzent Ludwig Göransson haben die Idiosynkrasien des Genres genau studiert. Mal klingelt ein Xylofon durch die Gitarrenwand, mal unterminiert eine unterirdisch grummelnde Basslinie die harmlose Mitsing-Melodie. Oder ein Synthesizer schneidet kalt in den Soulgesang. Es sind betörende Klangbilder, die zwischen Lounge-Jazz, P-Funk, Gitarren-Acid-Trip und Gospelklage changieren.

Das moralische Rückgrat

Zugegeben, Glovers «Awaken, My Love!» teilt bisweilen das Problem vieler Vergangenheitsbeschwörungen: Es lässt die Gegenwart vermissen, die er mit seiner Rap-Persona oder als Schauspieler in «Atlanta» verkörpert. Ein paar nostalgische Schnörkel weniger wären hier mehr gewesen. Und doch gelingt es Glover immer wieder, über den Pastiche hinauszuwachsen, persönlich zu werden: etwa in „Baby Boy“, das er als Vater leidenschaftlich an seinen Sohn adressiert: Es geht um Familienwerte, Tradition, Rückbesinnung auf geschichtliche Stärken.

Sie sind von «Stand Tall» bis „Me And Your Mama“ das moralische Rückgrat dieser Platte. Und wenn man Childish Gambino fast ein halbes Jahrhundert nach Sly Stone mit ängstlicher Stimme von einer Welt klagen hört, der «die Kapitäne fehlen», passt auf einmal alles punktgenau: Dieser Funk trifft atmosphärisch ins Schwarze.

JONATHAN FISCHER

NZZ, 28.12.2016

Deutsche Trinklieder und Afrorock – Für die Ausstellung „Stolen Moments“ in Bayreuth hat der Filmemacher Thorsten Schütte die Popkultur der schwarzen Townships Namibias während der Zeit der Apartheid wiederentdeckt

26 jl70Es hatte als Forschungsprojekt begonnen. Und endete in der Organisation der größten Ü40-Party, die Namibia je gesehen hatte, einem Auflauf von Hunderten von Senioren, die kostenlos per Bus herangekarrt worden waren und nun noch einmal begeistert die Tänze ihrer Jugend tanzten, den Boymasaka, Langarm oder Froggy Froggy mit teils Breakdance-ähnlichen Einlagen gaben, und das – die Gemeindehalle war überfüllt – auch auf den Parkplätzen und Zufahrtsstraßen. Ein Filmteam um den deutschen Dokumentarfilmer Thorsten Schütte schnitt alles mit. „Irgendwann werden diese Tänze für immer verloren sein“, sagt Schütte, „irgendwann wird niemand mehr die Schlager der Eltern und Großeltern kennen“.

  Um daran zu erinnern, dass Namibias Pop-Geschichte nicht erst mit der späten Unabhängigkeit von Südafrika im Jahre 1990 anfing, sondern dass es großartige Sängerinnen und Songs gab, die den Menschen die Kraft gaben, schon unter dem Apartheid-Regime durchzuhalten, ist er zusammen mit zwei namibischen Kollegen monatelang durch das Land gereist, um alten Menschen noch einmal die Musik ihrer Jugend vorzuspielen. Es sollte um Sänger, Liedtexte und Auftrittsorte gehen, doch dann kam noch viel mehr in Bewegung. „Sobald wir das Aufnahmegerät laufen ließen“, erklärt Schütte, „wollten unsere Interview-Partner, die dazugehörigen Tänze vorführen. Sie hatten noch all die Schritte und eleganten Drehungen drauf. Es war ein Riesenspaß.“

  Der zweistündige Mitschnitt, der die Tänze der betagten Südwestafrikaner auf Großleinwand zeigt, ist Teil der beeindruckenden Ausstellung „Stolen Moments“. Sie gibt einen Überblick über vier Jahrzehnte namibische Popgeschichte. Bis März ist die von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Multimedia-Show noch im Iwalewa-Haus der Universität Bayreuth zu besichtigen, dann zieht sie weiter nach Basel und Berlin.

  Die Ausstellung kommt genau zur richtigen Zeit: Deutschland, das bis zum Juli 1915 als Kolonialmacht auftrat und dessen Truppen zwischen 1904 und 1908 über 75 000 Mitglieder der Volksgruppen der Herero und Nama ermordeten, will sich in den nächsten Monaten bei Namibia offiziell für den Völkermord im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika entschuldigen. Dass das Deutsche später – und auf weit friedlichere Weise – die populäre Kultur des Landes beeinflusste, auch das zeigt „Stolen Moments“. Besonders das digitale Musikarchiv hat es in sich: Es enthält nicht nur Cover deutschsprachiger Schlager wie „Trink Brüderchen Trink“, die schwarze Hotelbands einst für die Nachfahren der Kolonialherren intonierten, sondern auch Beatles-Songs in Pseudo-Englisch oder Kampfsongs der schwarzen SWAPO Guerilla. Oft spielten all das übrigens dieselben Musiker! Dazu haben namibische Künstler eigens für „Stolen Moments“ Plattencover für Alben gestaltet, die es so nie gab. Meist waren nämlich Tonbandaufnahmen und alte Kassetten des namibischen Rundfunks die einzige Quelle.

  Ein Zufallsfund stand am Anfang. Schütte war bei den Recherchen zu einem seiner Dokumentarfilme auf das Tonarchiv des nationalen Radiosenders in Windhoek gestoßen. Namibische Popmusik aus der Zeit der Apartheid. Doch während die größten Hits der Fünfziger bis Achtziger hierzulande jede Menge Motto-Parties befeuern, waren sie in Namibia völlig vergessen. Niemand konnte oder wollte sich so genau erinnern. Ist es aber nicht wenigstens die Pflicht jüngerer Generationen, für das kollektive Gedächtnis die Vergangenheit zu bewahren? Schütte fand zwei namibische Mitstreiter: Baby Doeseb, Jahrgang 1958, Musiker und Toningenieur für die Namibian Broadcasting Corporation, sowie die Kommunikationswissenschaftlerin Aino Moongo. Moongo, deren Eltern im Widerstand gearbeitet hatten, war 1974 auf der Flucht nach Angola zur Welt gekommen, und nach fünf Jahren in Flüchtlingscamps mit der Mutter nach Schweden ausgewandert. Als Mitarbeiterin der schwedischen Botschaft kehrte sie später in ihre alte Heimat Namibia zurück, und organisierte unter anderem das erste namibische Filmfestival. Die Recherchen zu „Stolen Moments“ sieht sie als eine Art kollektive Therapie: „Wir kannten bisher nur die Musik der Besatzer. Oder die angestaubten Protest- und Politsongs der SWAPO, die heute die Regierung stellt. Wir wussten nicht, dass wir darüber hinaus noch eine eigene Geschichte hatten.“

  Die eigene Geschichte lag unter manchen Schichten Staub. Schütte, Doeseb und Moongo digitalisierten Tausende Magnet-Tonbänder aus den Musikarchiv des namibischen Rundfunks, die offensichtlich seit Jahrzehnten nicht mehr angerührt worden waren. Was sie fanden, begeisterte sie: heimische Folklore, Funk- und Rock-Fusionen, Songs, die einst in den Townships, den Shebeens, den Juke Joints und Ballsälen gespielt wurden. Etwa der schrille, chorale Jazz der Outjo Singers. Oder die Tswana-Balladen des Sängers und Songwriters Ben Mulazi, Musik die einst in den Dancehalls gespielt worden war. Warum nicht durch den Filter dieser Musik ein Generationen-Porträt versuchen? Spiegelte nicht gerade die Popkultur den Zustand einer ganzen Gesellschaft – mit all ihren Wirrungen? „Wir waren eigentlich eine SWAPO-Band“, sagt Baby Doeseb, und meint seine Band The Ugly Creatures, die mit ihrem Afro-Rock in den Siebzigerjahren in Namibia Popstar waren. „Aber dann wurden wir oft auch von Afrikaans sprechenden Weißen gebucht. Sie ließen uns in Hotels auftreten und gaben uns im Voraus ihre Lieblingsplatten, damit wir ihre Musik lernen konnten“.

  Sechs Jahre dauerten die Recherchen des „Stolen Moments“-Teams. Kaum einer der alten Musiker war noch im Geschäft, viele bereits gestorben. Andere hatten als Busfahrer, Lehrer oder Näherin überlebt.

  Für nicht wenige wichtige Fragen des Projekts, waren sie die Letzten, die man fragen konnte: Von was handelten die Liedtexte? Wie lebten die Musiker? Wie gingen sie mit den Zwängen der Apartheid-Politik um? Welche Märkte und Möglichkeiten gab es für sie? Und was bedeutete Musik in einem von Zensur beherrschten Gesellschaftssystem?

  „Die Musik schenkte uns einen Rückzugsort“, sagt Baby Doeseb, „sie war oft der einzige Raum, in dem wir uns frei bewegen konnten“. Unter dem Apartheid-Regime habe es allerdings kaum Aufnahme-Möglichkeiten gegeben. Studios, Plattendeals und Vertriebe waren extrem rar. Wenn es sie gab, dann veröffentlichten sie nur harmlos Kirchenmusik. So blieben Live-Auftritte oft die einzige Möglichkeit, Popmusik in einer der heimischen Sprachen wie Damara Nama, Oshivambo oder Otijiherero zu hören. Gestohlene Momente eben. Momente der Selbstbehauptung.

  „Einmal“, erinnert sich Doeseb an einen Gig in den frühen Achtzigerjahren, „spielten wir für eine offizielle Versammlung der SWAPO im Norden Namibias. Auf dem Rückweg hielten uns Sicherheitskräfte des Regimes an. Sie schlugen uns nicht nur mit ihren Gummiknüppeln zusammen, sondern zerstörten auch alle unsere Instrumente.“ Überall gab es damals Straßensperren. Die Autos wurden nach geschmuggelten Waffen durchsucht. Und schwarze Musiker standen natürlich unter Generalverdacht.

  Wenn sie Glück hatten, sagt Doeseb, waren die Polizisten Fans der Ugly Creatures: „Dann mussten wir lediglich unsere Songs auf dem Revier spielen, bevor sie uns wieder laufen ließen.“

  Schütte, Doeseb und Moongo reisten durch ganz Namibia, um solche Zeitzeugen-Geschichten aufzuzeichnen. Und um die einstigen Dancehalls zu fotografieren. Die Ausstellung zeigt, was von ihnen geblieben ist: Tankstellen, Shebeens, Kirchen und Ruinen.

  Per Zeitungsartikel, Facebook und Internet wandte das Recherche-Team sich an die Öffentlichkeit. Sie wollten erfahren, wer noch wisse, welche Namen, Kleider, Orte zu einem Foto oder einem Musikstück gehörten? Nun lebt die Ausstellung von einer kollektiven Erinnerungsleistung, die die Besucher über je ein kleines Radiogerät auf vier Kurzwellensendern abrufen können. An den Wänden sieht man dazu ein Mashup aus Lokalzeitungs-Meldungen über Politik, Werbung und Trivia. Besser kann man Pop-Geschichte nicht präsentieren. Und wer hätte gedacht, dass einige der lokalen Stars, Jahrzehnte nach ihrer Karriere, endlich auf Platte gepresst werden würden? Das renommierte deutsche Reissue-Label Bear Records wird die Archivfunde von „Stolen Moments“ in einer ganzen Serie herausgeben. „Es ist großartig, wenn die Menschen wieder zu dieser Musik tanzen können“, sagt Moongo, „ein Land, das seine Vergangenheit nicht kennt, kann als Nation nicht wachsen“.

Stolen Moments. Iwalewahaus, Bayreuth. Bis 30. April 2017.

JONATHAN FISCHER

SZ 19.12.2016

In meinem Bett beginnt mein Exil: Der kongolesische Schriftsteller Fiston Mwanza Mujila über Modefetischisten, die sich Sapeurs nennen, Jazz als Musik der Besserverdienenden und darüber, was die afrikanische Literatur von Ernst Jandl lernen kann

Der 35-jährige Schriftsteller Fiston Mwanza Mujila stammt aus der Minenstadt Lubumbashi im Ost-Kongo, lebt und arbeitet aber seit sieben Jahren als Dozent für afrikanische Literatur in Graz. Gerade ist sein preisgekrönter Debut-Roman „Tram 83“ (Zsolnay) auf deutsch erschienen. Nächstes Jahr soll sein neues Drama über die Wirren der Globalisierung – „In der Zeit des Goldrausches“ – auch hierzulande auf die Bühnen kommen.

Ihr Schriftsteller-Kollege Muepu Muamba hat einmal gesagt: „Nicht die Politiker definieren uns, die Poesie erfindet die Welt“. Funktioniert Literatur in Afrika heute noch als Gegen-Code der politisch Ohnmächtigen?

Mujila: Die junge Generation kongolesischer Schriftsteller hat aus dem Leben ihrer Vorgänger wie Muamba ihre Lehren gezogen: Wir können nicht ewig kämpfen. Wir können nicht ewig auf eine Veränderung im Politischen warten. Viele kongolesische Schriftsteller saßen im Gefängnis und als sie entlassen wurden, hatten sie Folter und Haftbedingungen seelisch gebrochen. Sie konnten nicht mehr schreiben. Wir Jungen müssen also subtilere Formen finden, eine Wahrheit auszudrücken.

Viele Ihrer Kollegen leben im erzwungenen Exil. Sie dagegen sagen, Sie könnten ohne regelmäßige Besuche in ihrer Heimatstadt Lubumbashi weder leben noch schreiben…

Mujila: hh03Ich brauche die Rückbindung an mein Land, mein Bauchnabel ist dort begraben. Ich möchte nicht all die Taufen, Hochzeiten und Begräbnisse verpassen, die meine Familie dort feiert. Der Kongo liefert mir die Rohstoffe für meine literarische Arbeit…

Haben Sie denn beim Schreiben Ihrer Bücher und Gedichte kongolesische Leser im Sinn?

Nicht nur, denn die Korruption und Gewalt, die die Kongolesen täglich erfahren, kennen auch Leser in vielen südamerikanischen Ländern, in Osteuropa oder in der Türkei. Eine meiner Kolleginnen während meines einjährigen Stipendiats im Heinrich-Böll-Haus in Langenbroich war die türkische Autorin Asli Erdogan. Jetzt sitzt sie im Gefängnis. Sie hat versucht, gegen ein Monster, gegen die Regierung anzutreten – diese Art von Schreiben kann uns sehr gefährlich werden. Wir sollten als Schriftsteller lieber in Utopien und Träume investieren.

Der Kongo gehörte in den 60er Jahren zu den bestalphabetisierten Ländern Afrikas, Dutzende von Zeitschriften in lokalen Sprachen kündeten von einer blühenden Literaturszene. Was ist nach einem halben Jahrhundert der Zerstörung davon geblieben? Billigen Sie Büchern in Afrika noch die Kraft zu, Menschen zu befreien?

Wo die einzige Sprache der Regierung die Gewalt ist, sie ihre Literaten einsperrt und foltert, kämpfen wir mit ungleichen Mitteln. Ich habe viele deutsche Schriftsteller der Nachkriegszeit wie Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann, Siefried Lenz und Günter Grass gelesen. Für mich als Kongolese ist diese Literatur sehr wichtig. Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen dem Nachkriegsdeutschland und dem vom Bürgerkrieg verwüsteten Kongo von heute. In beiden Ländern ist alles kaputt. Daraus erwächst ein gemeinsames Anliegen: Der Gewalt die Poesie entgegenzusetzen.

Sie arbeiten allerdings anders als Ihre deutschen Vorbilder vor allem mit Ironie, Satire und einem Feuerwerk an Assoziationen….

Da sehe ich mich in der Tradition von Ernst Jandl. Wir spielen mit den Worten und ihren Bedeutungen – und schaffen dadurch eine andere Ebene. Gegen die Gewalt muss man wieder Kind werden. Kinder schauen die Gewalt mit anderen Augen an, sie können nicht alles verstehen. Aber sie können vieles lustvoll im Spiel verarbeiten.

Kongolesen scheinen ja Meister in diesem Spiel. So taucht etwa in einem Video der kongolesischen Popband Mbongwana Star ein Künstler aus Kinshasa auf, der Tag für Tag in seinem selbstgebastelten Astronauten-Kostüm durch die Stadt kreuzt…

Ja so etwas ist sehr kongolesisch. Wir Kongolesen bemühen uns, eine neue satirische Sprache, eine neue Kunst, ein neues Theater zu erfinden – um dem Theater der Grausamkeiten etwas eigenes entgegen zu setzen. Und zu lachen. Ist es nicht absurd, mit welchen Argumenten etwa unserer Präsident entgegen der Verfassung eine dritte Amtszeit regiert? Er behauptet einfach, es gäbe kein Geld, um Wahlen zu organisieren! Im Kongo zu leben – das fühlt sich an, wie in einer Fiktion zu leben. Oder eben auf dem Mond.

Von diesem Gefühl berichtete der belgisch-kongolesiche Rapper Baloji nach einer Reise in den Ost-Kongo: Er konnte es kaum fassen, dass die Popmusik dort – allen Genoziden und Massenvergewaltigungen zum Trotz – nur die Freuden der Liebe feierte.

Mich wundert das nicht. Die Menschen versuchen, die Gewalt und das Chaos zu domestizieren. Ein typisch kongolesischer Mechaniker etwa hat seine Arbeit in der Straße gelernt und kann alles reparieren: Einen Schrank, ein Fenster, oder auch ein Auto. Einfach alles. Ich benutze die Sprache wie ein kongolesischer Mechaniker. Mit Wörtern und Sätzen lässt sich alles reparieren

Liest man „Tram 83“ aus europäischer Perspektive, kann das in Bezug auf Afrika allerdings nur pessimistisch stimmen: Alle Akteure sind korrupt und moralisch desavouiert.

Der kongolesische Popstar Papa Wemba hat einmal gesagt: „Alles ist eine Frage der Perspektive. Eine Sechs kann auch eine Neun sein“. Nehmen Sie zum Beispiel die Korruption: Ist sie wirklich unmoralisch, wenn 80 Prozent der Bevölkerung wie im Kongo im informellen Sektor arbeiten, und sogenannte Schmiergelder der einzige Weg sind, um die eigene Familie zu ernähren, das Studium seiner Kinder zu finanzieren? Unbestechlich zu sein, das gilt im Kongo als dumm. Dagegen beweisen die Kongolesen eine unglaubliche Intelligenz im praktischen Überleben. Meine Figuren sind keine Opfer. Sie bewahren sich aller Not zum Trotz ihre Würde. Wir sollten also öfter mal die Perspektive wechseln.

Sie bringen in Ihrem Roman immer wieder den Jazz ins Spiel, etwa wenn sich ein Musiker im dionysischen Dschungel eines afrikanischen Nachtclubs an einer John Coltrane Komposition abmüht. Was bedeutet Ihnen diese Musik?

In den Minenstädten wird seit langem eine Art Blues gespielt – und der Jazz kommt vom Blues. Ursprünglich hatte der Jazz also auch in Afrika einmal eine Befreiungs-Botschaft. Heute allerdings hat sich das verkehrt: Der Jazz ist zum Standesmerkmal der Bourgeoisie geworden. Alle Afrikaner tanzen und amüsieren sich zum Rumba. Nur noch Besserverdiener hören Jazz. Ich habe Freunde, die mögen keinen Jazz, aber gehen dennoch zum Jazzkonzert, um dort andere Intellektuelle und Menschen aus Europa zu treffen.

Das heißt, Sie machen sich über den Jazz genauso lustig wie über die Weltfremdheit der afrikanischen Intellektuellen…

Um den Kongo zu verstehen, reicht Intellektualität eben nicht. Man kann Ökonomie studiert haben und doch nicht begreifen, wie die Menschen ihr tägliches Brot verdienen. Man braucht in manchen Ländern eher Bäcker und Mechaniker als Intellektuelle

Plädieren Sie als Intellektueller für die Abschaffung ihrer eigenen Klasse?

Nein so weit gehe ich nicht. Aber wir brauchen in Afrika neue Intellektuelle, die gesellschaftlich Verantwortung übernehmen. Ich halte in Österreich Literatur-Workshops im Gefängnis, im Kongo habe ich unter anderem mit Kindersoldaten gearbeitet. Mir ist es wichtig, mich in meiner unmittelbaren Nachbarschaft zu engagieren.

Wie können Schriftsteller Chronisten ihres Landes und seiner dunklen Geschichte sein, wenn wie im Kongo jede Regierung predigt, man müsse die Vergangenheit endlich vergessen und das Land neu aufbauen?

Der Kongo leidet an dieser Kultur der Amnesie. Aber wir brauchen einen geschützten Ort um uns zu erinnern. Deswegen sage ich: Die Sprache ist mein Bett, und in meinem Bett kann ich machen was ich will. In meinem Bett beginnt mein Exil. Das ist unser Lebensgefühl im Kongo. Und es lässt viel Platz für Abenteuer

Machen Sie sich da nicht zum Fürsprecher eines politischen Eskapismus?

Was heißt schon Eskapismus? Wenn mein Land kaputt ist, kann mein Körper das Land ersetzen. Deswegen schließen sich viele junge Kongolesen den Sapeurs an, das sind Menschen, die unglaublich viel Aufwand für ihre Kleidung treiben und einen exklusiven Stil zelebrieren. Sie mögen hungern, arbeitslos und politisch ohnmächtig sein – aber sie leisten sich diesen einen teuren Anzug. Das beweist, dass sie ihre Würde nicht durch die äußeren Umstände definieren lassen. Auch in meinem Buch ist etwas davon zu spüren. Ich setze als erste Figur den Rhythmus und die Schönheit der Sprache.

Sie behaupten, dass der Kongo trotz der korrupten, gewalttätigen Umstände gerade eine kulturelle Renaissance erlebt?

Ja, ich erlebe im Kongo eine große Euphorie des Kulturschaffens. Viele der Künstler haben kein Material – und erschaffen dennoch große Kunst. Neben den sichtbaren gibt es im Kongo eben auch viele unsichtbare Sapeurs-Vereinigungen: All die Träumer, die Filmemacher, Künstler, Musiker und Schriftsteller gehören dazu.

JONATHAN FISCHER

in gekürzter Form erschienen in der SZ 5.12.2016

Wieder auf Droge – Der Blues war ihr erster und bester Rausch: Mit ihrem neuen Album kehren die Rolling Stones zurück zur schwarzen Musik. Gerade noch rechtzeitig!

Frustration. Wut. Und der Wille, trotzdem nicht aufzustecken. Kaum ein Song der Rolling Stones bringt dieses Gebräu so sexy auf den Punkt wie You Can’t Always Get What You Want. Du kannst nicht immer kriegen, was du willst. Als Donald Trumps Anhänger auf Wahlpartys aber zu dieser Gegenkulturhymne ihre Rassisten-Plakate schwenkten, ging das den Stones entschieden zu weit. Verkörpern die Trumpisten nicht alle Rassen- und Klassenprivilegien, die verlogene Welt, gegen die man vor einem halben Jahrhundert angetreten war? Jubelten da nicht die gleichen Spießer, die einst die Stones verachtet hatten und zusammen mit der Los Angeles Times die rassische Gefahr beschworen, die von diesen »Schimpansen«, ja so stand das damals in der Zeitung, und »Höhlenmenschen« ausging?

Die Band verbot Trump, ihre Songs zu spielen. Und sie erinnerte an einen Vorfall im Jahr 1989, als einer ihrer Auftritte in Atlantic City von Trump Plaza Hotel and Casino gesponsert wurde. Die Stones untersagten Trump damals vertraglich, das Konzert zu besuchen. Der setzte sich darüber hinweg und ging erst wieder, als Keith Richards zornig ein Messer in den Tisch rammte. Brutal und unmissverständlich. Eine Geste wie aus einem ganz, ganz schmutzigen Blues-Song.

Es passt also, wenn die Stones jetzt dahin zurückkehren, wo sie einst herkamen. Zur Widerstandsmusik. Zur Überlebensmusik. Zum Blues. Blue & Lonesome heißt ihr neues Album, kein einziger Song ist darauf, den sie selbst geschrieben haben. Stattdessen: zwölf Coverversionen. Zwölf Blues-Klassiker, der Großteil aus den Fünfzigern oder aus noch früheren Jahrzehnten, aus einer Zeit, als weiße Rockmusik noch gar nicht erfunden war. Eine Wallfahrt zur rohen Kraft der Ahnen. Zu den schwarzen juke joints, den Kneipen, die nach Feierabend billigen Fusel und wilden Tanz versprachen. Zu dem Stoff, der Jagger und Richards angefixt hatte, als die beiden sich 1961 auf dem Bahnsteig in Dartford thüber den Weg liefen, unter dem Arm Alben von Chuck Berry und Muddy Waters – jener Rock-’n’-Roll-Pioniere, die den akustischen Delta Blues für die Großstädte des amerikanischen Nordens auffrisiert hatten, mit brüllend lauten Gitarren, mit Rhythmen, die nach der Wucht eines Güterzuges klangen. Jagger und Richards schwärmten von einer anderen, einer seelisch und sexuell aufregenderen Welt. In der Blues-Obsession fand eine ganze Generation ihre Droge gegen die moralische Rigidität des weißen Nachkriegsbritanniens.

Als die Stones 1964 selbst nach Chicago reisten, um in den berüchtigten Chess Studios Songs aufzunehmen, waren ihre Helden vor Ort. Die Blues-Männer, erinnerte sich Keith Richards später, hätten aber schnell gemerkt, »dass wir einen feuchten Dreck von dieser Musik verstanden«. Trotzdem waren er und seine Bandkollegen als Tantiemen-Spender hochwillkommen. Die weißen Kunststudenten und Mittelschichtssöhne aus der Londoner Vorstadt lernten mit manischem Eifer die Riffs von Blues-Sängern, die Little, Magic oder Slim hießen. Sie warfen all ihre Autorität in die Waagschale, um schwarze Musik in die Zukunft zu überführen.

So war das damals. Und heute? Heute müssen die Stones sich selbst helfen. Inzwischen wurden sie zu Hintergrundmusik für Baumärkte und Pilskneipen domestiziert, und die legendäre Stones-Zunge klebt statt auf Gitarren auf Amtsstuben-Heftern. Es bleiben nur die alten Blues-Favoriten als letzter Ausweg. Zumal die Band seit dem Album Steel Wheels nichts wirklich Neues mehr geliefert hat, und das war 1989. Andere Rocker ihrer Generation mögen sich im Alter auf Country, Folk oder den braven Pop der Jahrhundertmitte besinnen, die Stones aber tanken noch einmal dreckigen Blues-Diesel . Für Jagger und Richards war es ihr erster und bester Rausch. Aber ob die Molotowcocktails von einst noch zünden?

Und wie. Die Songs auf Blue & Lonesome rocken – und zwar aus der tiefsten Magengegend heraus. Intellektueller Blues-Diskurs kann ja ziemlich langweilen. Aber hier nicht, hier geht es um nicht weniger als die »Lizenz dafür, in der Gegenwart zu leben«, wie der Autor John Leland das mal genannt hat. Kein Zufall, dass ganze vier der zwölf Songs einem Mann gewidmet sind, der gestorben ist, als er nicht einmal 40 Jahre alt war, gestorben an einem Leben aus Alkohol und Gewalt: Little Walter, Sänger und Held der Blues-Mundharmonika. Keith Richards arbeitete sich zeitlebens an seiner Dynamik und seinen raffiniert verwobenen Arrangements ab. Die erste Single-Auskopplung Just Your Fool, ein schmutziger, mahlender Boogie mit Honky-Tonk-Piano, Harmonika und Jaggers Marken-Gerotze, bleibt dicht an Little Walters Urversion. Wie überhaupt die meisten der Songs kaum etwas verbessern wollen. In Howlin’ Wolfs Commit A Crime lässt sich so etwas wie das Urmeter aller Stones-Musik erkennen: Düsternis, Getriebenheit, latente Gewalt. Intensiver hat man Jagger und Richards lange nicht gehört. Das gilt auch für Little Walters Blue and Lonesome: Jagger fleht mehr als zu bellen, lässt die Mundharmonika ganz wie Little Walter davondriften, um mit wilden Stakkato-Noten wieder nach vorn zu springen, während Richards’ Gitarre in zärtlicher Verzweiflung dahinstolpert.

Und das alles im alten Sound des Chess-Studios: wenig Technik, aber Dreck unter den Fingernägeln. Der Studio-Gründer Leonard Chess und sein schwarzer Arrangeur Willie Dixon hatten damals ihre Liebesbeziehung zu verzerrten und verhallten Sounds gepflegt. Das Publikum dürstete nach neuen Rhythmen, neuen Effekten – und oft war ein Fehler das Beste, was passieren konnte. Nur sehr vorsichtig glätten die Stones in ihren Neuaufnahmen hier mal einen Bruch, lassen sie da mal die Muskeln spielen, wo die technischen Möglichkeiten einst bremsten. Ob Otis Rushs aufgestacheltes Can t Quit You mit Eric Clapton an der Gitarre, Lightnin’ Slims spartanischer Hoodoo Blues oder die dampfend-lasziven Drones von Jimmy Reeds Little Rain: Die Stones spielen die Songs auf merkwürdige Weise »richtiger« als die ursprünglichen Interpreten. Gegen ihre fetten Bässe und Beats wirken manche der Originale fast wie Demos: Da bleibt kein Platz mehr für unscharfes Gewaber, es verschwindet das dissonante Piano und die dramatisch kieksende Gitarre aus Commit A Crime, und Fred Belows Jazz-Drumming auf den Little-Walter-Stücken wird ein paar Pfund Blei umgehängt.

Egal. Rumpeln tut es trotzdem großartig. »Wir haben keine Zeit mit Üben vergeudet«, erklärte Ron Wood nach den Jam-Sessions mit Langzeitproduzent Don Was. »Wir suchten einfach ein Gitarrenriff oder einen Song, der zu Micks Mundharmonika passt, und der Rest ergab sich von selbst.« Zwölf Songs in drei Tagen – das klingt nach den Urzeiten des Rhythm ’n’ Blues, als jedes Stück auf Anhieb sitzen musste. So weit, so lässig.

Andererseits, und da sind wir dann wieder bei Trump und den Unzufriedenen, die You Can’t Always Get What You Want singen, wissen die Stones natürlich, dass sie vermintes Territorium betreten. Gerade hat, rechtzeitig zum neuen Album, der renommierte amerikanische Rockjournalist Jack Hamilton eine überfällige Debatte angestoßen: Wie konnte der schwarze Rock ’n’ Roll von Howlin’ Wolf, Chuck Berry oder Muddy Waters zum Rock weißgewaschen werden, zu einer Musik, an der sich selbst Rassisten das Herz wärmen? Welche hegemonialen Erzählungen stecken dahinter? »Das Problem war«, schreibt Hamilton in seinem Buch Just Around Midnight , »dass dieselbe Musik, die die Stones immer noch als etwas Gegenwärtiges erleben, von ihren Fans nur noch als ein längst vergangener, musikalischer Monolith gehört wurde.«

Stehlen Weiße die schwarze Kultur Amerikas? Wenn die Stones Songs von Little Walter spielen, erweisen sie dann den Vorbildern die Ehre, die ihnen gebührt? Oder beuten sie den schwarzen Blues aus, einmal mehr, so wie er immer ausgebeutet wurde? Unbestritten ist, dass eine auf den Mainstream geeichte Musikindustrie weiße Rockbands bevorzugt hat und wohl noch immer begünstigt. Schwarze Rock ’n’ Roller bekamen nie die Werbung, die Spielzeit im Radio und die Fernsehauftritte ihrer weißen Zeitgenossen zugeschanzt. Und doch bleibt die Grenze zwischen Weiß und Schwarz fiktiv. Denn amerikanischer Pop war und ist grundsätzlich hybrid. Musiker beleihen sich seit je gegenseitig über alle Genres hinweg – von den schwarzen Wurzeln des Country, den Hillbilly-Einflüssen auf den Rock ’n’ Roll bis zu den Kraftwerk-Samples im Hip-Hop. Niemand verkörpert das besser als die Stones: Ihre Riffs und Posen klaubten sie aus dem Blues, Mick Jaggers Bühnenshow wurzelt – wie alle weiße Rocktheatralik – in der von Little Richard exemplifizierten Subkultur schwarzer schwuler Südstaatler. Einerseits. Andererseits wird man in den Südstaaten immer wieder schwarzen Blues-Bands begegnen, die Phil Collins oder Eminem zitieren. Oder eben auch die Stones. Und waren es nicht erst die scheppernd-verzerrten Hits der Briten, die die Soundingenieure bei Chess davon überzeugt hatten, ihre Blues-Gitarristen selbst an die Lautstärkeregler zu lassen?

»Schwarze Kultur«, sagt der afrobritische Soziologe Paul Gilroy, »entsteht eher aus semiotischem Spiel denn aus einer fixierten Ethnizität. Sie hat die Kapazität, verschiedene Stimmen, Stile und Motive aus allen möglichen Quellen zu einem beständigen Flow zu collagieren.« Gilroy vergleicht schwarze Kultur mit einem Open-Source-Computerprogramm. »Jeder kann daran mitschreiben.« So haben sich letztlich auch die Rolling Stones eine Kulturtechnik angeeignet, die – von Jazz bis Hip-Hop – durch geschicktes Klauen und Rearrangieren stets im Fluss bleibt. Keith Richards, der seine erste Gitarre mit »Boy Blue« beschriftete und sich als junger Mann Sorgen machte, ob er Blues-Mann genug sei, um Songtexte vom »Zitronensaft, der dir den Schenkel runterläuft« nicht nur zu singen, sondern auch zu leben, kam irgendwann von selbst auf den Trichter: »Der Blues ist nicht notwendigerweise schwarz. Sondern eine Haltung.« Wer ihn lebt, akzeptiert das Unpolierte, Ungekämmte. Umarmt das Chaos. Und schert sich um kein Reinheitsgebot.

Letztlich erzählen die Stones auf Blue & Lonesome noch einmal den eigenen Gründungsmythos: die Geschichte vom düsteren, gewaltbesoffenen, moralisch anrüchigen schwarzen Rock ’n’ Roll, der seine Lautstärke und Vitalität nicht den Bedürfnissen des Radios opferte. Woraufhin sich ein paar manische junge Briten die Drogenexzesse, Gewaltfantasien und Teufels-Flirts der Blues-Geschichte aneignen konnten und sie zu apokalyptischen Welthits wie Sympathy For The Devil , Brown Sugar oder Gimme Shelter aufrüsteten. Nur: Am Ende geriet auch das in Vergessenheit. Die musikalische Gewalt der Stones, schreibt Hamilton, sei irgendwann geronnen zu einem bloßen weiteren Marker weißer männlicher Hegemonie. Und damit habe sie jeden politischen Zweck verloren.

Die Botschaft, die im Blues steckt, dieser uralten Musik, die vom Triumph über Sklaverei und Segregation kündigt, ist heute aktueller denn je. Wenn ein Teil der amerikanischen Gesellschaft gerade die Uhren zurück in die fünfziger Jahre dreht, wenn ein kalter Wind weht, der die Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung hinwegfegen will, dann braucht es Alben wie Blue & Lonesome . Nicht weil die Musik etwas Neues sagt. Sondern weil die Stones das Geschichtsbuch zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle aufschlagen.

JONATHAN FISCHER

Die Zeit 24.11.2016