Vor gut zehn Jahren postete der amerikanische Musikologe John Beadle auf seinem Blog ein paar Songs und titelte „Mystery Somali Funk“. Die Musik entstammte einer Kassette, die ihm einst ein somalischer Student in die Hand gedrückt hatte. Verlässliche Angaben zu den Musikern fehlten, aber Samy Ben Redjeb, Betreiber des Frankfurter Plattenlabels Analog Africa, war sofort elektrisiert und machte sich auf die Suche. Keine leichte Aufgabe. Der Ort, den die Musik feierte, existierte nicht mehr. Mogadischu, einst für seine Einkaufsstraßen, seine italienischen Restaurants und sein Nachtleben berühmt, war seit dem Ausbruch des somalischen Bürgerkriegs Anfang der Neunziger zu einer Ruinenstadt geworden, einer Kriegszone, in der sich Ben Redjeb nur mit bewaffneter Eskorte bewegen konnte. Von der Kassette, die lokale Musiker als Werk der legendären Dur Dur Band identifizierten, existierten nur verrauschte Kopien zweiter oder dritter Generation. Ben Redjeb folgte den Netzwerken der Kassetten-Kopierer, vor dem Internet war das die in Afrika übliche Art, Musik zu verbreiten. Dass er am Ende die verloren geglaubten Masterbänder der Aufnahmen fand, ist ein Glücksfall für alle Fans afrikanischer Musik. „Dur Dur Of Somalia Volume 1 &2“ (Analog Africa) macht die phänomenalen Achtziger-Funk-Fusionen aus Somalia erstmals für alle zugänglich, in bester Soundqualität und kommentiert. Die Bläsersätze erinnern an Ethio-Jazz, die mit Wah-Wah-Gitarren aufgemotzten somalischen Folk-Hits an die Sorte Ethno-Funk, die heute von Hipstern in Brooklyn und London gefeiert wird. Mal entführt die Dur Dur Band mit polychromatischen Orgeln, Gitarren-Ostinatos und zackigen Bläser-Riffs ins schwitzende Gedränge eines örtlichen Nachtclubs, dann wieder lässt sie das zarte Melisma von Sahra Abukar Dawo über entspannte, Reggae-ähnliche Daantho-Rhythmen fließen. Im Booklet erzählen die Musiker selbst: Etwa wie der Manager ihres Hotelclubs sie immer wieder mahnte, bei Disco zu bleiben, mit den traditionell zur Geisterbeschwörung genutzten Saar-Rhythmen könnten sie, so seine Befürchtung, Touristen verhexen.
Wie Somalia befindet sich auch Mali in einem scheinbar endlosen Bürgerkrieg, die Mitte und den Norden kontrollieren Drogenhändler und Dschihadisten, doch in der Hauptstadt Bamako experimentieren die Musiker umso entschlossener mit Fusionen traditioneller und westlicher Popmusik. Samba Tourés drittes Album „Wande“ (Glitterbeat) greift da das Naheliegende auf: den Blues. Finden sich dessen Ursprünge, das Rohmaterial, nicht in der pentatonischen Musik im Norden Malis? Taj Mahal, Robert Plant und Corey Harris pilgerten deswegen schon an den Niger. Nun schmiedet Samba Touré, einst Bandmitglied von Ali Farka Touré (mit dem er nicht verwandt ist), das Eisen weiter und rüstet die Klänge der Songhai aus der Gegend von Timbuktu mit John Lee Hooker und Bo Diddley auf. Oder ist es genau umgekehrt? Man kann jedenfalls nicht genug bekommen von diesen zurückgelehnt-rollenden, hypnotischen Riffs. Touré lässt die Tama genannte Talking Drum und kurze Gitarrensoli wie Flammen um seine Rhythmen züngeln. Und dann diese wunderbar aufgekratzte Fidel („Tribute To Zoumana Tereta“). Ganz aktuell wirkt Tourés wütend zärtlicher Gesang, wenn er etwa junge Menschen mahnt, statt auszuwandern, für ein besseres Mali zu kämpfen („Goy Boyro“). Die Wucht dieses Albums liegt auch in seiner Spontaneität: Fast alles wurde im Studio geschrieben und im ersten Take und ohne Overdubs aufgenommen, und wenn die Aufnahmen am Ende doch ganze zwei Wochen dauerten, dann nur deshalb, weil sich die Musiker an den Wochenenden – wie in Mali üblich – auf Hochzeiten ein Zubrot verdienten.
Und noch mal die sprechenden Trommeln Malis: Deren Großmeister Baba Sissoko teilt sich auf seinem neuen Album „Fasiya“ (Blindfaith Records) die Gesangsparts mit seiner Tochter Djana Sissoko. Den subtilen futuristischen Funk aber liefert der Berliner Max Weissenfeldt am Schlagzeug sowie eine eindrucksvolle Begleitband, in der Bläser, Gitarren und traditionelle Instrumente wie die elektrisch verstärkte Ngoni-Laute Loops weben – und in raffinierten Breaks wieder aufbrechen. Uralte Sahel-Melodien reiben sich an Blues- und Jazz-Riffs. Kein Wunder, dass der experimentierfreudige Malier immer wieder von Jazzern wie Omar Sosa oder Art Ensemble of Chicago engagiert wird. Auch Gilles Peterson schwärmt regelmäßig vom „psychedelischen Afro-Raumschiff“ von Captain Sissoko. Ist dem noch etwas hinzuzufügen? Ja, man sollte sich unbedingt durch die letzten sieben Alben des Mannes seit seinem 2015 erschienenen Meisterwerk „Three Gees“ durchhören.
JONATHAN FISCHER
SZ 21.11.2018