Als letzten Sommer Lagerhallen brannten und für einen Moment die Spaltung der britischen Gesellschaft in haves und have nots auf hässliche Weise sichtbar wurde, lieferte Speech Debelle den Song der Stunde: Blaze Up A Fire. Der Aufruf der 28-jährigen Rapperin, das eigene Leiden sichtbar zu machen, statt weiter auf Almosen zu warten, schien den Sprachlosen eine Sprache zu geben, den Soundtrack zum Aufstand zu liefern. Dabei war der Song schon Monate vorher geschrieben worden.
Die kalte Wut, die da unter der mädchenhaften Stimme hervorblitzte, gehörte ihr selbst. Es ging um die Demütigungen, die Corynne Elliott, wie Speech Debelle mit bürgerlichem Namen heißt, einst als junge Obdachlose erlebt hatte, aber auch das Elend, das ihr tagtäglich in den verwahrlosten Einwanderervierteln Südlondons begegnet. Man hat sie naiv genannt, der Gewaltverherrlichung bezichtigt, aber jeder, der ihr zuhört, versteht sofort, dass sie nur getan hat, was im Pop jeder tut: sich als unberufenes Subjekt zu Wort zu melden. Wenn auch in ihrem Fall vielleicht mit einer größeren Dringlichkeit.
Speech Debelle, die als 16-Jährige damit begann, Gedichte über ihr zerrüttetes Zuhause zu schreiben, ist längst über das schüchterne Mädchen ihres 2009er Debüt-Albums Speech Therapy hinausgewachsen. Damals erzählte die Tochter einer Engländerin und eines Jamaikaners mit unschuldig-gebrochener Stimme von Hungergefühlen und leeren Zigarettenpäckchen: die vertonte Odyssee eines von daheim ausgebüxten Teenagers. Dass die Außenseiterin damit auf Anhieb den Mercury Prize, Großbritanniens wichtigsten Musikpreis, gewann, war eine Sensation – verkauft aber hat sich ihr Album kaum.
Drei Jahre später ist sie scharfzüngiger geworden. Und weitsichtiger. Ihr neues Album Freedom Of Speech – das auch Blaze Up A Fire enthält – kommt wie eine Sympathieerklärung für die marginalisierte Großstadtjugend daher. In heftigen Wortkaskaden beschreibt sie das zweigeteiltes Großbritannien aus der Perspektive von unten, verflucht rassistische Polizisten und das Schulsystem. Doch so cool das daherkommt: Songs über Verrat oder auch das Eingeständnis einer enttäuschten Liebe gewähren Einblick in ihre privatesten Empfindungen. Der Eröffnungssong Studio Backpack Rap, eine klassische Hip-Hop-Nummer, in der sie die Party im Hier und Jetzt feiert, bleibt die Ausnahme, auch musikalisch. Sehr effektvoll kontrastiert Produzent Kwes auf den nachfolgenden Titeln Debelles helle Stimme mit schroffen Elektro-Beats und dunkel-glitzernden Synthesizern, es gelingt ihm, mit minimalen Mitteln eine Schattenwelt zu erschaffen.
Freedom Of Speech wirkt bisweilen so düster wie die Fluchten der Sozialwohnungskasernen von Südlondon – und ist doch nicht ohne Hoffnung. Am deutlichsten ist das in Songs wie Live For The Message zu hören: Bluesige Gitarrenläufe verhallen, der Bass schleicht wie ein Raubtier dahin, während Speech Debelle mit trotziger Stimme die Fackel der Sozialkritik von Nina Simone aufnimmt. In dem Moment ist sie dann doch eine, die ein Feuer anzündet, damit das Leiden aller gesehen wird.
JONATHAN FISCHER
Die Zeit 16.2.2012