Monatsarchiv: Februar 2018

Der Funk-Pate: Saxofon-Legende Maceo Parker über das Geheimnis des Funk, den Zorn seines Lehrer James Brown – und Deutschland

Wenn Funk heute einen Namen hat, dann diesen: Maceo Parker. Der 1943 in Kinston, North Carolina geborene Musiker wollte eigentlich Lehrer werden, bis ihn James Brown 1964 in seine Band holte. Von da an sollte Parkers Saxofonspiel nicht nur die Musik seines Chefs, sondern auch den Pop des nächsten halben Jahrhunderts prägen. Er spielte unter anderem mit George Clintons Parliament, mit Prince und der Hip-Hop-Band De La Soul. Heute gehört der 74-jährige mit seiner Band zu den letzten noch aktiven Paten des Funk. Im Februar erscheint eine üppig ausgestattete Neuauflage seines Albums „Life On Planet Groove“ (Minor Music), das er mit dem Tenorsaxofonisten Pee Wee Ellis und dem Posaunisten Fred Wesley einspielte, mit denen er einst den Bläsersatz für Brown, Clinton und die Gruppe Horny Horns bildete. Außerdem gibt es ein neues Album mit dem Titel „It’s All About Love“ (Leopard), das er zusammen mit der WDR Big Band eingespielt hat.

SZ: Anfang der Neunzigerjahre lancierten Sie mit dem deutschen Label Minor Music ihr Comeback und arbeiten seitdem immer wieder mit deutschen Produzenten und Musikern zusammen. Haben Sie eine besondere Beziehung zu Deutschland?

Maceo Parker: Deutschland fühlte sich für mich immer wie eine zweite Heimat an. Während meines Militärdienstes war ich Mitte der Sechzigerjahre als Teil der Army Band in Bremerhaven stationiert. Ich erinnere mich an meine damalige Lieblingskneipe Chico’s. Wir haben dort nach Feierabend unseren James Brown-Groove auf die Deutschen losgelassen.

Sie sind für Ihr neues Album zum zweiten mal – nach Ihrem Ray Charles Tribute Album aus dem Jahre 2004 – mit der WDR-Bigband ins Studio gegangen. Bemerken Sie einen Unterschied – etwa im Vergleich zum Zusammenspiel mit Ihren afroamerikanischen Kollegen?

Nein, starke Musiker sind starke Musiker. Sie fühlen den Beat. Deshalb sage ich: Schwarze Musik ist nicht an eine Hautfarbe gebunden. Alles andere wäre genauso ein Vorurteil, wie jenes, dass Schwarze besser tanzen können. Ich jedenfalls sehe eine Menge schwarze Typen, die es nicht hinkriegen, sich mit dem Beat zu bewegen.

Haben Sie deshalb mit Ihrer Band eine so genaue Choreografie ausgearbeitet?

Das hat etwas mit dem Respekt vor unserem Publikum zu tun. So wie unsere Anzüge. Ich würde nie in T-Shirt und Jeans auftreten. Genauso wenig würde ich zulassen, dass jemand stocksteif auf der Bühne steht. Das habe ich von James Brown gelernt.

Funktioniert der Sound nur über die Hüftbewegung?

Genau. 98 Prozent Funk, 2 Prozent Jazz. Mit dieser Ansage eröffne ich jedes Konzert – es ist die Erlaubnis, den Körper einzusetzen.

Können Sie uns Funk mal definieren?

Funk ist eine Einstellung. Du hörst auf die synkopierte Seite des Beats. Das fühlt sich um einiges leichtfüßiger und spaßiger an als etwa beim Jazz.

Wann sind Sie das erste Mal mit Funk in Berührung gekommen? Als Sie 1964 in James Browns Band einstiegen und mit ihrem Saxofon Hits wie „Papa Got A Brand New Bag“ und „Cold Sweat“ mitprägten?

Nein, viel früher. Meine Brüder und ich hatten unsere eigene Band, mit der wir alles von Jazz-Standards bis zu Rock’n’Roll spielten. Unser Erweckungserlebnis kam 1958: Da hörten wir Ray Charles mit „What I’d Say“ im Radio. Dieser Rhythmus ließ uns vollkommen ausrasten. Wir tanzten und tobten durchs Haus, warfen Tische und Stühle um. Wir hatten unser Ding gefunden. Davor dachte ich, dass ich mal unter dem Motto „Maceo Parker spielt Charlie Parker“ auftreten würde. Nun begriff ich, dass ich mehr auf der Rhythmusseite stand und keine langatmigen Akkordfolgen spielen wollte.

Steckt im Funk eigentlich auch eine politische Botschaft?

Nein, nicht für mich. Aber natürlich hat er eine eigene Kraft. Ich denke nur an den Abend nach der Ermordung von Martin Luther King, als wir mit James Brown im Fernsehen auftraten, und so womöglich drohende Ausschreitungen verhinderten.

Stevie Wonder kniete kürzlich auf der Bühne nieder, und nahm damit eine Geste amerikanischer Footballspieler gegen rassistische Polizeigewalt auf. Geht ihnen das zu weit?

Ich bin auf jeden Fall auf der Seite all jener, die gegen ein System aufstehen, in der Polizisten ungeschoren mit ihren Straftaten davon kommen. Mehr will ich nicht zur Politik sagen.

Dann reden wir doch übers Geschäft. Sie sind der meistgesampelte Saxofonist der Welt. Profitieren Sie denn auch finanziell davon?

Ein paarmal hat ein Rechtsanwalt in meinem Namen geklagt, dann gab es eine Art außergerichtlicher Einigung. In der Regel aber bekomme ich kaum Tantiemen. Obwohl ich musikalischer Direktor war, steht mein Name bei den meisten James-Brown-Songs nicht in den Credits. Das war mein größter Fehler: Mich nicht mit Mr. Brown hinzusetzen und meinen Anteil auszuhandeln. Aber ich wollte das damals nicht. Es fühlte sich wie Bettelei an.

Sie haben Brown 1970 verlassen. Warum haben Sie gleich die gesamte Band mitgenommen?

Wir wollten endlich selbstbestimmt arbeiten. Das Album, das wir als Maceo & All The King’ Men aufnahmen war auch einigermaßen erfolgreich, aber wir hatten nicht geahnt, wie weit James Brown gehen würde um uns zurückzubekommen.

Stimmt es, dass er Konzertveranstalter und Radiostationen veranlasste, Sie zu boykottieren?

Er fühlte sich in die Enge getrieben, so eine Meuterei hatte er noch nie erlebt. Darum wollte er uns seine Macht spüren lassen. Irgendwann sind wir zwangsläufig zurückgekehrt. Heute habe ich ihm das alles längst verziehen. Nur wenige wissen, dass ich sogar einen Song für James Brown geschrieben habe, als er im Gefängnis saß: „Let Him Out“.

Sie haben sich dann Mitte der Siebzigerjahre George Clintons P-Funk-Truppe Parliament angeschlossen. War es das krasse Gegenprogramm zur eisernen Disziplin, die James Brown forderte?

Mit George Clinton ließen wir ein Raumschiff auf der Bühne landen, um als Außerirdische den Funk zu den Erdenbürgern zu bringen. Uniformität war plötzlich nicht mehr gefragt: Du willst ein Eisenbahner-Kostüm anziehen? Dir die Haare grün färben? Nackt in einer Windel auftreten? „Warum nicht“, sagte George zu allem. „Seid einfach funky und habt euren Spaß.“ Da musste ich natürlich doch erst mal etwas schlucken.

Zuletzt holte Sie Prince in seine Band. Was hat er von Ihnen erwartet?

Prince ging es vor allem darum, den Original-Saxofonisten von James Brown an seiner Seite zu haben. Sein Einfluss war vor allem spiritueller Natur. Diese wunderbare, liebvolle Person, die er für seine Fans verkörperte – genauso war er wirklich.

Sie touren über 200 Tage im Jahr. Haben Sie das überhaupt noch nötig?

Tja, von Tantiemen allein kann heute niemand mehr leben. Das Musikgeschäft entwickelt sich ohnehin dorthin, wo es in den Vierzigern und Fünfzigern schon einmal war. Du spielst eine neue Platte ein, nur damit du wieder auf Tour gehen kannst. Ich habe jedenfalls vor, noch mit 85 oder 90 Jahren auf der Bühne zu stehen. Immer weiterspielen: Das ist meine Art, mich aufs Sterben vorzubereiten.

JONATHAN FISCHER

SZ 19.2.2018maxresdefault

Ein Geschmack von Gott am Straßenstand: Jamaika entdeckt seine Küche wieder, die afrikanische, indische und französische Einflüsse verbindet.

Passen wirklich so viele Jamaika-Klischees in ein einziges Bild – oder ist man gerade in einen Clip der Tourismusbehörde geraten? Während Lavern Fay Simpson ein paar frisch gefangene Red Snapper auf ihrem Grill wendet, planschen Horden schwarzer Kinder zwischen den Fischerbooten in der Dünung. Aus der Ferne wummern Reggae-Bässe heran. Die sanfte Abendbrise raschelt durch die Palmen, treibt den Rauch aus „Dorien’s Restaurant“ bis aufs Meer hinaus.

  Restaurant ist natürlich ein Euphemismus. In Simpsons Strandküche gibt es weder Tischtücher noch Stühle noch Servietten. Als Beleuchtung dienen ein paar Kerosinlampen. Und das Essen wird auf krumm aus dem Sand ragenden Tischen serviert. Trotzdem – oder gerade deswegen – scheint hier, am Winnifred Beach bei Port Antonio, alles noch einen Tick intensiver zu schmecken. Den Fisch serviert die Köchin mit einem Berg Reis und Bohnen, dazu reicht sie ein krapfenähnliches Maisgebäck, das die Jamaikaner „Festival“ nennen. Pfeffriges mischt sich mit Süßem. Ein Geschmackserlebnis, das auch ein paar eiskalte Red-Stripe-Biere nicht verwässern können. „Meine Jerk-Sauce mache ich selbst“, erzählt Lavern Fay Simpson und zupft ihre Schürze zurecht. „Meine Mutter hat mir das Rezept weitergegeben, aber verraten kann ich es Ihnen leider nicht.“

  Natürlich nicht. Kein jamaikanischer Koch würde sein Rezept für die ureigene Jerk-Mixtur preisgeben, diese mit aromatischem Scotch-Bonnet-Pfeffer angerührte Marinade. Denn Jerk benutzen alle. Vom Marktstand über den Take-Away-Counter bis zum Restaurant: Überall werben Schilder für Jerk-Chicken, Jerk-Pork, Jerk-Fish, Jerk-Conch. Egal also ob Huhn, Schweinefleisch, Fisch oder Muscheln – ohne Jerk-Sauce geht hier gar nichts. Aber je tiefer man in die Geheimnisse örtlicher Köche eindringt, umso weiter entfernen sich die Rezepte von den Klischees.

  „Jerk Chicken, das ist, was die Leute im Ausland für typisch jamaikanisch halten“, sagt Mrs. Alecia, die darauf besteht, mit Vornamen angeredet zu werden. In der Küche des Zimbali Mountain Retreats – ein Öko-Hotel in den Bergen östlich von Negril, das aus einem offenen Haupthaus und einem halben Dutzend uriger Holzhütten besteht – ist sie die unbestrittene Herrscherin. Vor dem Essen kommt erst mal die Pflanzenkunde. „Wer kann mir sagen, wie diese Frucht heißt?“, fragt die resolute Lehrerin und hebt mal eine Ingwer-Wurzel, mal eine Yams-Wurzel, Kochbananen, Süßkartoffeln oder eine Brotfrucht hoch. Alles stammt von der hoteleigenen Farm. „Ihr wollt so fit sein wie Usain Bolt? Dann macht es wie er: Wenn er mal krank ist, isst er nur jamaikanische Naturprodukte.“

  Jamaika – für diese Feststellung reicht ein Blick von der Terrasse auf das dichte Grün der umliegenden Berge – gleicht einem Gewächshaus. Fruchtbare Erde, Wärme und Feuchtigkeit. Alles gedeiht hier im Überfluss. Das machten sich die Kolonisatoren zunutze. Sie holten Pflanzen aus allen Enden der Welt auf die Karibikinsel. „Die Spanier brachten Bananen und Zuckerrohr, die Engländer die aus Polynesien stammende Kokospalme“, erzählt Mrs. Alecia. „Die Ackee-Frucht dagegen kam im 18. Jahrhundert aus Westafrika und sollte als billige Nahrung für die Plantagen-Sklaven dienen.“ Heute gilt Ackee in gebratener Form mit rühreiähnlicher Konsistenz zusammen mit gesalzenem Fisch als typisch jamaikanisches Frühstück.

  „Out Of Many, One People“ heißt das Staatsmotto Jamaikas. „Aus Vielem eines – das könnte auch über Mrs. Alecias Herd hängen. Die an einem Tresen rund um ihre offene Küche platzierten Gäste können jeden ihrer Arbeitsgänge mitverfolgen. Als Entree kredenzt sie Papaya-Gurken-Paprika-Salat mit einer Grapefruit-Honig-Sauce. Dann schwenkt die Köchin Krabben und Mais in einer Kurkuma-Ingwer-Sauce, während ihre Kollegin eine Kürbis-Kokos-Suppe kocht. Aber das ist noch gar nichts gegen diese Pattis! Patti, so heißt die Teigtasche, das typische Take-away-Gericht der Insel. „Einst brachten Inder die Teigtaschen nach Jamaika. Wir haben sie mit eigenen Zutaten abgewandelt.“ In der Regel sind die Halbmonde aus Maismehl mit Huhn, Fisch oder Krabben gefüllt. Bei Mrs. Alicia allerdings finden sich rote Linsen und Kokosmark in der krossen Teighülle. Ja, Jamaikaner sind Fusions-Genies. Sie schufen den Reggae aus der Kombination von Rasta-Trommelrhythmen und amerikanischem Rhythm ’n’ Blues. Ihre Küche ist mindestens genauso originell: Wer hat schon mal in Zitronengras und Kokosgelee gekochtes Süßkartoffel-Okra-Gemüse probiert? Oder mit Zimt, Zwiebeln und Tomaten gewürzte Kochbananen-Bratlinge?

  Die Begeisterung für die eigene kreolische Küche war nicht immer selbstverständlich. Konnte man den Touristen wirklich so etwas Bodenständiges zumuten? Stattdessen kopierten die Jamaikaner lange die vermeintlich zivilisierteren Essmoden aus Amerika und England, und wer etwas auf sich hielt, ersetzte auch in der eigenen Küche Yams und Kokosöl durch Weißmehl und Margarine. Kein Wunder, dass Fettleibigkeit heute eines der drängendsten Gesundheitsprobleme Jamaikas darstellt. Doch eine Gegenbewegung bekommt immer mehr Gewicht. Sind doch die Anhänger der Rastafari-Sekte nicht nur als Reggae-Musiker und „One-Love“-Botschafter bekannt, sondern auch als Gesundheitsapostel.

  Ital heißt das Zauberwort. „Gesund für Körper und Seele“, übersetzt das Fiyah. Zottelige Rastalocken, Sandalen, ein Buschmesser an der Hose. So holt uns der alte Mann morgens am Eingang des Zimbali Mountain Retreats ab. Ab und zu arbeitet er als Guide für Hotelgäste. Ansonsten führt Fiyah ein autarkes Leben hoch oben in den Bergen. Auf einem matschigen Weg durch Laubwald und dichtes Gebüsch geht es steil bergauf. Bei 35 Grad Celsius und 100 Prozent Luftfeuchtigkeit fällt das Atmen schwer. Fiyah hält an einer Quelle: „Trinkwasser, frisch aus den Bergen“, sagt er. „Die Natur schenkt uns alles, was wir zum Leben brauchen.“ Zwischendurch zupft er vom Wegrand frisches Basilikum, gräbt eine wilde Ingwerwurzel aus. Endlich sind die Terrassen erreicht, auf denen der Einsiedler unter anderem Yams, Ananas und Bananen anbaut. Versteckt unter einem Blätterdach, ist sein Haus zu erkennen. Eine offene, zweistöckige Holzhütte, die der Rasta selbst gezimmert hat. Weit unten schimmert das Meer. Vor 30 Jahren, sagt Fiyah, habe er den Job als Automechaniker aufgegeben. „Was kann schon ein Leben mit dieser Aussicht schlagen?“

  Über ein paar schwelenden Holzscheiten setzt der alte Mann einen Wasserkessel auf. Ohne Hast schneidet er Kochbananen und Kürbis, raspelt das Fleisch einer Kokosnuss, zerkleinert Kurkuma und Pimentblätter – und wirft alles zusammen in den Topf. „Wir Rastas haben schon bio gekocht, bevor das Wort überhaupt Mode wurde“, sagt der überzeugte Vegetarier. In die Stadt gehe er nur noch für Salz, Öl „und ab und zu für ein Bier“. Das Essen gart eine Stunde lang auf kleiner Flamme. „Du brauchst Liebe zum Kochen“, sagt Fiyah. Der köstliche Geschmack des Eintopfes liegt womöglich aber auch an der Rauchnote – und dem zugegebenen Pfefferholz.

  Das richtige Holz ist wichtig. Viele der besseren Jerk-Restaurants – wie etwa das „Chateau 7“, das die ehemalige Dancehall-Queen Patra in Stony Hill, einem Vorort von Kingston, führt – nennen sich Sweetwood oder Pepperwood. Das Fleisch gart dort über einem Kohlebecken auf frischen Ästen, die ihren aromatischen Saft abgeben. Holzaromen sind die eine Hälfte jamaikanischer Kochkunst. Die richtige Marinade und Sauce die andere. Und wer könnte Letztere besser erklären als die Kochbuchautorin Robin Lim Lumsden?

  Um diese Autorität der jamaikanischen Küche zu treffen, muss man von Kingstons Stadtviertel Irish Town ein paar Meilen auf steilen Serpentinen die Blue Mountains hochfahren. Links und rechts des Weges tragen Orangen- und Pampelmusenbäume schwer an ihren Früchten, ja die ganze im Kolonialstil gebaute Villa Belcour scheint von einem Garten Eden umgeben zu sein. Lumsden bittet die Gäste in die Küche: „Die verschiedenen Kulturen auf Jamaika haben sich stets gegenseitig befruchtet“, sagt sie. „Und das beste Beispiel liefert meine Familiengeschichte.“ Ihr französisch-haitianischer Großvater hat Red Stripe, die größte Bierbrauerei Jamaikas, gegründet. Ihre Mutter sei Französin, der Vater halb Schotte, halb Chinese, ihr Ehemann sei Maroon – so nennen sich die Nachkommen der in die Berge entlaufenen Sklaven. „Aber jeder von uns ist hundertprozentig jamaikanisch.“ Seit ein paar Jahren vertreibt Lumsden unter dem Label Belcour Gewürze, Soßen und Lebensmittelkonserven. Ihre Küche – sie nennt sie Caribbean Fusion – spiegelt das ethnische Patchwork. Wer sie kosten will, muss sich für eine der Tafeln anmelden, die Lumsden allmonatlich in ihrem Garten gibt.

  „Manche nennen meine Küche altmodisch“, sagt Lumsden. „Aber ich möchte den Menschen die Schmackhaftigkeit unserer traditionellen Kost nahebringen.“ In ihrem Backofen schmoren Schweinelendchen. Aber was für Schweinelendchen! Die Köchin hat sie zuerst in Kaffee gewälzt, dann Thymian, Limette, Zucker und Jerk-Sauce zugegeben. Eine Süßkartoffel-Kasserole, Callaloo, ein spinatähnliches Gemüse und ein Salat mit gebratener Brotfrucht machen das Mahl komplett. Vieles, was Lumsden kocht, geht auf indische, französische und afrikanische Rezepte zurück. Oder gar auf die Arawak-Indianer, die Ureinwohner Jamaikas, die einst den Maniok aus Südamerika mitbrachten. „Gerichte wie Maniokbrot, Maismehl-Polenta oder mit Süßkartoffelpaste gefüllte Bananenblätter galten lange als Arme-Leute-Essen. Jetzt erleben sie ein Comeback.“

  Dann verrät sie noch ein Geheimnis. Das Rezept ihrer Jerk-Sauce. Zumindest so viel, wie die Köchin einem Greenhorn preisgeben will. Für den Anfang könne man mit folgenden Zutaten experimentieren: Scotch Bonnet Pfefferschoten, Zimt, Knoblauch, Nelken, Muskat, Frühlingszwiebeln, Thymian, Sellerie, Kreuzkümmel und Honig. „Das Ganze dann mit ein wenig Essig und einem Schuss Bier verrühren.“ Wahnsinn, so viele Zutaten für eine Universal-Sauce? Aber dann fällt einem wieder ein, was Fiyah in seiner Baumhaus-Küche gepredigt hatte: „Jamaika bringt das Beste aus aller Welt zusammen. Damit wir das Miteinander lernen. Und einen Geschmack von Gott bekommen.“

JONATHAN FISCHER

AFROPOP-KOLUMNE

Aus dem Kongo soll mal einer schlau werden. Dieses Riesenreich zählt zu den geplagtesten Ländern der Welt – doch selbst Bürgerkrieg, Korruption, Armut und religiöser Wahn richten nichts aus gegen eine Popmusik, die süßer säuselt als so mancher Schlagerchor. Eine junge Band aus Kinshasa liefert jetzt die Antithese: KOKOKO! besingen zwar auch bisweilen die Liebe – aber wie! Ihre verzerrten Noise-Rock-Rhythmen, der handgemachte Techno auf Müll-

Instrumenten, das erinnert frappierend an die No-Wave- und Post-Punk-Energie des New York der Siebzigerjahre, gerade so, als hätten die frühe Grace Jones oder die Talking Heads nach einer durchkoksten Nacht beschlossen, auf dem Inventar einer Autowerkstatt zu jammen. Das Projekt des französischen Produzenten Xavier Thomas alias Débruit und einer Gruppe Musiker um die Vokalisten Makara Bianko und Love Lokombe entstammt denn auch einer wöchentlichen Jam-Session in Kinshasas Lingwala-Viertel. Auf der neuen,über den Online-Musikdienst Bandcamp veröffentlichten EP „Tongos‘a/ Likolo“ bündelt Débruit das urbane Chaos zu elektronik- und house-affinen Rhythmen, doch bleibt der Sound angenehm roh und ungeschliffen. Die aus Draht und Kaffeedosen gebauten Gitarren scheppern und brummen, dazu dröhnen dunkle Wasserfass-Rhythmen – die dazugehörigen Videos setzen der Lo-Fi-Ästhetik knallbuntes Straßenflair entgegen. Eine Rotzigkeit, die auch die Texte prägt: Auf die Lobpreisung der Ausdauer beim Liebesakt folgt die Adaption eines traditionellen Begräbnisgesangs: „Wir sind alle nackte Körper unter dem Himmel“ chanten KOKOKO! in der kongolesischen Sprache Lingala. „Wir wissen alle, wie es enden wird“.

Afrobeats. Schreibt man dieses Wort mit einem S am Ende, hat es mit der politisierten Jazz-Funk-Highlife-Fusion, die Fela Kuti in den Sechziger- und Siebzigerjahren als „Afrobeat“ aus der Taufe hob, kaum noch etwas zu tun. Im Westen mag Kuti als Underdog-Held wie Bob Marley und Che Guevara gelten, seine nigerianischen Enkel und Urenkel wollen lieber ein cooles, luxuriöses Bild abgeben. Die Videos der Afrobeats-Stars von Wizkid über Davido bis Runtown ähneln sich: Digital galoppierende Beats und Autotune-Schmachtgesänge untermalen Ansammlungen von teuren Autos, zwischen denen sich weibliche Models räkeln. Wie erfrischend wirkt da das neue Video „Heaven’s Gate“ von Burna Boy: Der junge Sänger aus Lagos zeigt ungewohnte, ja fast ironische Posen. Statt im genreüblichen Glamour posiert er neben seiner kochenden Mutter zwischen Geschirrhandtüchern und Kaffeemaschine. Harte Dancehall-Raps in einer Londoner Vorstadtwohnung. Wunderbar auch, wie hier die englische Popsängerin Lily Allen die Gespielin und Background-Sängerin gibt. Und wenn Burnas neues Mixtape „Outside“ (Warner) auch weitgehend die erwarteten Sound-Maschen aufnimmt, lässt es doch aufhorchen, dass sich inzwischen große westliche Plattenfirmen um die Afrobeats-Stars reißen und amerikanische Indie-Rock-Bands wie Fall Out Boy den nigerianischen Club-Flair für sich entdecken. „Sunshine Riptide“ heißt deren aktuelle Kollaboration mit Burna Boy.

Afrika mag geografisch fest umrissene Grenzen haben, kulturell streckt es seine Tentakel über den „schwarzen Atlantik“ aus bis nach New Orleans, Kuba und vor allem Brasilien. Auch wenn unzählige Brasil-Sampler dafür gesorgt haben, dass wir von dort vor allem tropisch swingende Jazz-Soul-Disco-Bossa-Verschnitte erwarten: Es ist der Afro-Einfluss, der die rhythmische Komplexität der besten brasilianischen Popsongs ausmacht und die Straßen zum Tanzen bringt. Nachzuhören auf „Levanta Poeira“ (Jazz & Milk). Das heißt „lass den Staub wirbeln“ – eine populäre Anfeuerung für Tänzer und Musiker. Tahira, ein DJ aus São Paulo, hat dafür einige seiner Lieblingstracks aus den letzten vier Jahrzehnten frisch abgemischt. Etwa Gilberto Gils „Toda Menina Baiana“: Das eher melancholisch schaukelnde Original wird mit Percussion-Intro, Highlife-Gitarren und Bläsersätzen für den urbanen Dancefloor reafrikanisiert. Andere Songs zeigen, dass Afro vieles bedeuten kann: Auftriebige Forro-Tänze aus Brasiliens Nordosten, „Congo de Outro“-Rhythmen, ein Perkussionsstil, der den Baile-Funk geprägt hat, oder auch von Synthesizer-Bässen angetriebene Flöten-Sambas. Unschlagbar ist es, wie hier die zwei elektronischen Combos Afroelectro und Forro RED Light westafrikanische Rhythmen, Samples und Loops mit aufreizender Viola Calpira (der 10-saitigen brasilianischen Gitarre) und elektronischen Beats zu Clubmusik verquirlen. Das klingt so archaisch wie urban. Gut genug jedenfalls für eine mächtige Wolke Staub.

JONATHAN FISCHER

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SCHATTEN IM GELOBTEN LAND Black Power in Tel Aviv: Der äthiopisch-jüdische Popstar Gili Yalo macht sich in Israel für afrikanische Migranten stark und gibt mit seinem Ethiojazz den Ungeliebten eine Stimme

 

Selbst in Tel Aviv, wo einige Stadtteile im Süden fast wie ausgelagerte Viertel einer afrikanischen Großstadt wirken, fällt das auf. Äthiopische Frauen mit fein geschnittenen Gesichtern und aufwendigen Frisuren drängen sich vor der Bühne des Barby Club. Zupfen ihre Kleider zurecht. Schwenken ihre Smartphones. Dann gellendes Jubeln, als ihr ureigener Superstar ans Mikrofon tritt: Gili Yalo, ein schlaksiger Typ, der mit seinem Afro und dem engen, bunt gemusterten Hemd wie ein Wiedergänger eines afroamerikanischen Soulpropheten der Siebzigerjahre wirkt.

Die Gitarre gibt ein Funk-Riff vor, Bass und Schlagzeug fallen in einen dieser vorwärtsstolpernden ostafrikanischen Beats, während Orgel und Bläser düstere Moll-Figuren übereinandertürmen. „Fek’er“, singt Yalo, so nennen Äthiopier die Liebe, und seine Fans singen mit, egal ob hebräisch, englisch oder amharisch. Bis auf die Backgroundsängerinnen und den Saxofonisten sind alle Musiker weiß. Im gedimmten roten Licht des Clubs aber spielt das keine Rolle. Gut fünfhundert Fans haben sich unter dem hohen Wellblechdach des Barby versammelt – Hip-Hop-Teens, Frauen in Miniröcken und bärtige Hipster aller Hautfarben.

„Für uns schwarze Juden“, hatte Yalo in der Garderobe gesagt, „galt es lange, sich anzupassen, höflich zu sein, die Klappe zu halten. Das hat sich erst in den letzten vier, fünf Jahren geändert.“ Entschlossenes Nicken. Abklatschen mit den Mitmusikern.

Yalos PR-Kampagne für sein erstes Album bei Dead Sea Recordings läuft seit Monaten. Er ist in fast jeder nationalen Fernsehshow aufgetreten, tourte von Tiberias im Norden bis Dimona in der Negev-Wüste durch alle Städte Israels. „Irgendwann müssen sie mir zuhören“, sagt er. Sein Sendungsbewusstsein ist so spürbar wie die Hitzestrahlung einer Motorhaube.

In Tel Aviv gibt er ein Heimspiel. Die Stadt bildet innerhalb des kleinen Landes eine Blase. Seine Bewohner müssen sich vom Rest oft als liberale, linke Spinner beschimpfen lassen. „Selam“, Frieden, heißt Yalos Mitsing-Hit. Wer seine Geschichte kennt, der weiß, dass sich dieses Wort nicht nur auf das Verhältnis von Israelis und Palästinensern bezieht. „Würde ich die selben Texte auf Hebräisch singen“, sagt Yalo, „würden mich die Leute als naiv auslachen. Aber auf Amharisch bekommt alles eine tiefere Bedeutung.“

Bis vor kurzem verstand der 36-jährige Sänger die Sprache seiner Eltern kaum. Er verfluchte sie regelrecht. „Meine Eltern durften mit mir nur hebräisch reden. Und wenn daheim Popsongs aus der alten Heimat liefen, hielt ich mir die Ohren zu.“ Rückständig fand er das. Zum Schämen. Yalo jedenfalls wollte alles Äthiopische ablegen, um ein „Super-Israeli“ zu werden. Hatte man ihn nicht hierhergeholt? Waren sie, die andere abwertend „Falaschen“ schimpfen und die sich selbst als Beta Israel bezeichnen, nicht demselben jüdischen Glauben verpflichtet? Mehr als 120 000 äthiopischstämmige Juden leben heute in Israel. Und zumindest was die Religion betrifft, haben sie ihre Pflicht übererfüllt.

„Ich wurde zu Hause sehr streng erzogen“, sagt Yalo, „Die Regeln meiner Eltern, waren die Regeln, die die äthiopischen Juden seit über 2000 Jahren überliefert hatten. Die Neuerungen des Talmud hatten uns nie erreicht.“ Lange blieben die schwarzen Juden kaum sichtbar. Erst in letzter Zeit tauchen äthiopische Gesichter als Fernsehsprecher, Talkshow-Moderatoren, Entertainer auf. „Wir haben leider ein Rassismus-Problem“, sagt Yalo. „Egal, wie sehr wir uns anstrengen. Für manche Leute sind wir nicht mehr als Schatten.“

Yalo erzählt seine Geschichte bei einem eisgekühlten äthiopischen Import-Bier Marke Raya in der Shisha-Bar eines Freundes. Strohmatten, Plastikmöbel und Flachbildfernseher. Es ist eines der typischen Einwanderer-Lokale im Stadtteil Neve Sha’anan. Nirgends wirkt Tel Aviv afrikanischer. In den heruntergekommenen zwei- bis dreigeschossigen Gebäuden rund um den südlichen Busbahnhof reihen sich sudanesische Friseure, eritreische Kramläden und äthiopische Bars aneinander. Auf der Straße hocken Gruppen von Afrikanern um Shisha-Pfeifen herum. „Die Migranten leben zusammengepfercht“, sagt Yalo, „weil sie sich die Mieten in den besseren Vierteln von Tel Aviv nicht leisten können.“ Mehr als die Ghettoisierung aber nervt ihn die staatliche Politik. Die Regierung unter Premierminister Netanjahu habe im November eine neue Abschiebe-taktik verkündet. Nichtjüdischen Flüchtlingen droht demnach der Entzug der Arbeitserlaubnis und die Abschiebung in Wüsten-Camps. Von dort aus sollen 40 000 Eritreer und Sudanesen notfalls auch gegen ihren Willen nach Uganda und Ruanda abgeschoben werden. „Wir vergessen unsere eigene Geschichte“, schimpft Yalo, Worte, die er bei jedem Radioauftritt wiederholt: „Ist Israel nicht einmal als Hafen für die Vertriebenen gegründet worden?“

Auch für ihn hatte alles mit einer Flucht angefangen: Yalo war als Vierjähriger mit seinen Eltern vor einer Hungersnot aus der äthiopischen Heimat in den Sudan geflohen. Viele überlebten die wochenlangen Märsche nicht. 1984 organisierte die israelische Regierung die „Operation Moses“. Die geheime Luftbrücke holte Yalos Familie zusammen mit weiteren 8000 äthiopischen Juden aus dem Sudan nach Israel. Bei ähnlichen Aktionen kamen bis Mitte der Neunzigerjahre insgesamt gut 30 000 Angehörige des verlorenen jüdischen Stammes Dan „heim“.

  Die Legende besagt, dass sie einst wegen Landstreitigkeiten aus dem heutigen Israel Richtung Afrika ausgewandert seien. Schriftliche Überlieferungen berichten außerdem von Menelik, dem Sohn von König Solomon und Königin Saba, der 980 vor Christus das Kaiserreich Abessinien gegründet und die Bundeslade mit den Zehn Geboten von Jerusalem ins heutige Äthiopien gebracht haben soll. Erst 1975 akzeptierte das israelische Rabbinat die Beta Israel als „amtliche“ Juden.

Yalo lernte im Eilverfahren Hebräisch, besuchte israelische Schulen und leistete seinen Militärdienst ab. Statt zum Frontdienst wurde er zur Unterhaltung der Truppe eingeteilt. „Immer wieder bat man mich, etwas aus meiner alten afrikanischen Heimat singen. Aber mir war das nur peinlich.“ Yalo suchte zwar schwarze Idole. Aber in Afrika glaubte er sie nicht zu finden.

Stattdessen übernahm er die Haltung afroamerikanischer Rapper. „Ich suchte wie so viele Immigranten erst einmal den materiellen Erfolg.“ Zusammen mit Freunden eröffnete er eine Hip-Hop-Disco in Tel Aviv. „Drei Etagen, ein Indoor-Pool, und dicke Autos auf dem Parkplatz.“ Nebenbei versuchte er sich an hebräischem Gangsta-Rap. Bis er auf der Straße eine Bob-MarleyKassette fand, sich dessen „One Love“-Message zu eigen machte und das Zvuloon Dub System gründete. Versuchsweise gab er – der Rasta-Kult um Abessinien und Kaiser Haile Selassie war ihm nicht entgangen – ein wenig äthiopische Musik in den Mix. Wenig später erhielt er eine Einladung zum größten Musikfestival Jamaikas. Als erster Israeli. Yalo fühlt sich bei aller Ehre verwirrt: „Viele Jamaikaner wollten partout nicht verstehen, dass ich ihren Rastaglauben nicht teile. Und Äthiopien für mich kein Märchenland ist.“

Ein politischer Skandal brachte Gili Yalo zu seinen Wurzeln zurück: 2013 hatte die Stadt Kirjat Mal’achi ein geheimes Abkommen mit örtlichen Immobilienmaklern getroffen, nicht an die ungeliebten schwarzen Juden zu vermieten. „Ich war wütend. Und ich wollte meine Wut hinausschreien“.

Je mehr ihn Israel befremdet, umso mehr besinnt sich Yalo auf seine Wurzeln. Er lernt wieder Amharisch. Passt diese vergleichsweise nervöse und holprige Sprache in seine Grooves ein. Und besucht die äthiopische Musiklegende Abate Berihun in dessen Tel Aviver Studio. Dieser führt Yalo erst einmal in die Geschichte des Ethio-Jazz ein. Dass der in den Sechzigerjahren von Typen wie Mulatu Astatke entwickelte Mix aus traditionell pentatonischer Musik, Soul und Jazz gerade zum Fetisch des westlichen Pop aufstieg, Hipster-Bands in London, München und New York mit diesem Sound kokettierten, während selbst Kanye West auf Ethio-Jazz-Samples setzte – das alles hatte Yalo kaum mitbekommen. Jetzt holte er sich die alten Kassetten seiner Mutter. Verdammt hip klang das!

Yalo war nun für einige der Videos zu seinem Album sogar nach Äthiopien zurückgekehrt, zum ersten Mal seit seiner Jugend. Er habe Angst davor gehabt. Aber dann fand er viel menschliche Größe in der alten Heimat. Yalo lacht, als er gesteht, sich vor europäischen Verehrerinnen schon mal als Jamaikaner ausgegeben zu haben. „Es ist immer ein Kampf, wer deine Geschichte erzählt,“ sagt er. „Aber ich habe beschlossen, niemanden mehr erklären zu lassen, wer ich bin und welchen Wert meine Kultur hat.“

JONATHAN FISCHER

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