BOOMT: ETHIOJAZZ

Stars wie Kanye West und Nas, aber auch europäische Hip-Hop-Größen wie Freundeskreis und Blumentopf haben Jazz aus Äthiopien schon seit den 90ern mit Samples ins Unterbewusstsein der Massen gepflanzt. Zeit, sich in Addis Abeba mal umzuhören, warum diese Musik nun gerade wieder so einen Lauf hat.

  Henock Temesgen ist eine gute erste Adresse. Der Mann ist 62 Jahre alt, Bassist und leitet als Musikprofessor die Jazz-Fakultät der Universität von Addis. Eine kurze Erklärung hat er nicht, aber er kann einen zumindest auf eine Spur bringen. „Äthiopische Musik hat ein paar Gemeinsamkeiten mit dem modernen Jazz“, sagt er. „Ihre pentatonischen Skalen, die Akkordschichtung im vierten Intervall findet man auch bei John Coltrane und anderen Jazzern. Wir sind wie Verwandte von einem anderen Stern.“

  Temesgen stand schon mit amerikanischen A-Liga-Musikern wie David Sanchez und Wayne Shorter auf der Bühne und spielte mit äthiopischen Legenden wie Mahmoud Ahmed und Aster Aweke. Egal, welchen Club in Addis Abeba man besucht, irgendwann taucht er immer mit seiner Häkelmütze über der Glatze, der schwarzen Hornbrille und dem sanften amerikanischen Akzent auf. Entweder den Bass umgehängt auf der Bühne, oder um seinen Studenten zuzuhören. Der Ethiojazz explodiere gerade, sagt er dann. Er kenne in Europa und den USA vier Dutzend Bands, die sich dem Sound verschreiben. Platten werden auf CDs gepresst. In Addis selbst boomt die Live-Szene. In Clubs und Hotels, aber vor allem im Fendika, einem Kulturzentrum, in dem Temesgen jeden Montag mit seinem Quintett Kaynlab auftritt.

  Hier im Kazanchis-Viertel ist noch ein wenig vom Geist des alten Addis zu spüren. Ziegel- und Wellblechbaracken säumen Straßen voller Schlaglöcher. Kioske verkaufen Kaugummi, Kaffee, koptische Kreuze. Wie ein großes Beduinenzelt wirkt das Fendika von außen, über einem Metalltor der Name in Leuchtschrift. Eine freundliche junge Frau in traditionellem Kostüm begrüßt die Gäste. Es riecht nach Weihrauch und äthiopischem Kaffee. Es ist noch Zeit bis zum Auftritt. Während die Band ihre Instrumente stimmt, wärmen sich Besucher an der Feuerschale neben der Bar die Hände, nippen an Honigbier oder schauen sich eine Ausstellung äthiopischer moderner Maler an.

  Betreiber des Zentrums ist Melaku Belay. Wenn der mit seinem Afro-Haarschnitt mit schwarzer Brille und Hoodie an den Plattentellern sitzt, könnte man auch in Brooklyn, im Marais oder in Friedrichshain am Clubben sein. Die Hipster-Boheme ist international. Er ist aber nicht nur ein Club-Besitzer und DJ. Er bringt eine ganze Tradition in die Zukunft. Dafür hat ihm das US-Ideenfestival TED Conference eine Fellowship gegeben und einen dieser TED Talks halten lassen, mit denen man weltweit viel Aufsehen erregen kann.

  Im Fendika lässt er Volksmusiker aus Äthiopien auftreten und fördert Fusionen mit modernem Jazz und Tanz. Letztlich gehe es ihm um den Geist der Azmari Bets. So heißen die traditionellen Musikläden, in denen Bänkelsänger über Eheprobleme und Politereignisse improvisieren. „Wir hatten vor dem Bauboom in Addis 17 Azmari Bets allein in unserem Viertel“, sagt Belay, „jetzt sind wir als Einzige verblieben.“ Auch das Fendika bekam einen Abrissbescheid. Der Staat wollte das Kulturzentrum zwangsräumen, Platz für neue Hochhäuser schaffen. Doch Belay nutzte seinen Ruhm als Tänzer, TED-Redner und Musikfestival-Organisator, mobilisierte seine Freunde im Westen. Am Ende intervenierte der Bürgermeister von Addis persönlich. Das Fendika bleibt.

  „Das gegenwärtige Revival des Ethiojazz“, sagt Belay, „ist für uns alle ein Wunder.“ Kaum jemand habe geglaubt, dass sich junge Musiker wieder für Traditionsinstrumente wie die Krar-Leier oder die Masinko-Laute interessieren würden. „Viele Äthiopier verwechselten modern mit westlich. Die eigenen Traditionen galten lange als rückständig.“ Er zeigt auf die Poster an seiner Bar. Ankündigungen für Gastspiele westlicher Bands im Fendika. Bob Marleys Sohn Julian Marley und Flea von den Red Hot Chili Peppers traten hier schon auf. Ständig kommen sie aus Europa und Amerika, um mit äthiopischen Musikern zu jammen. Erst durch die Wertschätzung des Westens hätten die Äthiopier den Wert ihrer eigenen Traditionen und Kultur erkannt, sagt Belay. Außerdem seien viele Musiker aus dem Exil zurückgekehrt. Vor allem nach 9/11, als es in Amerika plötzlich nicht mehr so viele Jobs gab für Leute aus Afrika. In den 60ern und 70ern war das noch anders. Da schielten sie in Addis nach London und New York. In den Nachtclubs tanzten Jugendliche in Schlaghosen und Miniröcken zu neuartigen Grooves, zahlreiche Bars und Hotels beschäftigten ihre eigenen Bands. Bis zum Militärcoup von 1974. Haile Mariam Mengistu stürzte die Monarchie, ließ den Kaiser Haile Selassie ermorden, und sein kommunistisches Derg-Regime überzog das Land anschließend 14 Jahre lang mit dem sogenannten „roten Terror“.

  „Es wäre lebensgefährlich gewesen zu bleiben“, sagt Henock Temesgen. Mengistu misstraute den freien Formen des Ethiojazz. „Hunderttausende Äthiopier, darunter viele Musiker, wurden ermordet, kamen ins Gefängnis oder mussten fliehen.“ Temesgen ging ins Exil, schloss sich in Washington, D. C., Ethiojazz-Bands an, spielte am Wochenende auf äthiopischen Familienfeiern und Hochzeiten. Nach einem Studium an der Berklee School of Music in Boston verschlug es ihn nach New York, wo sein Landsmann Mulatu Astatke den Ethiojazz in der Diaspora etabliert hatte.

  Astatke war während seines Musikstudiums in London jungen Ghanaern und Nigerianern begegnet, die stolz eigene Traditionen in ihre Kompositionen einbrachten. Warum sollte das nicht auch mit äthiopischem Folk funktionieren? Nach Begegnungen mit John Coltrane, Duke Ellington und anderen afroamerikanischen Jazzmusikern in New York reifte seine Idee, die beiden Welten zusammenzubringen. „New York“, erzählte Astatke einmal im Interview, „war Mitte der 60er-Jahre ein magischer Ort. Ich spielte dort mit Hugh Masekela aus Südafrika und Fela Kuti aus Nigeria. Wir alle hatten ein gemeinsames Anliegen: Afrika in das moderne Konzept von Jazzmusik einzubringen.“

  Jahrelang pendelte Astatke zwischen Addis und New York. Es ist die Musik dieser goldenen Jahre, die Melaku Belay im Fendika beschwört. Vor dem Auftritt der Band steht sein DJ-Set. Melaku Belay hockt zwischen Plattenkisten und DJ-Pult auf der Bühne, legt mit dem Gestus eines Hohepriesters eine Single auf den Plattenteller. Knistern, Knacken. Die ersten Takte eines Stücks von Alèmayèhu Eshèté. Orgel-Groove, Saxofon, schwermütig klagender Gesang. Er lässt seine Schultern kreisen, immer schneller, vor und zurück. Eskista. Die Ekstase. Funktioniert auch im Sitzen.

  „Unsere Musikkultur geht bis ins 6. Jahrhundert zurück“, sagt Temesgen. Er glaubt, dass der Ethiojazz noch durch viele Entwicklungen gehen wird. Allein, dass sich jedes Jahr an seiner Jazzabteilung mehr als 800 Studenten auf nur 60 Plätze bewerben! Wenn Mulatu Astatke einst Duke Ellington als Ehrengast an den Hof des Kaisers brachte, um der äthiopischen Szene neue musikalische Impulse zu geben, so habe sich die Beziehung heute umgedreht: „Westliche Musiker suchen uns auf, damit wir ihren Sound verjüngen. Das ist das Geheimnis der äthiopischen Skalen: Sie altern nicht. Sie klingen immer nach Zukunft.“

JONATHAN FISCHER

In leicht geänderter Form erschienen in der SZ 7.2.24

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