Als hätte der Musiker genau gewusst, was da auf sein Land zukommt: Childish Gambinos neues Album passt nur zu gut zur gegenwärtigen Paranoia Amerikas, zur Frustration über Rassismus und zur rückwärtsgewandten Politik des neugewählten Präsidenten. Dabei ist sie inspiriert von einer Musik, die in ihrer Blütezeit, den frühen 1970er Jahren, die Hoffnungslosigkeit der brennenden Ghettos Amerikas einfing. «There’s A Riot Going On», hiess die Botschaft damals. Und wo Sly Stones Meisterwerk aufhörte, da macht Childish Gambino nun mit «Awaken, My Love!» weiter.
Childish Gambino? Das ist das musikalische Alter Ego des afroamerikanischen Schauspielers, Autors und Stand-up-Comedians Donald Glover. Gerade erst hat ihn die Kritik für die selbstproduzierte Serie «Atlanta» bejubelt, in der er in der Rolle eines vom Leben gebeutelten Hip-Hop-Managers die Existenz- und Überlebensängste junger Afroamerikaner schonungslos-makaber zur Schau stellt.
Nebenbei nahm der 33-jährige Schauspieler als Childish Gambino bereits zwei Hip-Hop-Alben auf: 2011 das Debüt «Camp» und als Nachfolger das für einen Grammy nominierte «Because The Internet» – beides Versuche, die Stereotype des afroamerikanischen Hip-Hop aufzubrechen.
Nun aber lässt Glover den Hip-Hop links liegen. Und rekurriert auf eine Musik, deren Blütezeit er selbst nicht erlebt hat: den Funk. Genauer gesagt, die psychedelische Spielart von Funk, in der paranoide Weltflucht, kosmisches Bewusstsein und politische Revolution zueinanderfinden. «Awaken, My Love!», so viel kann man vorwegnehmen, erinnert in seinen besten Momenten an ein gerade wiederentdecktes Studio-Juwel aus den 1970er Jahren.
Das fängt schon mit dem Cover an: Childish Gambinos Maskengesicht zitiert offensichtlich das ikonische Funkadelic-Album «Maggot Brain». Auch Beat-Box-Rhythmen, ausgewaschene Gitarren und tripartige Chorgesänge bescheren Funk-Liebhabern zahlreiche Déjà-vu-Erlebnisse. Was an sich kein Problem ist: Ein wenig Ahnenverehrung, zumal von einem klugen Hip-Hop-Ager wie Glover, gehört zu den Zutaten jedes grossen Wurfs in der schwarzen Musik: Man denke an Kendrick Lamars Jazz-Zitate oder an Anderson Paaks Siebziger-Jahre-Soul.
«Awaken, My Love!» allerdings weckt manchmal den Verdacht eines theatralischen Reenactments. Für solche Irritationen sorgt Glover selbst: Im September hat er einen dreitägigen Camping- und Konzert-Event im kalifornischen Joshua Tree organisiert, um die neue Funk-Identität von Childish Gambino mit Smartphone-Verbot, psychedelischen Videos und einer wilden Kostüm-Show im Siebziger-Jahre-Ambiente zu suggerieren. Und in einem «Billboard»-Interview schwadronierte er über «Schwingungen für die menschliche Zukunft» und – nun ja – über den «Beginn einer globalen Revolution».
Man sollte Glover alias Childish Gambino aber nicht zu sehr an seinen Worten messen – sondern an seiner Musik. Immerhin hat er die elf Songs von «Awaken, My Love!» ausdrücklich als eine «Übung in blossem Fühlen und Klang» bezeichnet. Und das beherrscht Glover. Sein klagendes Falsett und aufgekratztes Stöhnen und Schreien treffen einen Resonanzboden, den seine einstigen Rap-Verse kaum erreichten.
Oder «Redbone», in dem Glover über verschlungenen Gitarren-Sounds und einem Arrangement, das Prince alle Ehre gemacht hätte, seine Landsleute zur Wachsamkeit aufruft. Glover reduziert die Lyrics auf das Nötigste. Alles bleibt angedeutet, untermalt von Wah-Wah-Gitarren, Glockenspielen und Gesängen, die mehr erzählen, als es reine Texte jemals könnten.
Das moralische Rückgrat
Zugegeben, Glovers «Awaken, My Love!» teilt bisweilen das Problem vieler Vergangenheitsbeschwörungen: Es lässt die Gegenwart vermissen, die er mit seiner Rap-Persona oder als Schauspieler in «Atlanta» verkörpert. Ein paar nostalgische Schnörkel weniger wären hier mehr gewesen. Und doch gelingt es Glover immer wieder, über den Pastiche hinauszuwachsen, persönlich zu werden: etwa in „Baby Boy“, das er als Vater leidenschaftlich an seinen Sohn adressiert: Es geht um Familienwerte, Tradition, Rückbesinnung auf geschichtliche Stärken.
Sie sind von «Stand Tall» bis „Me And Your Mama“ das moralische Rückgrat dieser Platte. Und wenn man Childish Gambino fast ein halbes Jahrhundert nach Sly Stone mit ängstlicher Stimme von einer Welt klagen hört, der «die Kapitäne fehlen», passt auf einmal alles punktgenau: Dieser Funk trifft atmosphärisch ins Schwarze.
JONATHAN FISCHER
NZZ, 28.12.2016